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Frage nicht nach dem Licht
Im Licht
Im Licht
Sie saßen um große Feuer und wärmten sich. Es war ja schon hoch im Norden Indiens und der Winter stand bevor. Am Tag glühte noch der Hauch den Boden, aber in den Nächten herrschte bereits die Kühle. Ich fand sie ganz zufällig, auf einen Spaziergang außerhalb Amritsar. Um die lodernden Flammen kauerten Männer mit abgerissenen Kleidern: bärtig, ungewaschen, mit struppigen Haaren, und ich platzte da ganz unvorbereitet rein, ohne zu wissen, worauf ich mich jetzt einlassen würde. Wer waren diese Menschen, die wie Bettler gekleidet waren? Sie waren groß und kräftig gebaut - viel größer als ich. Sie lächelten mir mit stillen Gesichtern freundlich zu und forderten mich auf, neben ihnen Platz zu nehmen. Sobald ich saß, war ich auch schon wieder für sie vergessen. Sie sahen schweigend in das Feuer, reichten sich gegenseitig eine Art Pfeife, ein kleines verziertes mit Silber beschlagenes Elfenbeinrohr, aus dem dicker Ruß quoll, der süßlich roch. Jetzt war die Pfeife bei meinem unmittelbaren Nachbarn angelangt. Er lächelte mir zu und zeigte mir, wie man die Pfeife raucht, ohne sie mit den Lippen zu berühren. Er umspannte die Pfeife mit beiden Händen und saugte den Rauch in die Faust, um ihn erst dann einzuatmen. Dieser warme, süße Qualm versetzte mich augenblicklich in einen Zustand absoluter Stille. Schweigsam starrten wir in das Feuer, stundenlang. Irgendjemand sorgte dafür, dass das Feuer nicht ausging, dass es immer lichterloh brannte.
Das Feuer verwandelte sich nach und nach in ein Licht, das alles ausfüllte, was ich selbst noch mit geschlossenen Augen sehen konnte. Es breitete sich immer weiter aus, überstrahlte alle anderen Empfindungen - sogar die Geräusche, die Geräusche der Nacht. Die Grillen, das Zirpen alles verschwand in diesem Feuer, in diesem unwirklichen Leuchten. Und dann waren da nicht mal mehr die Empfindungen des Körpers. Mein Selbstbewusstsein hörte auf zu existieren. Stattdessen war da nur noch dieses einheitliche Leuchten des Lichtes, das alles in sich aufnahm und niemand war dar, der es betrachtete. Es bestand ganz aus sich heraus. Das Licht hatte Subjekt und Objekt miteinander vereinigt. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Innen und Außen. Das einzig Existierende war jetzt nur noch dieses Leuchten.
Als ich wieder zu mir kam, muss es lange nach Mitternacht gewesen sein. Mein Nachbar stieß mich sanft an. Er wies mit einer Geste darauf hin, dass die Asche von meiner Pfeife gleich ins Feuer fallen würde und ich aufpassen sollte. Es war wichtig, dass keine Asche, keine Verunreinigung in dieses Feuer fiel. Das Feuer war heilig. Zwar war ich jetzt wieder bei vollem Bewusstsein, aber irgendetwas an meiner Wahrnehmung hatte sich verändert. Ich fühlte mich absolut glücklich und entspannt. Auch meine Magenkrämpfe, die mich seit langem auf meiner Reise quälten, gaben mir wenigstens in dieser Nacht eine kurze Ruhepause. Mein Körper befand sich in einem absoluten Ruhezustand. Meine Sinne waren wach und die Gedanken klar wie Kristalle. Ich sah mich um und erkannte alles wie in einem Brennglas. Ich war nicht nur Betrachter, sondern selbst Bestandteil einer Wahrnehmung, die sich vereinheitlicht hatte. Das Feuer brannte noch immer lichterloh, und ich saß auf diesem angewärmten Boden. Nein, falsch nicht ich, es war mein Körper. Darüber war dieser sternenklare Nachthimmel. Da saßen noch die anderen - schweigsam in sich gekehrte bärtige Gestalten. Manche hatten sich schon schlafen gelegt, genau an der Stelle, wo sie vorher gesessen hatten. Ich wurde nun auch müde und legte mich einfach zur Seite. Irgendjemand breitete eine Wolldecke über mich, und ich schlief selig ein.
