Fragen Sie doch Jespersen!
Fragen Sie doch Jespersen!
Ich stieg bedächtig die staubige Treppe hoch. Den Speicher wollte ich aufräumen. Silvia, meine Freundin, hatte gedrängt. Sie drängt immer.
Oben angekommen fiel mein Blick auf ein altes Holzschränkchen, auf das die Sonne, durch welchen Mauerritz sie auch immer gekommen sein mochte, ihren Strahl richtete.
Ein Briefumschlag, was hatte dort ein Briefumschlag zu suchen? Ich fasste ihn an, pustete, erst vorsichtig, dann kräftig, pustete, und in meiner Hand wurde er schwer, schwerer noch, als ich las.
"An Malk, zu öffnen, später, wann immer es dir beliebt, Jesp".
Jespersen! Wie lange hatte ich nicht an Jesp gedacht, Silvia, Johannas Geburt, ich hatte genug Entschuldigungen, Jesp, Jespersen, 20 Jahre her, verstaubte Erinnerungen, verstummte Rufe, verdrängte Bilder und Tschirni, was war aus Tschirni geworden?
Ich folgte dem Sonnenstrahl mit dem Auge, flirrendes Licht, und starrte auf den Briefumschlag.
"Malk, Malk!", schallte es aus Tschirnis Kehle, "Malkiii!" Es half nichts, ich musste reagieren, "meinst du, Kaiser bringt wieder einen Text aus dem Cäser?"
Oh, die Lateinklausur, dafür wollte ich doch nochmal üben, die gute letzte Arbeit war mir nicht gut genug.
"Ja, denk schon, der Kaiser ist doch berechenbar wie 'ne quadratische Gleichung."
"Treffen wir uns morgen nach der Schule. Ich habe einen Typen kennengelernt, Jesp, einen komischen Kerl, ganz witzig, er wohnt in der Schaluppe. Der zieht da jeden Tag in ein anderes Zimmer! Echt! Der will nämlich da alle Zimmer bewohnen und dann in eine andere Stadt abziehen. Und quatscht richtig komisches Zeugs."
Die Schaluppe war ein Hochhaus, ein Skelett aus Beton, nie fertiggestellt. Gelegentlich wurde sie von einigen Wanderpennern beseelt, auch kiffende Jugendliche verirrten sich dort.
"Wo hast du denn den aufgetan, Tschirni? Bestimmt ein Penner, der Typ."
"Nein", widersprach er, "nicht so richtig".
"Nicht so richtig", echote ich.
"Nee, er trinkt keinen Alkohol, jedenfalls habe ich nichts bemerkt."
"Mensch, ich muss jetzt noch dringend üben, wir sehen uns morgen mit dem käse Cäsar beim kasigen Kaiser", womit ich ihn verdutzt stehen ließ und nach Hause eilte. Hm, Jesp, in der zugigen Schaluppe, wechselte Zimmer um Zimmer, musste doch 'n Penner sein.
Das zweite Vokabelheft war weg, verschwunden, das konnte nur Andrea, meine Schwester, sein. Was hatte sie in meinem Zimmer zu suchen?
Es blieb verschwunden und Andrea schwor, es nicht mal angesehen zu haben. Mit einem Stirnrunzeln, das mich glauben ließ, sie zweifle an meinem Verstand, taxierte sie mich und verließ mich mit den Worten "Ein Vokabelheft soll ich dir genommen haben?"
Im sonnendurchfluteten Klassenzimmer schrieb ich mich in einen Rausch. Tatsächlich, Kaiser brachte den Cäsar und die Übersetzung bereitete mir keinerlei Probleme.
"Maaaalk!", schlug mir Tschirnis Stimme vom anderen Ende des Flurs entgegen. Unregelmäßige Verben liefen auf mich zu, in grüner Farbe prangten sie auf seiner Jeans.
"Komm, Malk, lass uns zur Schaluppe, den Jesp wollte ich dir doch vorstellen. Komischer Typ, sag ich dir. 'Sie verschwinden alle, wir verschwinden alle', faselte er zuletzt. Den musst du sehen!"
"Ja, wie mein Vokabelheft", tönte ich, was Tschirni nur mit einem "Hä?" quittierte.
