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Frühling, weiter

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15.02.2003
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Frühling, weiter

Es ist Frühling.
In den Schaufenstern sind Blumen.
Es ist kurz vor elf Uhr.
Das Radio erzählt von Dingen wie Liebe. Frank schaltet es aus. Er öffnet das Fenster. Es wird Regen geben. Unter ihm werden letzte Einkäufe erledigt. Die Straßenclowns packen ihre Sachen und verschwinden im Nebel.

Fenster werden geschlossen, Vorhänge zugezogen.
Irgendwo klappern noch Schritte über das Pflaster. Bald verliert sich das Geräusch zwischen den Häusern. Ein Blinder mit einer Drehorgel steht verlassen vor einem Schaufenster. Er verkauft Lose.

Frank beugt sich aus dem Fenster und ruft ihm zu, dass es bald regnen wird. „Ja“, sagt der Blinde „man riecht es.“ „Wollen sie ein Los kaufen?“
Frank fragt, was es zu gewinnen gibt.
Glück, sagt der Blinde und lacht.

Etwas später setzt der Regen ein. Die Tropfen prasseln auf das Pflaster und vermischen sich mit dem letzten Schnee. Frank streckt die Hand aus und spürt, wie das Wasser über seine Haut rinnt. Der Nebel hat sich verdichtet. Dächer verirren sich in Wolken und an der nächsten Straßenecke ist der Horizont.

Der Blinde hat begonnen, die Kurbel an seiner Orgel zu drehen. Er spielt im Takt der Regentropfen. Frank schließt das Fenster. Es ist wieder still.

Am Fenster gegenüber ein Gesicht. Frank weiß sofort, dass es die Frau ist. Sie blickt zu ihm herüber. Sie rührt sich nicht, winkt nicht, steht einfach da und sieht ihn an. Frank tritt etwas näher ans Fenster heran und betrachtet das Gesicht. Die Augen sind zwei schwarze Punkte. Zwischen den Häusern ist der Regen wie ein Schleier.
Sie tut es ihm gleich und macht auch einen Schritt auf das Fenster zu. Langsam hebt sie die Hand und berührt die Scheibe mit den Fingerspitzen.

Irgendwann dreht sie sich um und geht in eines anderes Zimmer. Kurz darauf ist sie wieder da und stellt einen kleinen Regenbogen aus Pappe ans Fenster. Ein flüchtiges Lächeln. Die Sonne spiegelt sich auf ihrem Gesicht. Die Sonne ist nicht zu sehn.

Dann ist die Frau wieder fort. Der Blinde spielt immer noch auf seiner Orgel. Frank lauscht. Die Melodie klingt fern und dumpf. Er öffnet das Fenster und sieht den Blinden auf der anderen Straßenseite. Er steht an derselben Stelle wie zuvor. Ein kleines Vordach schützt ihn vor dem Regen. Er ist allein. Frank kann keine weiteren Leute sehen. Hin und wieder streift ein Schatten die Schaufenster. Jedesmal, wenn einer davon über das Gesicht des Orgelspielers gleitet, lächelt er freundlich und bietet seinen Korb mit Losen an. Frank sieht, dass die Schatten von Wolken geworfen werden.

Er macht das Fenster etwas weiter auf. „Es ist niemand hier“, ruft er „Niemand wird ihre Lose kaufen.“ Der Regen trommelt weiter auf das Pflaster. Der Blinde hält kurz inne und hebt den Kopf. Dann fängt er wieder an zu spielen. Frank versucht es noch einmal. Diesmal unterbricht der Blinde sein Spiel nicht. Frank schließt das Fenster wieder. Eine Weile sieht er dem Orgelspieler noch zu, dann schaltet er das Radio ein.

Das Radio erzählt von Dingen wie Glück. Frank schaltet es aus. Er tritt wieder ans Fenster und blickt hinaus. Im Haus gegenüber regt sich nichts. Der Regenbogen aus Pappe ist verschwunden. Frank starrt eine Weile auf die Fensterscheibe vor seinem Gesicht. Die Regentropfen zerschellen lautlos an dem Glas. Dann fällt sein Blick wieder auf den Orgelspieler. Der Korb mit den Losen ist nicht mehr da. Frank blinzelt. Auf dem Kasten steht ein kleiner Regenbogen aus Pappe.
Frank holt seinen Mantel.

Es ist kurz nach elf Uhr. Draußen regnet es.
In den Schaufenstern ist Frühling.

 

Hallo Wolkenkind!

Einfache Worte, aebr damit hast Du wunderschön erzählt. Von Dingen wie Liebe und Glück, vom Regenbogen, der Selbst bei Regen Sonne bringt, und der Frank dazu bringt, seine Haltung neu zu bestimmen. Hat mir sehr, sehr gut gefallen! Nicht nur in den Schaufenstern, auch in den Herzen wird es Frühling

„Unter ihm werden werden letzte Einkäufe erledigt“ werden

Schöne Grüße, Anne

 

Mein Lieblingssatz in diesem Text:

,Dächer verirren sich in Wolken und an der nächsten Straßenecke ist der Horizont.'

Ein wunderbarer Text, wolkenkind.
Einfach, klar, wesentlich. Ganz toll.

Liebe Grüße - Aqua

 

Servus Wolkenkind!

Was soll ich sagen, deine Erzählweise ist etwas völlig Neues für mich und großartig in ihrer Eigenart. Man hat das Gefühl, dir scheint jeder Perspektivenwechsel, jede kleinste Veränderung in ihrer Einzigartigkeit möglich. Das Glück durch das Los kauft keiner, es regnet. Das Reden über Glück im Radio wird weggeschaltet.

Und ganz nebenbei wird es gelebt.

Klasse :thumbsup:

Lieben Gruß - Eva

 

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