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Frühlingsgefühle
Die Sonne schien zum ersten Mal seit Wochen richtig warm vom Himmel. Dieser Mai hatte bisher nichts Frühlingshaftes an sich gehabt außer den ständigen aprilmäßigen Schauern und den Bergen von dicken Wolken, die sich am tiefhängenden Himmel um einen Platz in der vordersten Reihe balgten. Ein grauer, öder Tag zog den anderen hinter sich her, und jeder einzelne machte die Hoffnung auf einen warmen Frühsommer langsam immer mehr zunichte. Das Licht schien völlig aus dieser verdammten Welt verschwunden zu sein und sich außerdem auch nie wieder blicken lassen zu wollen.
Und jetzt auf einmal gab sich die Sonne anscheinend gerade ausgiebig Mühe, alles was auf der Straße herumlief gut durch zu braten. Auf den Bänken und Plätzen schmurgelten schon die Sonnenanbeter. In den Eisdielen waren alle Tische besetzt. Die Tauben, die während der letzten Wochen dicht gedrängt unter Dachvorsprüngen gehockt und keinen Ton von sich gegeben hatten, balzten heute ungeniert mitten auf dem Gehweg hintereinander her.
Toby lief mit gesenktem Kopf und den Händen in den Hosentaschen durch die Stadt. Ob nur tief in deprimierende Gedanken versunken oder um sich als menschlicher Panzer den Weg durch mögliche Passantensperren zu bahnen, war an seinem ziellos wirkenden Marsch auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Jedenfalls interessierten ihn die Blumen, die ihren ganz neuen Blütenhut aus den bepflanzten Töpfen in der Fußgängerzone reckten, nicht die Bohne, und die liebestoll gurrenden Tauben verscheuchte er mit seinem Fuß, ohne den Blick zu heben.
Innerlich verfluchte er diesen Tag, und zwar nicht nur diesen, sondern zahlreiche davor auch. Seit sein Führerschein weg war, mußte er Bus und Bahn gezwungermaßen ohne Fahrkarte benutzen (reinster Wucher, diese Fahrkartenpreise!), weil er seit seiner Entlassung dauerpleite war (von den A-Amt-Kröten konnte doch keiner leben!), und heute hatte man ihn dann zum dritten Mal beim Schwarzfahren erwischt.
Er seufzte beim Gedanken daran. Eigentlich war er auf dem Weg zu einem Mädel gewesen, daß er vorgestern in seiner Stammkneipe kennengelernt hatte. Sie wohnte mitsamt ihren langen Beinen und äußerst vielversprechenden Rundungen im vorderen Brustbereich ungefähr 25 Kilometer weit weg in der nächsten Stadt, und wie sollte er sonst dorthin kommen? Trampen ging auf dieser Strecke so gut wie gar nicht, seine wenigen Kumpels würdem ihm kein Auto mehr leihen, und man konnte ihm nun wirklich nicht zumuten, den ganzen Weg mit dem Fahrrad zurückzulegen (außerdem war das schon seit Monaten auf beiden Reifen platt).
Der fülligen Bahnbeamtin, die ihn heute aus dem Zug gezogen hatte, war das alles scheißegal gewesen. Nachdem er auf ihre routinemäßige Frage nach seiner Fahrkarte nur grinsend geantwortet hatte, daß sie ja mal an einer bestimmten Stelle seines Körpers danach suchen könnte, war ruck-zuck ihr Kollege aufgetaucht, und beide zusammen hatten dann "nur ihre Pflicht getan", wie man so schön sagt.
Genau wie die Polizistin damals, die ihm den Führerschein aus den zitternden Fingern riß und ihn abführte, nachdem er kurz zuvor mit einem, seiner Meinung nach, sehr eleganten Schlenker dem Streifenwagen den linken Außenspiegel abgefahren hatte. Eine richtige Matrone war das gewesen, mit Armen, die es vom Umfang her locker mit seinen Oberschenkeln aufnehmen konnten. Als sie ihn damals durchsuchte und ihm dabei besonders ruppig zwischen die Beine fasste, überfiel ihn einen erschreckenden Augenblick lang die Gewißheit, sie hielte seine Geschlechtsorgane für eine äußerst gefährliche Waffe (worin er ihr unter anderen Umständen vielleicht Recht gegeben hätte) und wäre drauf und dran, sie samt Halterung von seinem Körper zu entfernen.