Betongrau stand die Schaluppe unter der Sonne und Tschirni beschleunigte seinen Schritt. Er lief immer schneller, die Fensterhöhlen der Schaluppe rauschten vorbei, Licht und Schatten wurden ununterscheidbar, und wir betraten das hohle Gebäude. Ein Geruch von Mörtel und Urin drang in meine Nase. Tschirni und ich wechselten kein Wort, betraten die Treppe, stiegen hoch und zielstrebig führte er mich zu - Jesp!
Wie soll ich ihn, Jespersen, beschreiben, so beschreiben, dass die Wirkung, die er auf uns ausübte, erklärlich wird, so beschreiben, dass verständlich wird, warum ich ihm glaubte. Über Jahre hatte ich ihn vergessen, aus dem Bewusstsein verloren, aus den Augen verlor ich ihn schnell, noch bevor der Sommer vergangen war. Beschreiben Sie doch mal Jespersen! Ich kann es nicht. Er wirkte unscheinbar, unauffällig, durchschnittlich, nichtssagend. Man sieht ihn, sieht hindurch, sieht nichts, vergisst. Aber, ihn einen Penner heißen, nichts wäre unangebrachter!
"Setzt euch", mit diesen Worten deutete er auf zwei umgedrehte Wasserkästen. Ich blickte hinaus, aus den Augenhöhlen der Schaluppe, nahm die angebotene Cola entgegen, kalt, wie konnte sie denn kalt sein bei 25°? Es gab doch in dieser Bauruine keinen Strom. An einer Wand hing ein etwa drei Meter langes Poster. 'Berühmte Mathematiker' der Geschichte stand in großen Lettern als Überschrift und da waren sie alle! Auf einem Bild, mit auf mich gerichteten Augen. Gauss, Euler und die anderen, Hilbert auch.
"Du bist also der Malk, der Streber. Nein, keine Sorge, dein Freund Tschirni hatte es nett gemeint, wirklich, also Latein, Mathe, das magst du."
Und plötzlich änderte sich seine Sprechweise.
"Verschwindet, es verschwindet, glaub mir, der Blaue, er klickt, der Schalk, er ist ein Ungeplanter, verschwinden, weg, weg, weg. Du denkst, ich wäre verrückt. Ein Spinner, ein hirnloser Junk. Tschirni dachte auch so, nein, ein Beweis, ein Experiment, ein Zettel, das könnte klappen. Kann dauern, dauern, Jahre!"
Es war wirklich verworrene Zeug, was er von sich gab.
Tschirni saß nur schweigend neben mir.
Doch dann, die Sonne schien messerscharf, entfaltete Jesp sein Erlebnis, messerscharf und aristotelisch.
"Ich hatte damals Philosophie studiert und wollte ein Buch über mathematische Logik aus dem Regal nehmen. Und sah es bei klarem Verstand verschwinden. Da war nichts Geheimnisvolles, kein scheinender Mond, kein komisches Gefühl, kein Nebel, banal, sachlich, nüchtern, im Radio die Nachricht, Bayern München habe sein Hinrundenspiel gewonnen. Weg, vor meinen Augen verschwunden, gebeamt, von jetzt auf gleich weg, als hätte es nie existiert. Und dieser Vorgang wiederholte sich, andere Bücher, ein Stück Schokolade, meine Zahnbürste, vor meinen Augen, manchmal auch nicht, nie Lebendiges, nein, nie verschwand Leben. Zuerst in meinem Haus, aber dann auch außerhalb des Hauses. Und sie tauchten wieder auf, eines Tages, in unbestimmter Reihenfolge, nein nicht das Mathematikbuch zuerst, die Zahnbürste war es, die meisten Gegenstände erschienen auf ihrem angestammten Platz, aber nicht alle, manche blieben verschwunden, so etwa ein Zeitungsausschnitt mit einem Rezept über eine Currycremesuppe.
Auch mir unbekannte Dinge tauchen plötzlich auf."
"Die Cola, die kalte Cola", warf ich schlaumeierhaft ein.
"Nie dachte ich, verrückt geworden zu sein. Auch die Phänomene schienen mir, so verrückt sie einem auch vorkommen mögen, das Natürlichste der Welt zu sein. Schließlich gelang es mir, das Verschwinden einer Schere auf Video festzuhalten. Ich verschickte es nie! Aber ich betrieb Nachforschungen, erfolglos, keine Bibliothek konnte mir weiterhelfen, selbst das Internet blieb sprachlos. Ich schien der einzige auf der Welt zu sein, dem so etwas geschah. Monate waren vergangen, ich lebte mein Leben, schloss mein Studium ab, hielt Philosophie- und Mathematikkurse an Volkshochschulen ab, überlegte mir ein Thema für eine mögliche Doktorarbeit.
