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Früher Schnee
Wann endet ein Leben, wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es noch schlägt? (Bodo Kirchhoff, Verlangen und Melancholie)
Den Kopf muss ich einziehen, um hinaustreten zu können. Vor meiner Hütte ist ein kleiner, in den vielen Jahren festgetretener Bereich, beinahe eine Veranda, im Sommer habe ich dort Schatten, in den langen Wintern eine weite Sicht, Patti hätte das gefallen. Ich strecke mich und spüre dabei die Platten und Schrauben, die ich seit dem Unfall in mir trage. Schlafen kann ich nur auf der rechten Seite, links ist die Haut zu sehr vernarbt. An Tagen, an denen die Luft hier oben so wie heute nach kommendem Schnee schmeckt, habe ich meinen Sohn vor Augen, rauchend, mit seinem grau-schwarzen Rucksack zwischen den Beinen. Es schneite auch an dem Tag, an dem ich ihn das letzte Mal sah. Philip war damals 16 Jahre alt, in der vorletzten Woche war sein 40. Geburtstag.
Diesen einen Tag, meinen ersten, von dem an ich kaum noch mit jemandem sprach, kann ich in meiner Erinnerung abrufen, als wäre er gestern gewesen.
Es sollte nur eine Übergangslösung sein, weit weg von allem, am anderen Ende der Stadt, mein Freund Moritz hatte sich gekümmert. Die Haustüre war so verzogen, dass sie immer offen stand, den Schlüssel fand ich im Kohlenkeller links am Holzpfosten hängend.
Die Kälte war die ganze Nacht über in mich hinein gekrochen und hatte sich vollständig in mir ausgebreitet. Sogar meine Augen taten mir weh, so wie als Kind, als ich das Eis immer im Ganzen vom Stiel abgebissen hatte und im Mund schmelzen ließ. Ich sehe mich an der dünnen Fensterscheibe lehnen und die Nacht über mit dem Kopf rollen, von rechts nach links und von links nach rechts, ich spüre noch heute die Unebenheiten des Knochens auf dem kalten, glatten Glas. Einige Zeit vorher, als ich noch Interesse an allem hatte, las ich, dass der Stirnknochen der stärkste Knochen im menschilchen Körper ist, vermutlich hätte ich die Scheibe mit dem Kopf eindrücken können, das warme Blut tat meinem Gesicht vielleicht gut.
Am Fenster lehnend, kam mir eine Zeile in den Sinn, die Patti in einer ihrer ersten Kurzgeschichten geschrieben hatte: „Schnee ist die einzige Stille, die man sehen kann.“
Es würde an diesem Tag noch schneien, ich war mir sicher, diesen kalten, leicht metallischen Geschmack in der Luft konnte ich schon immer richtig deuten. „Du bist wie ein Indianer“, hatte Johanna, meine Frau, früher manchmal gesagt. Darüber, wie sie es meinte, war ich mir nie richtig im Klaren, liebevoll war es sicherlich nicht.
Die Matratze steckte noch in der Folie, das Bettzeug noch in der Verpackung, Moritz hatte am Tag vorher alles hochgebracht und war dann auf ein Bier geblieben, wir mussten nicht sprechen. Der Kühlschrank aus meiner Studentenzeit brummte wie früher, der Zwei-Platten-Herd darauf war verklebt mit alten Resten, vermutlich Tomatensauce.
Erst kürzlich hatte ich erneut die weiche Haut an der Wunde abgezogen, sie nässte jetzt wieder und das kratzende Reiben des Pullovers an dieser empfindlichen Stelle fühlte sich bei jeder Bewegung richtig an, ich wollte eine körperliche Erinnerung behalten. Auch die Schulter schmerzte damals schon bei jeder Bewegung, das tut mir auch heute noch gut.
Ich nahm, das war an diesem Tag schon fast zehn Jahre her, nur wenig mit aus der Wohnung, die Johannas Vater für sie gekauft hatte, vor allem meine Platten und meine Bücher. Philip war die Lücke im Regal aufgefallen, das war schlimm zu hören, aber, behauptete seine Mutter, es würde ihm an nichts fehlen. Das stimmte nicht, wir wussten es beide, konnten darüber aber nicht sprechen.
