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Frühlingstag

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27.02.2003
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Frühlingstag

Als klebte mir ein dünner Film aus Milch auf den Augäpfeln, und ich kann ihn nicht entfernen, sooft ich auch blinzle: So präsentiert sich der Tag, dunstig, schwül, still.
Ich stehe dort an der Grenze zwischen dem dichten Wald und der satten, grünen Wiese, und schon der nächstgelegene Hügel weicht meinem Blick aus, kriecht verschämt hinter den Dunst, der aus dem Tal steigt, als koche jemand den schmalen, steinigen Bach dort unten. Wie große, heimtückische, aber faule Tiere sind die bewaldeten Hügel, die hornigen Köpfe mit den großen, brennenden Augen verbergen sie zwischen den Tatzen, so dass niemand sie jemals sieht.
Es ist wirklich seltsam still, oder nein; das stimmt nicht. Zahllose Insekten surren herum, Vögel schwätzen zu Hunderten, der Bach murmelt, die Bäume rauschen. Vielmehr scheinen die Geräusche keinen gemeinsamen Klang zu ergeben, den Klang eines Frühlingstages, sondern jedes für sich zu stehen, isoliert unter einer gläsernen Glocke, die der Himmel ist. Jeder Ton erstirbt sofort, nachdem er geklungen ist, versickert in der stehenden, dunstschweren Luft. Hinterlässt keine Spur. Kein Wind, der den Schall tragen könnte.
Kein Wind.
Trotzdem gibt es viele kleine Luftwirbel, die sich jeder ein einzelnes Blatt ausersehen, es packen und in sinnlose, hektische Zuckungen versetzen, während der ganze restliche Baum schweigend dasteht wie in Wachs eingegossen. Wie ein Mensch, der krampfhaft mit den panisch geweiteten Augen rollt, sich aber nicht rühren kann.
Ein bisschen komme ich mir vor wie in einem Film, der noch nicht angefangen hat, oder auf einem noch ungemalten Bild. In der Idee existiert es bereits, aber noch nicht in der Realität. Man wartet noch. Alles wartet noch. Es bewegt sich schon, aber es ist noch nicht lebendig. Eher eine Apparatur, die einen Probelauf abhält. Eine Simulation, die ganz von selbst im Computer heranwuchs, und die noch keiner der Programmierer bemerkt hat. Ein seltsam falscher, leerer und gefährlicher Ort, denke ich, kein Ort, an dem man sich aufhalten möchte.
Auf der Wiese entfaltet ein Reiher seine Flügel zu einer enormen Spannbreite und hebt ab, als sei ein Windstoß unter ihn gefahren und habe ihn emporgehoben. Beim langsamen Schlag der Schwingen tippen die Enden der Außenfedern ganz leicht auf das feuchte Gras, hinterlassen dunkle Tupfer auf dem hellen Grün wie die Fußspur eines seltsam stelzenden Wesens. Der Reiher fliegt völlig lautlos auf den Wald zu, der ihn verschluckt wie eine Projektionsfläche, die der Vogel unbemerkt durchstoßen hat. Ich meine fast die Wellen zu sehen, die vom Waldrand ausgehen und über die Hügel ringsum wabern, wie Wasserringe auf einem Teich, in den man einen Stein geworfen hat.
Alles pulsiert um mich herum, das nehme ich jetzt deutlich wahr. Die ganze Gegend dehnt und krümmt sich wie ein gigantisches, schlagendes Herz. Es pumpt pralles Leben durch haarfeine, durchsichtige Adern, die überall durch die Luft gesponnen sind, um mich herum, ohne dass ich sie sehen oder fühlen könnte. Alles wächst und sprießt, wuchert und treibt Keime, als gelte es, an einem einzigen Nachmittag soviel Leben zu erschaffen, dass es für ein ganzes Jahr reicht. Ich bekomme fast Angst, dass der Wald plötzlich so schnell sprießen könnte, dass ich nicht mehr davonlaufen kann; junge Triebe und zartes Blattwerk würden mich wie eine Lawine, eine Welle, vor sich hertreiben auf den gegenüberliegenden Hügel zu, und mich dann daran zerreiben, wie wir ein Minzblatt zwischen den Fingern zerreiben, um diesen ganz bestimmten Geruch einzuatmen. „Hmmmmm…“ sagt dann der Wald, und schnuppert an meinen zerstoßenen Überresten, ein tiefes, zufriedenes, grollendes „Hmmmmm…“ wie von einer sehr großen Katze.
Ganz plötzlich wird es völlig still um mich herum. Zwar sehe ich weiterhin Vögel fliegen, der Bach schäumt immer noch über die Kiesel, aber es ist, als habe jemand in diesem Land-Wiesen-Film, in dieser unfertigen, unbelebten Landschaft auf einmal die Tonspur abgeschaltet. Alles ist perfekt, nur der Ton fehlt. Er fehlt so völlig, dass das Rauschen von Blut in meinen Ohren, vielleicht das einzig noch Lebendige, Echte hier um mich herum, so laut wird, dass es mir fast wehtut; es ist ein Brausen, ein Tosen, wie Stromschnellen und Wasserfälle in meinen Adern.