Und unvermittelt schwebte es vor mir, direkt vor mir, lichtblau schimmernd, computesk wirkte es, sagte nichts, nein, und es gab auch keine Gedankenverknüpfung, es saß unvermittelt vor meinem Computer, saß dort minutenlang, lichtblau kondensiert, der Blaue, tippte, ja wirklich, tippte und dann erschien unvermittelt auf dem Bildschirm ein Abbild meiner Wohnung, er ließ die Vase auf dem Esstisch verschwinden, auf dem Bildschirm zunächst, doch gleichzeitig war sie wirklich verschwunden.
Eine zweite Szenerie erschien auf dem Schirm, lacht nicht Freunde, da waren mehrere seiner Sorte, alles Blaue, und es schien eine Art Schulunterricht dargestellt, mehrere Bilder wechselten immer schneller. Eine Botschaft. Sie waren die Kreatoren unserer Wirklichkeitsschicht, so viel verstand ich, und mein Lichtblauer war, so schien es, ein Fehler im System, ein Dropout.
Noch Cola, Jungs?
Wie die Dinge, so auch die Szene, der Lichtblaue, die Anderen, verschwanden, so schnell wie sie erschienen waren. Ich schaute auf den Bildschirm, und er war aus."
Tschirni griff nach seiner Cola, es war zugig hier, ich starrte Jespersen gebannt an.
Er fuhr in seiner Erzählung unvermittelt fort.
"Eines Tages jedoch, zunächst wurde mir der Unterschied gar nicht bewusst, eine Schere, eine Vase, Bücher, ein belegtes Brötchen, eine Fahrkarte, dann unvermittelt, tags zuvor hatte ich sie noch gegossen, die Sonne wies mit einem leuchtenden Finger auf - ein Nichts. Verschwunden war sie, ja, fast verwelkt, dunkelrot war die Tulpe gewesen, nun ein Nichts.
Seitdem wandere ich, ihr seid die ersten, denen ich es erzähle. Es verschwindet, erst die Tulpen, dann alle Pflanzen, Tiere, bestimmt kommen dann die Tiere, ich hatte mal einen Hund, einen Mischling, wir verschwinden, alle. Alles und dann alle, das All. Auch das All, ihr werdet es sehen, Jungs, das All!"
Und damit drückte er mir einen Brief in die Hand, auf dem "An Malk, zu öffnen, später, wann immer es dir beliebt, Jesp" zu lesen stand. Der Umschlag war offen. Ich entnahm ihm einen Zettel. "Alles verschwindet" las ich, nur diese beiden Worte.
Zu Hause dachte ich über dieses merkwürdige Ereignis nach.
Was sollte das alles? Unsere Wirklichkeit ist die Übung, das Experiment einer Schulklasse von irgendwelchen übermächtigen blauen Wesen? Dann könnte es ja noch viele andere Wirklichkeiten geben! Und da gab es einen Blauen, der sich nicht an die Spielregeln hielt? Der sozusagen gegen die Schulordnung verstieß? Und ich musste an Andrea denken, die einige Tage zuvor einen Tadel erhalten hatte, weil sie was angestellt hatte. Es klang zu abstrus. Und doch! Die Sache ließ mich nicht mehr los.
"Wie hast du ihn eigentlich kennengelernt?", fragte ich Tschirni am nächsten Morgen an der Bushaltestelle, die Metallstange fest im Griff, als wollte ich die Solidität der Welt festhalten.
"Ein kullernder sonnengelber Apfel war es!"
"Wie?"
"Der Jesp lief vor mir her und hatte in jeder Hand Taschen und Stoffbeutel. Und aus einem Beutel fiel ein Apfel raus. Ich hob ihn auf und ging weiter hinter ihm her. Dann griff er kurz darauf in diese Tasche und murmelte wirres Zeug wie Wieder was verschwunden, holt mich doch endlich selber, ihr Blauen!
Ich gab ihm dann einfach seinen Apfel und er war richtig erleichtert. Er putzte den Apfel sauber und schnitt mir ein Stück ab."
Die Busfahrt dehnte sich, ich schaute aus dem Fenster und versuchte mir alle auffälligen Blumen und Pflanzen, die ich in den gepflegten Vorgärten der Ulmenaustraße sah, exakt zu merken.