Die dicke Bullin hatte es offensichtlich so richtig genossen, ihn zur Sau zu machen, nur wegen des dämlichen Spiegels (und weil er bißchen nach Scotch gerochen hatte und seine Augen vom Marihuana gerötet, sein Grinsen schief und seine Antworten auf ihre Fragen ziemlich rotzig waren.) Okay, sein Blut hatte wohl auch ein wenig mehr intus als den gesetzlich erlaubten Promillespiegel, das mußte er angesichts der Konfrontation mit seinen Blutwerten schließlich doch zugeben. Sein ganz leise knurrtes "Scheißbullen" war ihr dann leider auch noch aufgefallen...
Sein Vater (ihm gehörte der Wagen, den er gefahren hatte) regte sich furchtbar auf. Nicht mal wegen dem kaputten rechten Außenspiegel, sondern weil er sich angeblich große Sorgen machte um die Lebensweise seines "desinteressierten, stinkfaulen" Sohnes. Die darauf folgenden intervallmäßigen Gespräche mit seinem Dad zum Oberbegriff "Wie soll das mit dir enden?" brachten auf jeden Fall einen erheblichen Zeitaufwand mit sich und nervten ohne Ende, mal abgesehen davon, daß sie weder Toby noch seinen Vater weiterbrachten.
Und dann auch noch die Sache mit dem Job... sein verdammter Chef! Nach der dritten Abmahnung wegen Zuspätkommens (die paar Minuten!) hatte er sich aufgeführt wie ein elender Diktator und ihn ohne viel Federlesens zu den übrigen arbeitssuchenden Häufchen Elend auf die Straße befördert.
Seitdem lebte er in seiner „Höhle“ mit ein bißchen Sozialhilfe so vor sich hin. Das Interesse an der Welt war ihm gründlich vergangen. Ohne Geld, ohne Freundin (als sie vor zwei Monaten auszog und ihn in einem riesigen Haufen ungespülten Geschirrs und Dreckwäsche zurückließ, murmelte sie, während sie ihre Koffer aus der Tür bugsierte, wütend irgendwas von „..du merkst ja gar nichts mehr..., .. schlampig... ...total runtergekommen..“, oder so ähnlich, er hatte nicht alles richtig mitbekommen, weil er gerade sehr von der neuesten dramatischen Entwicklung in seinem Computerspiel gefesselt war) und ohne Auto machte alles sowieso keinen Spaß. Alles Scheiße.
Jemand rempelte ihn versehentlich an und murmelte eine Entschuldigung, und noch bevor er, überraschend aus seiner Versunkenheit gerissen, in gewohnter Weise pöbeln konnte, waren die Leute schon ein gutes Stück weiter. Ein Pärchen. Sie sehr hübsch, er sehr groß und breit, und Toby fiel auf, daß das Mädchen ihre Hand zärtlich in die hintere Jeanstasche ihres Kleiderschrank-Begleiters geschoben hatte. Sie hatten ihn beide nicht mal wirklich bemerkt...
Scheiß Frühlingsgefühle. Er fluchte leise und kickte einen grauen Kieselstein voller Wut über die Straße, wo er mit lautem Scheppern gegen einen Müllbehälter knallte. Er spürte, wie sich eine haushohe Welle Selbstmitleid über ihm türmte, die sich jeden Moment an seinem schmutzigen Strand voller Treibgut brechen würde, und einen kurzen Augenblick lang war er sicher, er müßte tatsächlich gleich heulen. Weichei, dachte er. Er schluckte trocken und versuchte vergeblich, das dämliche Gefühl herunterzuwürgen, ein kleiner Junge in der Schule zu sein, dem die Größeren gerade in der Pause den Frühstückskakao geklaut hatten. Warum ging eigentlich immer bei ihm alles schief?
