Frage einer Sterbenden
Nein, es geht mir alles andere als gut. Zur Gesellschaft sage ich heute nein, doch diesmal weil ich mich nicht danach sehne und nicht etwa aus den Prinzipien, die mein alltägliches Leben bestimmen. Die Innenstadt mit ihren S-Bahnen, die laut und mächtig an mir vorbeirauschen, die Kaufhausvitrinen mit ihren kitschig edlen Angeboten, supercoole Einkaufsläden für Jugendliche, hier und da mal eine Dönerbude, aber überall sind da Menschen.
Nirgendwo kann man hin, ohne auf sie zu treffen, ganz coole Typen, welche die Entwicklung der Sprache auf über 1000 Jahre zurückdrehen, deren modischer Stil mir mißfällt, doch noch viel mehr ärgert mich ihre Art. Sich laut unterhaltend, ihre "Kollegen" hin und wieder schubsend, immer lachend, nicht selten vor dem "Mäkess" angestaut, nie ein Wort der Heiterkeit, keine Fragen bezüglich der Welt und des Lebens. Bin ich besser? Nein, denn ich bin unglücklich. In diesem Punkt sind sie mir voraus und eben aus diesem Grund will ich sie nicht sehen!
Wissen kann eine Qual sein, eine bestürzende Empfindung noch viel mehr, oh ja, das kann sie und deshalb will ich sie heute nicht sehen, nicht nur diese fremden Passanten, alle Menschen, nicht mal mein eigenes Spiegelbild. Es könnte anfangen zu fragen, jeder könnte damit beginnen. Doch ich will es nicht hören, nein, ich will es nicht wissen, nein, ich möchte überhaupt nichts mehr von dieser Welt.
Warum eigentlich? Was ist der Anlaß für diese Frage? Wenn du dich das fragst, so laß dir eins gesagt sein, wenn du mal in das Zimmer einer dir gut bekannten Person gehst, die immer sehr nett zu dir gewesen ist; du siehst sie zum ersten Mal, seitdem bei ihr Geschwüre im Bauch festgestellt wurden. Die Ärzte sagen, es wird gut, alle sagen ihr, es wird gut, ohne nur darauf einzugehen, daß sie völlig abgemagert ist, sich kaum noch bewegt und ihr ehemals weibliches Gesicht sehr stark Christopher Walken ähnelt. Du stehst bewegungslos da, fragst dich was zu machen ist. Schläft sie? Möchte sie allein sein? Diese Fragen lösen sich auf, sobald du ihre Augen siehst, die aus dem dürren Gesicht nach außen ragen. Kein Wort, keine Geste, aber du mußt dich an ihr Bett setzen, es ist einfach so, ihr Wille bestimmt es. Mit einem unvorstellbar lockeren Griff greift sie nach deiner Hand, es fühlt sich an wie eine kalte, verwelkende Blüte einer Blume. Du sprichst mit ihr über die Behandlung, ihren Zustand, die Medikamente, sogar über die erschreckend niedrige Zahl ihrer "Stuhlgänge", wie es politisch korrekt heißen muß. Verdammte Scheiße!
In einem Augenblick schmerzvoller Ruhe stellt sie dir Fragen, die rein objektiv betrachtet nichts zu bedeuten haben, die sogar zum Standardrepertoir des Small-Talk gehören, aber aus ihrem Mund etwas dermaßen Endgültiges darstellen, daß du dir selber die Frage nicht mehr stellst, ob sie es überlebt oder nicht. "In welche Klasse gehst du nochmal? Dann hast du ja nur noch zwei Jahre auf der Schule. Und danach? Danach studieren? Das ist sehr gut." Die Frage nach dem Befinden deines kürzlich geborenen Neffen, begleitet von einem harmonischen Lächeln, in dem sie gleichzeitig mit allem Irdischen abschließt.
Dann noch ruhig zu sitzen, auf den eigenen Blick zu achten, bloß nicht verraten, was man weiß, ist schwieriger als ein Meer zu teilen. Wenn du es dann nicht mehr dort aushältst und einen Grund suchst, um zu verschwinden, auf dem Heimweg deine Zigarette rauchst und die Gewißheit besitzt, daß du sie zum letzten Mal lebend gesehen hast, möchte ich deine Gefühle kennen, deine Einstellung gegenüber all den Unwissenden, in Gemeinschaften lachenden Menschen auf der Strasse. Dann möchte ich von dir wissen, ob dir die nichtigen, gedankenlosen Gespräche etwa nicht weh tun, ob du die Isolation nicht auch vorziehst, um über den Haß, den du auf dein eigenes Leben hast, in aller Ruhe und Zeit der Welt nachzudenken.
[Beitrag editiert von: zorenmaya am 10.03.2002 um 12:19]