Der Morgen begann mit der Lateinstunde beim Kaiser.
"Die Übersetzung des ersten Satzes der Hausaufgabe, Wolfgang Tschirner, also bitte, lies sie nun vor!", sprach Kaiser unmissverständlich. "Die Hauuuusaufgaben", dehnte Tschirni, und eine nicht enden wollende Pause entstand, "die Übersetzung, ja, in dem einen Heft, das Heft, nun es ist - verschwunden, spurlos verschwunden, aufgelöst, dimensionslos verschwunden, kein Atom mehr auffindbar, verschw..." Kaisers Augen nahmen die Größe von Tischtennisbällen an. "Verschwunden?" "Ja, wirklich, Herr Kaiser, das Heft, es ist verschwunden, fragen Sie doch Jespersen!"
Zu Hause versuchte ich, etwas über die Blauen rauszufinden. Doch ich fand nichts und auch in der Bibliothek konnte man mir nicht helfen.
Einige Tage später wollten wir ihn erneut aufsuchen, doch er war - verschwunden!
Vielleicht hatte er einfach nur alle Zimmer der Schaluppe durch und danach unseren Ort sozusagen planmäßig verlassen.
Einige Wochen später saß ich wie immer nach der Schule im Bus und döste, wir hatten eine anstrengende Klausur geschrieben und Nachmittagsunterricht gehabt. Mechanisch blickte ich aus dem Seitenfenster. Die Hortensie vor Hausnummer 47 - sie war verschwunden!
In der Nacht konnte ich kaum einschlafen. Meine Eltern schauten mich ungläubig an, als ich am nächsten Morgen das Fahrrad zur Schule nahm. Ich blieb lange vor der Hausnummer 47 stehen und starrte auf die Stelle, an der zuvor die Hortensie geprangt hatte. Die Gardine am Fenster neben der Eingangstür bewegte sich und ich sah die Umrisse einer Person. Schnell schwang ich mich auf mein Rad und langte gerade noch pünktlich an der Schule an.
Als ich Tschirni davon erzählte, schien er nicht sonderlich interessiert.
"Du spinnst", meinte er, "die haben die Blume bestimmt nur umgepflanzt!"
Daran hatte ich doch tatsächlich nicht gedacht. Ich wurde langsam selbst sonderbar.
Wir haben dann nicht mehr über Jespersen gesprochen, immerhin war er ja verschwunden und Tschirni hatte ihn wohl doch letzten Endes einfach nur für verrückt gehalten.
Andere Dinge traten in unser Leben und drei Jahre nach dem Schulabschluss hatte ich Tschirni aus den Augen verloren. Wir waresprn vielleicht doch zu verschieden.
Die Sache mit der Hortensie hatte schließlich auch mich auf den Boden der Tatsachen geholt und nach und nach gab ich anderen Dingen in meinem Leben Raum.
Nun hatte ich nach 20 Jahren den Briefumschlag in der Hand, er war fest verschlossen, doch ich musste ihn öffnen. Was erwartete mich? Was für ein Unsinn! "Alles verschwindet", diese zwei Worte auf einem alten Zettel werden mich erwarten.
Ich verließ den Speicher, bei jeder Stufe schossen Sonnenstrahlen durch mich hindurch, eilends stieg ich die Treppe hinab, öffnete den Umschlag, zog den Zettel heraus, der fast mit dem Umschlag verklebt war, musste ihn mit der Hand vor den Strahlen der Sonne beschirmen und las: "All e s wind "
Ich beschleunigte meinen Schritt, erreichte die Küche, den Schatten, an Silvia vorbei, setzte mich und las erneut "All e s wind "!
Die fehlenden Buchstaben waren nicht verblichen, die anderen wiesen noch ein kräftiges Schwarz auf.
Ich erzählte Silvia die ganze Geschichte.
"Zaubertinte vielleicht", warf sie ein. Ich nahm alle Gegenstände in der Küche fest in den Blick, schloss die Augen, öffnete sie und fand alle Dinge wie angegossen auf ihrem Platz vor.
"Warte, ich hole eben ein Chemiebuch", sagte sie und verschwand. Wieder schloss ich die Augen, und wieder verblieben alle Dinge auf ihrem Platz.
Und ich hielt den Zettel in der Hand, schob ihn in den Umschlag, griff in meine Hosentasche und entnahm ihr ein gut gefülltes orangefarbenes Feuerzeug.
© Roger Kircher