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FrühlingsTage
Meine Augen sind so furchtbar verquollen, dass sie schmerzen.
Ich hasse das Frühjahr, nun ja, zumindest hasse ich den Pollenflug. Auch nach vierzehn Jahren Allergie habe ich mich an das Halb-Krank-Gefühl nicht gewöhnt, das mich dann für mehrere Wochen beutelt, bis ich mich schließlich selbst wie eins meiner vollgerotzten Taschentücher fühle.
„Bakterienmutterschiffe“ nennt Nats, mein Bruder, sie, obwohl ich ja kaum ansteckend sein dürfte, und beschwert sich mit angeekeltem Gesicht, wenn ich vergesse, das eine oder andere Dutzend davon zu entsorgen.
Meine Nase ist ein geröteter Knorpel mitten im Gesicht, an den Rändern wundgescheuert, weil sich der Samtweicheffekt, mit dem der Papiertaschentuchhersteller wirbt, spätestens nach dem fünften Brachialschnauben verflüchtigt hat.
Mein Rachen juckt ganz tief im Innern, ein so heftiges Kribbeln als hätte ich Ameisen zerkaut und geschluckt, an gewöhnliches Kratzen ist natürlich nicht zu denken. Wie denn auch, meine Finger sind kaum lang genug und mit der Zahnbürste tut es höchstens weh. Von Zeit zu Zeit stoße ich ein gutturales Röcheln aus, eine Mischung aus Bellen und Krächzen, das den Schlund sozusagen von innen her kratzt.
„A-li-ce!“ tönt meine Familie dann genervt im Chor. Klar, kein Problem für sie, meinen Geräuschkanon unangenehm zu finden, sie sind vom Heuschnupfen bisher Jahr für Jahr verschont geblieben.
Alice bin dann übrigens ich, mit hörbarem „e“ am Ende, darauf haben meine Eltern aus nur ihnen bekannten Gründen je her bestanden. Alice mit e und Nathanael mit t-h. Kann man solchen Erzeugern glauben, dass sie schon immer nur das Beste für einen wollten?
Freunde nennen mich Alli, das coolere Äliß konnte ich nicht durchsetzen, denn als ich das erste Mal dieser Sprechart meines Namens begegnete, kam ich etwa 12 Jahre zu spät. Shit happens.
Es hätte dann wahrscheinlich auch für mich lustigere Orte für das berühmte erste Mal gegeben, als den umjubelten Rosengarten, an dem sich tagsüber Lustwandler auf die Füße treten, abends angesagte Cliquen Bierflaschen klirren lassen und nachts der Mond großzügige Silberschleier wirft. In der Romantik genau diesen Lichts wurde ich entjungfert, eine halbe Stunde vor Anbruch des dreiundzwanzigsten Märzes. Der Akt war relativ unspektakulär, Martin und ich hatten uns ja auch schon ein bisschen vorgetastet, Küsschen links, Küsschen rechts, Zungenstoß, Drehung hin und her, dann die ersten Brustquetscher („Au!!! Die sind empfindlich, Mann!“), die Entdeckung meines Bauchnabelpiercings bzw. seines ulkigen Haarwuchses vom Nabel abwärts und schließlich die tieferen Etagen.
Ich hatte ihn schon einige Male in der Hand gehalten, bisschen feucht, bisschen rutschig, nass, warm, haarig. Damals dachte ich mir noch, dass es wohl dauern musste, mit der Begeisterung für diese Körperstellen, aber andersherum nahm ich auch nicht an, dass es für ihn angenehmer sein mochte, mich zu berühren. Als es dann soweit war, war ich nicht vom Mondlicht trunken, sondern von dem Erdbeerlimes, den Martin mitgebracht hatte. Schmerzen hatte ich nicht und ob ich blutete, konnte ich im Finstern nicht feststellen. Gedauert hat es ungefähr drei „Der Mond ist aufgegangen“ lang, das mussten wir in der siebten Klasse auswendig lernen und ich kann’s immer noch.
Dann rollte Martin sich mit einem glücklichen Grunzen von mir und ich konnte endlich meinen linken Arm von dem Kieselstein heben, der sich während des Aktes hartnäckig dort ins Fleisch gedrückt hatte.
Das liegt jetzt zwei Monate zurück. Martin geht immer noch mit mir, aber im Moment macht er seinen Rollerführerschein und hat nicht grade viel Zeit.
Und ich bin ja augenblicklich auch nicht die Schönste im Lande, jetzt, wo draußen noch alles blüht und treibt.
Meine Augen sind so furchtbar verquollen, dass sie schmerzen.
Mein Hals ist wund, mein ganzer Körper fühlt sich müde, leer und schlapp an.
Der Strich im Testfeld ist rosa.
Die Tränen brennen unter den entzündeten Lidern.