Ein Fuchs tritt aus dem Wald und setzt sich auf die Wiese. Ein Baum gegenüber am Hang wird entwurzelt und fällt. Eine kleine Wolke wird sehr groß und ergießt einen Regen auf die Wiese rechts von mir. Ein Maikäfer steuert auf meinen Kopf zu und dreht gerade noch rechtzeitig ab, bevor er in einem kleinen Feuerball zerbirst. Spannung tanzt durch die Luft, als erwarte sie mit kindlicher Ungeduld ein krachendes, erlösendes Gewitter. Elmsfeuer zucken zwischen den Baumkronen, und aus einem Gebüsch links von mir tritt ein Mann. Er winkt fröhlich und schüttelt ein bisschen mit dem Kopf.
„Ei nein, hier sind Sie! Meine Güte. Und? Wie gefällt es Ihnen?“
Ich sehe den Mann an, und erkenne ihn nicht. Auch er ist so verschwommen und dunstig wie die ganze Umgebung, sein Gesicht ein Qualm oder Rauch, und er trägt den Hut eines Jägers, samt Feder. „Ich weiß nicht“, antworte ich. „Was meinen Sie?“
„Na“, sagt er, und lacht. „Sie sind mir ja ein Schelm. Haben Sie den Fuchs gesehen?“
Ich sehe hinüber zum Waldrand, doch der Fuchs ist fort.
„Ja“, sage ich. „Ein schöner Fuchs. Aber es ist recht warm, oder?“
Tatsächlich strömt mir der Schweiß vom Gesicht und rinnt mir in die Augen.
„Tja, ja, das mit der Sonne kriegen wir noch hin“, sagt der Mann. „Doch vorerst, es geht ja erstmal so. Und? Sind sie glücklich?“
Ein Wind kommt auf, und Pappelblüten tanzen flockig durch die Luft wie Schnee. „Naja“, sage ich. „Schon, ich weiß nicht. Ein paar Dinge sind ungewohnt.“
„Aber ja doch“, sagt der Mann. „Sehen Sie, der Fuchs war schon sehr gut, und auch der Reiher, haben Sie den gesehen? Sehr schön, ja, wirklich. Und der Rest – was sagen Sie, ja oder nein?“
Ich sehe hilflos umher, doch dem Mann ist keine Kulisse gefolgt, keine Kamera, kein Schöpfer, kein „Exit“-Leuchtschild. „Wie lautet denn die Frage?“ will ich wissen.
Er schüttelt bedauernd den Kopf. „Nein also wirklich, ich dachte, das hätten wir bereits geklärt. Sehen Sie, ich tue ja auch nur meinen Job. Also, ja oder nein?“
Über dem Hügel vorn steigt wie eine blaue Sonne der dicke Bauch eines Fesselballons empor, doch der ist unbemannt und treibt ziellos vor dem Wind.
„Kommen Sie, los!“ sagt der Mann, und sticht mit einem abgebrochenen Zweiglein nach mir. „Sagen Sie schon, ja oder nein, ja oder nein, ja oder nein?“
Er sticht mir ins Knie, in den Bauch, den Hals.
„Nein, ich…“ – ich antworte nicht auf diese Frage, will ich sagen. Er jedoch wirft den Zweig fort, und strahlt, zumindest das kann ich seinem Nebelgesicht entnehmen.
„Ja, das habe ich mir gedacht!“ frohlockt er. „Na also, sehr gut, herzlichen Glückwunsch! Ich muss sagen, das habe ich schon von Ihnen erwartet! Also, dann.“
Er dreht sich um und will gehen, doch ich fasse nach ihm, als er sich dreht, bekomme fast einen kühlen Ärmel zu fassen, doch da ist er fort, er hat sich ganz flach gemacht und einfach aus der Landschaft herausgedreht, wie ein unendlich dünnes Blatt Papier. Ich mache einen lauten Schrei, einen Schritt und zwei und dann noch zwei rund um die Stelle, wo er eben noch stand, doch er ist wirklich fort.
Drüben kommt der Reiher zurück, und sieht zu mir herauf, mit kleinen, schwarzen, klugen Augen. Ein Tross Ameisen wandert über meinen Stiefel, sie weichen ziemlich geschickt den fallenden Tränen aus, die aus meinen Augenwinkeln tropfen, obwohl ich nicht traurig bin, das kann man wirklich nicht sagen. Denn gerade eben, rund um die Stelle tanzend, an der der Mann verschwand, sah ich einen kleinen Pfad, der hinauf zwischen die Bäume führt und auf der anderen Seite wie eine Trittspur durch die Wiese hinüber zum Bach, und das ist doch wirklich schon etwas. Ich bin also alles andere als traurig, ich habe mich nur noch nicht entschieden, wohin ich mich jetzt wenden soll, bergauf oder bergab.
Ich denke, dass der Tag noch lang sein wird, dieser erste Frühlingstag hier im Wald. Er wird noch sehr lang sein, das denke ich mir, und so habe ich noch viel Zeit. Ich setze mich also lieber noch ein bisschen hier ins Gras, das weich ist wie Daunen, und kraule den Fuchs zwischen den Ohren, der auch wieder hier sitzt, das scheint er gern zu haben. Ich frage ihn nach seinem Namen, doch er antwortet nicht. Ich nenne ihn also „Freund“, und das scheint ihm zu gefallen. Hier sehen wir also noch ein wenig dem Treiben der sterbenden Sterne zu, Freund und ich, und wenn ich einmal müde werde, wird er wachen, damit ich eine Weile schlafen kann.