In der Nacht hatte es sich bewölkt, und als ich aufwachte, hingen schwere Wolken tief am Himmel, so tief, dass es mir vorkam, als ob ich sie berühren könnte. Einige der bärtigen Gestalten saßen schon aufrecht, andere lagen noch, aber alle waren sie wach. Der Himmel wurde immer schwärzer, jeden Moment konnte ein Unwetter hereinbrechen. Und doch brachte sich niemand in Sicherheit. Sie saßen nur da und schienen zu warten.
Am Horizont fing es an zu donnern. Ein tiefes Grollen, das langsam näherkam. Wir stierten in die gleiche Richtung. Es hatte den Anschein, als ob sie angespannt lauschten. Jetzt saßen sie da und warteten auf das Ergebnis ihrer Meditation. Es fing langsam an zu regnen, aber der Regen wurde immer stärker und dann schüttete es vom Himmel, so wie es nur in Indien passieren kann. Plötzlich war der Dschungel wiedererwacht. Diese durch Lianen und Schlingpflanzen undurchdringlich gewordene Natur mit ihren Palmen, Bananenbäumen, Lotusblüten und Orchideen erstrahlt dann wieder in ihren natürlichen Farben, nachdem der Regen sie befreit hat - vom Staub der Trockenheit. Wenn dann der Regen auf diese braune - manchmal über Monate erhitzte Erde – fällt, ergibt sich ein dicker Nebel, der verbunden mit dem Duft der unzähligen Dschungelblumen an Weihrauch erinnert. Es regnete eine halbe Stunde. Niemand dachte daran, sich vor dem Regen zu schützen. Sie lächelten zufrieden vor sich hin, strichen gelegentlich das Wasser aus ihren Bärten. Der Regen war warm und tat uns allen gut. Er erinnerte uns daran, dass wir einen Körper hatten.
Ich wusste noch immer nicht, wer diese Leute waren. Da gab es ein paar Zelte, auch ein paar Elefanten. Vielleicht waren es Elefantentreiber? Keiner von ihnen sprach auch nur ein Wort Englisch, aber sie waren alle freundlich. Ich hatte das Gefühl, als ob wir uns unterhalten hätten, aber auf einer anderen Weise, die keiner Worte bedarf. Warum wollte ich eigentlich wissen, wer sie waren? Wollten sie denn wissen, wer ich war? Vielleicht gibt es ein Verständnis, was viel intensiver, viel direkter als die Sprache ist. Vielleicht ist es die Ebene des Gefühls, was natürlich nicht fragt, was jemand ist. Es fragt immer, wie jemand ist. Und auch nur einzig und allein jetzt in diesem Moment eine absolut richtige und eindeutige Beurteilung eines anderen Menschen, wie sie der Verstand fordert, ist ihm fremd. Das Gefühl erkennt nur eine momentane, eine auf den jeweiligen Moment bezogene Wahrheit an. Es sieht die Welt nicht durch die Brille der Vorurteile. Das Gefühl gibt allen Dingen das Recht und die Freiheit sich zu verwandeln - einschließlich sich selbst. Als mir das bekannt wurde, hatte ich keine Fragen mehr, denn auf dieser Ebene kannten wir uns bereits. Kannten wir uns schon immer, denn das ist es ja, was uns als Mensch ähnlich macht: unsere Empfindungen. Seitdem habe ich die gefühlsmäßige Beurteilung immer als wertvoller erachtet, als die Beurteilung mit dem Verstand, und so war es mir möglich in einem völlig fremden Land zu leben und mich doch nie und zu keiner Zeit als Fremdling zu fühlen.
