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Frühlingsluft
Frühlingsluft umspielte die Gesichtszüge, streichelte die Wangen des jungen Mädchens, das am See platz genommen hatte. Sie war gerne hier; an diesem Tag schon länger als sonst. Es veranlasste sie nichts von dort fort zu gehen, obgleich eine Menge Dinge versuchten, ihre Gedanken für sich einzunehmen. Ihre Augen waren geschlossen, während sich die Glut der Zigarette in ihrer Hand langsam und vergessen dem Filter näherte.
Sie genoss den Geruch des Wassers und das endlose Geräusch, das der Bach machte, der dem See das Leben schenkte. Entenlaute drangen an ihr Ohr. Sie wandte den Kopf in ihre Richtung und öffnete die Augen einen Spalt weit. Eine alte Frau verteilte Brotkrumen vor sich. Die schnatternde Meute fiel über diese her.
„Ach, die alte Frau hat es gut“, dachte das Mädchen bei sich, „man kann richtig sehen, wie viel Freude ihr das Theater um die größten Krumen bereitet.“
Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht während sie das Treiben still beobachtete. Ihre Augen lächelten nicht. Sie sahen die Frau auch gar nicht genau an. Es war, als suchten sie etwas hinter der Frau, etwas, das sie nicht fassen konnten. Was sie suchten wusste sie, auch wenn sie es nicht fanden. Sie wollte erfahren, wie man so einfach zufrieden sein konnte, wie diese alte Frau. Nicht nur wie diese, sondern wie so viele andere, von denen sie täglich umgeben war und die sie nicht mehr sehen konnte. Blinzelnd wanderte ihr Blick zum See, noch immer so weit in die Ferne gerichtet, dass er das Schöne, das so nahe lag, nicht mehr würdigen konnte.
„Autsch!“, rief sie als sich die vergangene Zeit bemerkbar machte. Sie warf die abgebrannte Kippe genervt auf den Boden. Jetzt hatte sich auch noch die Zigarette gegen sie verschworen. „Was kommt als nächstes?“, fragte sie sich. Sie lächelte weiter, so wie sie es gelernt hatte. Es musste ja auch nicht jeder wissen, wie es ihr ging. Es sollte auch keiner wissen. Ohnehin hätte es niemanden interessiert, das hatte sie schon oft gedacht.
Die meisten möchten auf die Floskel „Wie geht es dir?“ keine ehrliche Antwort hören und sie würde auch keine solche geben. Sie seufzte und stand auf.
Ihre Augen spiegelten das Leben wieder, als sie um die Ecke gebogen war. Jedes mal vergaß man fast, dass der See in der Stadt liegt. Menschen drängten sich in Eile durch den Dschungel aus Asphalt und Anonymität. Vielen von ihnen konnte man die Scheuklappen des Alltags ansehen, die sich um ihre Augen legten, während sie am Zügel der Gesellschaft ihr Dasein fristeten. „Rücksichtnahme...“, dachte das Mädchen bei sich, „endet auf das Gleiche Wort wie Ausnahme. Kann das ein Zufall sein?“ Sie musste schmunzeln. „Ironie hatte das Leben genug zu bieten und in der Schule lernt man, dass das ein Stilmittel ist.“
Fast daheim wollte sie über den Zebrastreifen gehen, als das schrille quietschen von blockierenden Reifen sie erschrocken zusammenfahren ließ. Der Autofahrer, dem die Reifen gehörten, blickte sie entnervt an und bedeutete ihr, doch bitte weiter zu gehen. „Arschloch! Manchmal wünschte ich mir, so einer würde mich anfahren, dann würde er vielleicht ein bisschen vorsichtiger sein.“ Die Tür fiel ins Schloss.
Das Mädchen atmete einen Moment lang tief, niemand war zu Hause. Sie sah sich kurz um und eine Art von Dumpfheit breitete sich wie ein Kissen in ihrer Brust aus. Sie schürzte die Lippen und stieg die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Dort setzte sie sich an den Schreibtisch und fing an zu schreiben. Immer wieder schaute sie eine Weile zum Fenster hinaus, vor dem sich der Tag zusehends zur Nachtruhe begab. Auch die Vögel wurden müde; nur noch vereinzelt war ein einsames zwitschern zu hören, das sie doch doch so gerne vernahm.
Es war schon spät als ihre Mutter zur Tür herein kam und einfach nur noch auf das Sofa wollte. Wieder war es einer dieser Tage gewesen, an denen man nur rotierte und keinen Moment zur Ruhe kam. Also ließ sie sich, die Schuhe von sich werfend, auf das Sofa fallen, das sie wohlig begrüßte. Doch ihre Hand fand die Fernbedienung nicht. Sie lag doch immer dort, dort wo nun dieser Umschlag – sie stutzte. Was war das denn? Die Handschrift erkannte sie, es war die ihrer Tochter. Dieser Umstand bereitete ihr Unbehagen. Warum sollte ihre Tochter einen Brief schreiben? War sie nicht oben, in ihrem Zimmer wie immer? Rufe gellten durch das Haus, doch dröhnte nur eine unheimliche Stille zurück, die schließlich vom reißenden Geräusch der Hülle durchbrochen wurde, die ihren Inhalt preis gab. Stumm hallten die Worte ihrer Tochter im Kopf der Mutter:
„Liebe Mama,
es tut mir Leid, dass ich es dir nicht habe sagen können, aber du hättest mich nur umgestimmt. Ich muss gehen. Ich fühle mich einfach unwohl und möchte die Menschen um mich herum nicht mit meinen Sorgen belasten. Vor allem dich nicht, denn du hattest schon genug Schwierigkeiten im Leben. Es ist alles so ungerecht! Durch mich sollst du keine weiteren dazu bekommen, ich bin doch immer für dich da und werde es auch immer sein.
Ich habe dich lieb,
Lisa“