 

Das war eine seltsame, in sich nicht schlüssige und ziemlich langweilige Geschichte! Gut gemeint ist nicht gut gemacht, schade!

 

"Hmmmmm ..."

Diesmal find ich's auch nicht so gelungen. In deinen anderen Geschichten gehst du zwar auch nicht näher auf das "Was?" und "Warum?" der Leser ein, aber sie ergeben zumindest für sich allein so viel Sinn, dass das gar nicht stört, im Gegenteil.
Aber hier stört, für mein Empfinden, das Nichteinlösen der Frage des "Jägers" (ich nenn ihn mal so) doch zu sehr den Genuss an der Gesamtstory. Man kann sich natürlich wieder einmal zusammenreimen was man will, aber in diesem Fall würde man doch gerne mehr wissen, schätz ich.

Man kann davon ausgehen, dass es sich um eine virtuelle Welt handelt, aber da wir die Frage des "Jägers" nicht erfahren und ja auch sonst nicht viel passiert (im Sinne von Handlung), bleibt man ein wenig unbefriedigt zurück. Wäre das Zwischenspiel mit dem kleinen Mann nicht, würde es als hübsche Naturbeschreibung durchgehen. So aber, isses ein bisserl zu konfus und fast enttäuschend.

Vielleicht ging's dir (auch?) diesmal nicht um eine bestimmte Handlung, sondern viel mehr um einen Traum. Aber so oder so, unbefriedigend ist es trotzdem. :(

Grüße
Visualizer

 

Hei @visualizer,
hei @wittgenstein,

dank euch fuer die kritik, auch wenn sie nicht allzu gnaedig ausfaellt (und sorry fuer die fehlenden Umlaute - norwegischer Uni-Rechner...).

Hab sonst nicht viel dazu zu kommentieren, vielleicht nur eine Art rhetorische Frage. Braucht es eigentlich immer eine Handlung in einer Geschichte? Auch wenn es hier vielleicht nicht funktioniert hat, so kann doch der Versuch einer sprachlichen Umsetzung eines Zustandes/Gefuehls/einer Stimmung usw. schon den zentralen Gehalt einer Story ausmachen, oder?
(in diesem Fall etwa das Gefuehl von Irrealitaet). Mit so etwas wie einer Parallele z.B. in surrealistischer Malerei, vielleicht.

Wie gesagt, vielleicht hats hier nicht funktioniert, aber es wuerd mich interessieren, was ihr grundsaetzlich dazu meint.

Gruesse aus dem hohen Norden,

SebaPe

 

Hi SebaPe,

selbstverständlich "darf" es auch Geschichten ohne ersichtlicher Handlung geben (trifft in etwa auf 50% aller Geschichten hier auf kg.de zu :D).

Nein, im Ernst, ich hab nichts gegen surreale, irreale, impressionistische, dadaistische oder sonst welche Geschichten, die nicht auf Handlung, sondern mehr auf Stimmungen, Gefühlsbeschreibungen und Atomsphäre setzen. Gefällt mir mitunter sogar ganz gut, wenn es stilsicher gemacht ist, v.a. weil ich das selber nicht kann.
Und ich würd mir jetzt auch, wegen den beiden Kommentaren, keine grauen Haare wachsen lassen, an deiner Stelle. Sind ja nur zwei völlig subjektive Meinungen.

Ob etwas "funktioniert" oder nicht, kann man ohnehin nicht pauschal sagen (wenn überhaupt). Es ist doch immer nur eine Frage der Popularität einer Lösung. Aber "funktioniert" eine populäre Lösung wirklich mehr, als eine weniger populäre? Diese Frage kann sich nur der Autor selbst beantworten, indem er sich eine weitere stellt: Bin ich von mir selbst überzeugt genug, dass ich mich der (scheinbar) unpopulären Lösung stelle?

Grüße
Visualizer

 

Hi visualizer,

nein nein, keine grauen Haare auf meiner Seite... :)

Das mit dem "Funktionieren" einer Geschichte ist natürlich wahr. Und ich stelle mich hiermit der "unpopulären" Lösung!

Liebe Grüße

SebaPe

 

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