Irgendwo mußten doch die Zigaretten sein! Er blieb stehen und wühlte in den Taschen, fühlte statt der Schachtel nur alte Papiertaschentücher, Kaugummipapierchen und ein paar Centmünzen, und dabei blieb sein abwesend herumschweifender Blick plötzlich an etwas hängen. Auf fast dem ganzen ziellosen Marsch hatte Toby nur mit hängendem Kopf auf den Gehsteig geblickt und stellte erst jetzt fest, daß er mittlerweile bis zu dem alten Gymnasium in der Stadtmitte gekommen war. Eine weitläufige, viereckige Rasenfläche wurde dort vom Schulgebäude auf drei Seiten umrahmt, und auf dem Rasen lag ein großer Hund. Es war ein schöner Deutscher Schäferhund, und er ruhte mit wachem Ausdruck und gespitzten Ohren auf einem sonnigen Platz im noch ungemähten Gras.
Toby liebte Hunde über alles. Früher hatten sie auch mal einen gehabt, seine Eltern, als er noch zu Hause wohnte. Er wurde eines Tages überfahren, und sie schworen sich, nie wieder einen Hund zu halten. Er hätte schon gern wieder einen gehabt, aber seine Eltern weigerten sich standhaft, und hier, in der Stadt, in seiner winzigen, dreckigen Wohnung? Das hätte er keinem Hund antun wollen... und erst recht nicht einem so großen, stolzen Exemplar.
Wie das dichte Fell glänzte! Der „Urvater“ Wolf war deutlich zu erkennen, Stolz und Freiheit sprachen aus seiner Haltung, und von niemandem bezwungen blickte sich dieser prächtige Nachfahre des schlauen Jägers um...
Toby geriet ins Schwärmen. Voller Bewunderung betrachtete er das edle Tier, als seine Zigaretten endlich in einem bisher unerforschtem Gebiet seiner Jackentasche auftauchten. Er fischte sie heraus und bemerkte erst jetzt den Mann auf dem Rasen. Er lag ein gutes Stück weiter entfernt auf den Knien.
Während Toby in der Jeans nach seinem Feuerzeug kramte, sah er sich das Spiel genauer an.
Was suchte dieser Typ denn da? War er vielleicht hingefallen und kam nicht mehr hoch oder so was? Die Augen gegen das Sonnenlicht zusammenkneifend versuchte Toby vom Gehweg her, nähere Einzelheiten zu erkennen. Mit dem charakteristischen Klacken ließ er sein Zippo aufschnicken (vor langer Zeit hatte er ein paar Wochen gebraucht, um es so lässig aussehen zu lassen) und befeuerte endlich seine Lucky Strike. Er konnte sehen, daß der Mann mit seinen Händen langsam und dabei vorwärtskriechend das Gras abfühlte. Merkwürdig. War ihm vielleicht etwas heruntergefallen und im Gras verschwunden? Die Szene hielt ihn irgendwie gefangen, er blieb neugierig dort stehen und beobachtete für seine Verhältnisse recht interessiert die Vorgänge auf der Wiese. Anscheinend gehörten der Typ und der Hund zusammen... er nahm einen tiefen Lungenzug und runzelte die Stirn.
Dann machte der Mann vorsichtig tastend und immer noch auf den Knien eine Drehung in die andere Richtung. Als er sich langsam herumdrehte, leuchtete Toby von seinem linken Ärmel ein gelbes Band mit drei großen schwarzen Punkten entgegen. Jetzt konnte er auch das vorher undefinierbare, weiße Gestänge deuten, das hinter dem Hund auf dem Rasen lag und das er für anfangs für einen unsachgemäß entsorgten Klappstuhl oder sowas Ähnliches gehalten hatte. Der schöne „Wolf“ war ein Blindenhund!