Das hielt mich natürlich nicht davon ab, Hintergründe zu erfragen. Das ist ähnlich wie in einer Liebesbeziehung: Das verliebte Gefühl hinterfragt - verwundert über sich selbst - ganz automatisch die geheimnisvolle Ursache seiner eigenen Entstehung. Und so hatte ich nichts Wichtigeres zu tun, als meinen Freund in Amritsar die Geschehnisse der letzten Nacht zu erzählen. Ich hoffte, ein wenig Licht in die ganze Angelegenheit bringen zu können. Ich hatte ihn vor ein paar Tagen dort im goldenen Tempel kennengelernt. Er kam wie ich jeden Tag dorthin, um im Tempel der Musik zuzuhören. Er hatte große Ähnlichkeit mit Mahatma Gandhi. Dieser kahlköpfige Brahmane aus Benares mit seiner kleinen Brille war auch schon fast siebzig Jahre alt. Ein ewiger Pilger, der sein Leben vollständig der Religion geweiht hatte. Er stammte aus einer alten und recht reichen Priesterkaste, mit der er sich aber überworfen hatte. Er ging in jungen Jahren nach England und studierte dort Jura. Zurückgekehrt nach Benares übernahm er dann gleich einen sehr schwierigen Fall. Es handelte sich um eine Vergewaltigung mit tödlichem Ausgang. Ihm wurde die Verteidigung des Angeklagten aufgetragen. Obwohl der Angeklagte seine Unschuld beteuerte, verlor der noch unerfahrene junge Anwalt diesen Prozess. Der Mann wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Später stellte sich das Urteil als Justizirrtum heraus, der Mann war tatsächlich nicht verantwortlich für die Tat. Daraufhin legte mein Freund augenblicklich das Amt nieder und lebte seitdem ein spirituelles Leben. Ihm erzählte ich dann noch am gleichen Abend, was sich in der Nacht zuvor zugetragen hatte. Er hörte mir zu, ohne Zwischenfragen zu stellen. Seine Augen waren anfangs gesenkt, aber wurden im Laufe der Erzählung lebendig. Und am Ende sah er mich nur noch mit seinen wie Steinkohle blanken Pupillen, die im makellosen Weiß lagen, erwartungsvoll an. Er wollte erst einmal wissen, wie ich selber über die Sache dachte, um dann - wie er versicherte - entsprechend meiner Antwort zu reagieren. Dazu war ich aber gar nicht in der Lage. Mir fiel weiter nichts als die Bemerkung ein, dass ich jetzt am liebsten auch Elefantentreiber werden möchte. Darüber lächelte er verständnisvoll, wurde daraufhin aber gleich wieder ernst. „Nein“, sagte er, „das waren keine Elefantentreiber. Das waren Swamies Yogis aus dem Himalaya, die jetzt im Winter aus ihren kalten Gefilden hinabgestiegen waren, um in wärmeren Gegenden Unterkunft zu finden. Dass du mit ihnen am Feuer sitzen durftest, kannst du dir hoch anrechnen. Mit dieser Geste haben sie dich als Ihresgleichen, einen Sannyasin - einen Haus- oder Heimatlosen -anerkannt. Diese Yogies treffen nur im Winter zusammen, wenn es im Himalaya zu kalt ist. Aber sobald es dort wieder wärmer wird, geht jeder wieder zurück in seine eigene kleine Einsiedelei. Dort in absoluter Abgeschiedenheit kommt es mitunter vor, dass der eine oder andere Yogi Kräfte entwickelt, die über das menschliche Verständnis hinausgehen, nur so erklärt sich der Regen, den wir letzte Nacht nach einer langen Trockenzeit hatten. Es war ein Regenritual. Aber das war nur eine Begleiterscheinung. Worum es ihnen wirklich geht, weist weit darüber und das menschliche Verständnis hinaus.“ Ich wollte noch etwas über das geheimnisvolle Licht erfahren und über den darauffolgenden Bewusstseinszustand, der ganz anders war als alles, was ich jemals zuvor erlebt hatte. Er sagte nur: „Frage nicht nach dem Licht, damit du seine Quelle nicht verlierst. Bleibe nirgendwo hängen und tue nichts, was dein Gewissen belasten würde. Dann wird das Licht vielleicht eines Tages zurückkommen, immer bei dir bleiben und dich in sich aufnehmen, bevor es verlöscht. Aber vor allem sollst du wissen: Es hat nichts mit dem Rauch zu tun. Du kannst wieder rauchen, und du wirst sehen, es wird nicht zurückkommen. Dieser Rauch war als Medium nur in dieser bestimmten Konstellation wirksam. Ich rate dir nicht dazu, es noch mal zu tun. Auch sehne dich nicht nach Gemeinsamkeit mit den Yogis. Denn das, was sie sind, sind sie nicht durch Gemeinsamkeit.“ Ich stand auf und wusste: Ich bleibe ein zamana, ein Heimatloser.