Frag mich nicht nach Blütenstaub
Liebe Familie,
Schon in Kürze, wahrscheinlich liegt dieser Zeitpunkt beim Durchlesen dieses Briefes schon in der Vergangenheit, werde ich mich versuchen umzubringen. Zum Ersparnis meiner eigenen Scham hoffe ich von ganzen Herzen, dass dieser Versuch klappt und ihr meinen kalten fahlen Leichnam in einer schönen warmen wenn auch in rot eingefärbten Badewanne mit Wasser findet. Also seht euch vor, wenn ihr das Zimmer betretet; es könnte ekelig werden.
Doch ich schreibe dieses hier nicht, um euch vorzuwarnen. Wäre ja auch noch schöner, wenn ich meinen eigenen Tod so organisieren würde, dass er euch möglichst wenig ans Gemüt schlägt. Ohne rüde wirken zu wollen: Eure Emotionen beim Auffinden meines Körpers sind das erste, was mir wirklich, wirklich total egal sein kann. Ich sehe gar nicht ein, warum ich mich auch darum noch kümmern muss. Das ist doch euer Problem. Jeder sollte einen eigenen Weg für sich finden, um damit klar zu kommen. Ich hoffe, ihr habt Verständnis dafür. Tut mir Leid. Ich hoffe, ihr habt mich deswegen nicht weniger lieb. Ich meine es ja nicht so.
Was ich eigentlich bezwecke, ist, euch die Umstände meiner – ja das kann man so sagen – epischen Entscheidung näher zu bringen. Ich will mich hier nicht um das Adjektiv – oder für die Dümmeren von euch – Wiewort „episch“ streiten; ich meine episch hier aber nicht im Sinne von „heroisch“ oder „weltbewegend“, sondern ihr müsst verstehen, dass es in meinem Leben keine wichtigere Entscheidung gibt, nicht einmal die Ehe (tut mir Leid Sonja, aber so ist es nun mal). Sie ist schon eine sehr wichtige Entscheidung, vielleicht, ach was sage ich, wahrscheinlich die zweitwichtigste, doch die Entscheidung, die ich jetzt gefällt habe, steht definitiv auf Position eins. Daran lässt sich nichts rütteln. Und manchmal ist es auch anders, als ich es immer gehofft habe, aber objektiv und ohne alle Scheuklappen gibt es nichts bestimmenderes in meinem Leben als die Entscheidung, das Leben zu beenden. Das ist nun einmal so.
Also eine Geschichte. Es ist eine Geschichte, die mir heute passiert ist. Zu eurer näheren Information (es kann ja sein, dass ihr nicht ganz genau wisst, wie lange ich schon tot bin und ich will ja auch nicht, dass ihr auf die Ergebnisse aus dem Labor, die der Leichenaufschneiderer hat machen lassen, warten müsst) ist heute der 30.Juli 2002. Vielleicht erinnert ihr euch noch an diesen Tag, er ist warm und sonnig. Schon ein bisschen zu warm für meinen Geschmack, doch das tut jetzt nichts zur Sache. Man kann nicht sagen, dass es mir nicht gut gegangen ist. Im Gegenteil, es ging mir wunderbar. Prächtig.
Und um meinen persönlichen Hochgenuss noch zu steigern, habe ich mir überlegt, vor der Arbeit in das örtliche Freibad zu gehen, um mich wieder einmal körperlich zu betätigen. Und bei meinem Körper, der ja, wie es sich nicht anders ausdrücken lässt, etwas rundlicher ist, ist Schwimmen einfach eine der schönsten und angenehmsten Sportarten. Ich will ja auch nicht gleich Muskeln anlegen oder mein Fett abtrainieren, sondern nur meinen Kreislauf etwas in Schwung bringen, um mich aufzufrischen für den anstehenden Arbeitstag. Viele, die eine Vollzeitstelle haben, können nicht so recht verstehen, warum, die mit einer Teilzeitstelle immer so jammern. Was ich da schon alles für Geschichten gehört habe! Grauenhaft. Einige Leute verstehen halt nicht, dass man im Alter nicht mehr so gut kann. Andere gehen in Frührente, aber ich sage „nein ich will nicht aufhören mit der Arbeit, ich will mich nur nicht mehr so belasten.“ Und das ist auch meine freie Wahl. Ich darf ja jede mir denkbare Arbeit annehmen. Das ist ja meine Sache. Und an einem so heißen Tag wie heute, kann einem selbst ein halber Arbeitstag zu schwer sein.
Und so begab es sich, dass ich ein paar Bahnen im Schwimmerbecken rauf und runter geschwommen bin. Bei näherer Betrachtung fällt mir auf, dass es blödsinnig ist, sich in der Badewanne umzubringen, wenn man sowieso schon drei Stunden am Tag geschwommen ist; mein Körper würde total aufgeweicht werden. Aber vielleicht sollte ich darüber nachdenken, während ich weiter schreibe. Bei meinem Erzählstil kann dieser Abschiedbrief noch sehr, sehr lang werden. Damit will ich nicht sagen, dass mein Erzählstil schlecht ist. Ich meine nur, dass ich noch etwas Zeit habe, um mir über meine finale Entscheidung etwas klarer zu werden.