Toby sog an seiner Zigarette und fühlte sich auf unbestimmte Weise schuldbewußt. Der Kerl da war blind. Konnte nichts sehen. Plötzlich betroffen starrte er auf die Wiese. Dabei meldete sich tief in seinem Inneren eine flüsternde Stimme, die er nach einigem Rätseln als die seiner guten Erziehung identifiziert konnte (war das schon lange her!): „Hast du schon mal daran gedacht, daß dieser hilflose Kerl vielleicht etwas furchtbar Wichtiges verloren hat und es nun nicht mehr finden kann? Hm? Und was könnte man da wohl unternehmen, in so einer Situation? Überleg mal scharf!“
Toby ließ die Zigarette sinken. Ihm wurde jetzt erst richtig klar, daß dieser arme Teufel auf der frühlingsgrünen Wiese unter diesem strahlend blauen Himmel nichts mehr auf der großen weiten Welt sehen würde, egal, wie sehr die Sonne knallte und die Blumen blümten, nicht einmal dieses bewundernswerte Prachtexemplar von Hund an seiner Seite. Inmitten all dieser Frühlingsgefühle, der erwachenden Natur, der Wärme und den leuchtenden Farben, die die Sonne hervorzauberte, erschien Toby das dunkle Schicksal des Hundehalters besonders grausam.
Und auch der Hund: Anstatt sich wie seine unbeschäftigten Artgenossen auch schon mal daneben benehmen zu können, trug er eine schwere Verantwortung, mußte er brav und zuverlässig Dienst tun, durfte nicht vom Weg abweichen, mit seiner Nase einfach einem köstlichen Bratwurstduft folgen oder auch einem süßen Pudelschwänzchen...
Die Stimme aus Tobys ganz persönlichem Off wurde eindringlicher und nahm schließlich einen fast schon beängstigenden und durchdringenden Schnarrton an. "Na, wie siehts aus? Wird das da vielleicht noch mal was?"
Mitleid keimte plötzlich in ihm auf. Auch wenn bei ihm alles schiefging, dieser Typ da (der konnte ja nun schließlich auch nichts dafür) war noch um einiges ärmer dran.
Nicht sehen zu können, wohin man geht, was man anfaßt oder schmeckt! Keine Computerspiele, kein Auto fahren, fernsehen, vor dem Spiegel coole Posen einstudieren oder das vielversprechende Lächeln einer scharfen Schnecke aufschnappen! Und apropos scharfe Schnecken: Nie einen weiblichen Körper betrachten zu können, seine sanften Rundungen an ein Laken geschmiegt, die wie von kunstvoller Hand gewölbten Hügel und weichen Täler voller geheimnisvoller Schatten und verborgener Früchte, nur schwach beleuchtet von den wenigen, schüchternen Lichtstrahlen, die von außen durch die Spalten einer halb zugezogenen Jalousie ins Zimmer dringen... (okay, er hatte wahrscheinlich einmal zu oft "9 1/2 Wochen" gesehen..) was mußte das für ein Leben sein!
Er atmete tief durch. Vielleicht hatte er einfach zu lange in der Sonne gestanden. Oder der Frühling hatte eine Tür geöffnet, die schon lange vorher zugeknallt worden war... Plötzlich zu Heldentaten entschlossen warf er die Zigarette auf den Gehsteig, trat sie ganz gegen seine Gewohnheit ordentlich aus und machte sich mit hehrem Mitgefühl in der Brust daran, seine erste gute Tat seit längerem zu vollbringen und diesem bedauernswerten Blinden sein verlorenes Herz (oder was auch immer er dort fallengelassen hatte) wiederzubringen.
Doch als er den ersten Fuß Richtung ritterliche Rettungsaktion auf den Rasen gesetzt hatte, stutzte er.
Der Mann hatte aufgehört herumzukrabbeln, und der Schäferhund sah plötzlich aus wie ein gespannter Flitzebogen. Wollte sein Herrchen etwa völlig entnervt die sinnlose Suche aufgegeben, nachdem ihm kein Mensch geholfen hatte? Toby kratzte sich ein wenig ratlos am Kopf und blieb unschlüssig stehen.
Dann sah er, wie der Blinde aufstand.
Auf einmal hob sich der Arm ohne die gelb-schwarze Binde kraftvoll und hoch in die Luft. Wie aus der Pistole geschossen sprang der Schäferhund voller Freude auf.
Und dann tollte er in großen Sätzen vergnügt bellend dem Stöckchen hinterher, das sein Herrchen für ihn gefunden und weit bis ans andere Ende der großen Wiese geworfen hatte. Und Toby, der verdutzt immer noch am Gehweg stand, hörte den blinden Mann fröhlich lachen.