In einem Schwimmbad fühlt man sich immer wie Jesus auf den Wassern. Man wandelt irgendwie über den Leuten. Wer gut schwimmen kann, geht nicht unter. Man kann sich alles gut ansehen. Und auch sind alle Menschen gleich in einem Schwimmbad. Jedem steht der gleiche Platz zu – frei nach dem kategorischen Imperativ von Kant, den ich hier nicht noch weiter ausführen möchte, weil es zu viel Zeit beanspruchen würde. Ich habe diesen kategorischen Imperativ schon so häufig erklärt, dass ich jetzt keine Lust mehr habe. Wer es nicht weiß, soll nachschauen. Es lohnt sich. Aber das Schwimmbad ist eines der wenigen Plätze auf Erden, auf denen sich jeder daran hält.
Und bei diesen Leuten im Schwimmbad, da kann jeder jeden in Ruhe ansehen, ohne dass es belästigend oder anzüglich erscheint. Die Leute sind, wenn man sich das einmal ehrlich ansieht, nackt. Die haben zwar ein paar Kleidungsfetzen an, die so punktuell ein wenig was abdecken, doch diese Fetzen verhindern nicht, dass ich ganz genau weiß, wie die Leute nackt aussehen.
Und das ist auch irgendwie schön. Ich weiß ganz genau, die Leute schauen mich an und wissen, wie ich nackt aussehe, doch das macht nichts, weil es mit ihnen genauso ist. So gesehen ist ein Schwimmbad wie ein kleiner Mikrokosmos. Eine schönere Gesellschaft, in der alle gleich sind.
Und als ich ein paar Bahnen geschwommen war, viel mir auf, dass ein junger Mann den selben Schwimmtakt hatte wie ich. Er wartete immer an der Seite, bis ich an ihm vorbei geschwommen war und dann schwamm er weg. Ich sah ihn erst wieder, wenn ich an der anderen Seite der Bahn wieder angekommen war.
Als ich ihn mir ansah, merkte ich, dass er trotz seines jungen Alters keinen sehr guten Schwimmstil und keine sehr gute Ausdauer hatte. Er hatte langes blondes Haar und erinnerte mich irgendwie an einen Mann, den ich mal im Urlaub gesehen hatte.
Dieser Mann hieß, wie ich im Nachhinein – und das hier jetzt speziell anzuführen, wäre mir viel zu viel Arbeit – herausgefunden habe, Richard. Richard war bzw. ist, weil es ihn bestimmt noch auf Erden gibt, rund 20 Jahre jünger als ich und er war einer von vielen braungebrannten Animateuren, die bei solchen Massenhotels die Massen mit einem äußerst ununterhaltsamen Programm unterhalten. Normalerweise halte ich mich fern von diesen Programmen, doch damals war es einer der heißen Tage, an denen man nur die Klimaanlage der Hotelaula genießen konnte, weil der Pool von einer Wasserballmannschaft versperrt ist. Und wir haben Jonglieren gelernt. Natürlich hatte ich einige Probleme und Richard kam zu mir rüber, was auch nicht sonderlich verwunderlich war, weil er es den Teilnehmern des Jonglierkurses beibringen sollte. Aber auf die Art und Weise wie er mir in die Augen sah, hatte ich das Gefühl, dass er mich vergewaltigen würde, sobald die Dämmerung eingesetzt hätte. Und das bei mir, der verheiratet ist! Ich konnte das auch nicht näher fixieren. Es war Alles, wie er redete, meine Hand nachführte und mich ansah. Alles verriet seine dunkle Absicht. Und noch etwas mehr verängstigte mich, dass er auf eine sehr dumme Frage meinerseits, die in etwa so gelautet haben müsste wie „Wie viel Übung braucht man, um in einem chinesischen Zirkus mitzumachen“, wobei es für einen Mitteleuropäer alleine wegen seiner Hautfarbe und seiner über alle Maßen hohen Augen nicht möglich sein wird, in einem chinesischen Zirkus teilzunehmen, mit einer beschwichtigenden Geste und dem Satz „Frag mich nicht nach Blütenstaub“ geantwortet hat. Mir war in jenem Moment nicht so wichtig, dass er meine Frage richtig und sinnvoll beantwortet, und „Frag mich nicht nach Blütenstaub“ ist nichts, was ich eine genugtuende Antwort nennen würde. Aber was mir besondere Angst bereitete, war, dass ich diesen Spruch von nur einer einzigen Person auf der ganzen Welt bisher gehört hatte.
Und diese Person war meine Mutter. Sie sagte diesen Spruch andauernd und er kam mir immer so blöd vor. Ich meine, dieser Spruch ist doch wirklich grauenhaft. Er sagt absolut gar nichts aus. Nein, warum hätte ich sie denn nach Blütenstaub fragen sollen? Wie sollte diese Frage denn aussehen: „Mama, Blütenstaub?“ Das ist doch gar keine Frage. Was hätte ich denn für eine Antwort erwartet? Das gibt es doch gar nicht.
Und sie hat den Spruch immer in den dämlichsten Situationen aufgesagt. Ich frage sie, warum wir keinen Fernseher haben, wo doch alle unsere Nachbarn einen haben, und sie antwortet mir, ich solle nicht nach Blütenstaub fragen. Da hat doch das eine nichts mit dem anderen zu tun. Wo besteht denn da der Zusammenhang? Ich steig da nicht mehr durch.
So tschüss liebe Familie. Denkt immer daran, dass ihr keine Schuld habt. Und was mein Testament angeht, es ist mir absolut egal, wer was kriegt. Streitet euch selbst, ich will da nicht mehr der Buhmann sein. Das kann ich auch nicht. Macht das unter euch selbst aus.
Ich hoffe, ich habe nicht allzu viele Rechtschreibfehler gemacht. Habt noch ein schönes Leben. Das Leben ist sowieso schöner, als man manchmal denkt.
In Liebe Rainer