Ich wollte hinaus, das Fenster ließ sich nicht schließen und ein schmaler, zugiger Spalt blieb offen. Ich ließ es so, ich würde nicht mehr zurückkehren, Moritz würde das verstehen und sich auch darum kümmern. Die Nebelschwaden kamen noch vom See her und nahmen allem die Konturen, obwohl es schon einige Zeit hell sein sollte. Gerade als ich den See erreichte, fiel auch der Schnee. Die erste Flocke kitzelte leicht an den Wimpern, als sie sich verfing und langsam schmolz, aber ich wollte nicht blinzeln. Ich wollte den Steg noch einmal sehen, er hatte nun ein Geländer und am Ende standen ab Mitte November die Rettungsstangen. Einen Schal hatte ich nicht und den Kragen konnte ich nicht noch weiter hochschlagen. Die Fähre würde gleich kommen, die Wellen schwappten schon über den See. Die beiden 4.000-PS Dieselmotoren waren sein Grundrauschen geworden, allen Protesten der Umweltschützer zum Trotz. Ich hatte auch unterschrieben und war auf zwei Demos mitgegangen, eher Patti zu liebe, mit der ich alles richtig machen wollte.
Fast zwei Jahre nach meinem Auszug, an dem Tag, den ich später für lange Zeit in mich eingeschlossen hatte, war ich mit Johanna auch am See. Es war sehr kalt und diesig, der Horizont ging ohne Anfang in den Himmel über, es würde bald dämmern. Ich wollte mit ihr über Philip sprechen, es war ein Versuch zum Guten, am See und im Gehen sollte es leichter sein, Moritz hatte den Tipp gegeben. Am Abend vorher hatte ich nichts getrunken und ich hatte meinen Zettel mitgenommen, meine Argumente in der richtigen Reihenfolge sollten sie überzeugen: ihr Büro, die vielen Projekte, ihre langen Tage, meine freie Zeit, Philip würde davon profitieren, er wäre bei mir besser aufgehoben. Sie blieb stehen, hatte die Arme vor sich fest verschränkt, sah mit starrem Blick an mir vorbei, griff sich dann an den Schal, ihre Finger waren so angespannt wie ihr Gesicht, sie riss sich mit einem Ruck das Tuch vom Hals, ein Knopf fiel herunter, dann lief sie nach vorn, über den Steg auf das Eis, weil sie Luft brauchte, die sie in meiner Gegenwart nicht bekam, das kannte ich schon von ihr. Es kann nur ein Augenblick gewesen sein, aber in meiner Erinnerung klingt es wie ein defektes Tonbandgerät, das die Geräusche unerbittlich dehnt und nacheinander abspielt: ihre sich entfernenden Schritte, zunächst auf dem Steg, dann auf dem Eis, das trockene Knirschen und ihr kurzes Aufstaunen, das eher ein lautes Einatmen war, das Flattern der Krähen gegen den dunstigen Himmel. Das Eis war an diesem Tag vom Schnee bedeckt, irgendwelche Rettungsgeräte waren nicht zu sehen. Ich ging ihr zaghaft nach, hörte es schon bei den ersten Schritten knirschen und kehrte schnell um, ich wollte nichts riskieren, vielleicht hätte ich es ohnehin nicht geschafft.
Es zog mich weg aus meiner Wohnung noch einmal zum Steg und auch zu der Kreuzung, ich lief einfach, ignorierte die Schmerzen in der Hüfte und dachte nicht nach. Mit dem weiten Blick über den See und den Medikamenten, die ich schon viel zu lange und in viel zu hoher Dosis nahm, hoffte ich, die schummrige Wohligkeit zurückzugewinnen, die ich acht Monate zuvor im Krankenhaus beim Aufwachen gehabt hatte: es war etwas Schreckliches geschehen, aber es entzog sich mir wie damals der Nebel um mich herum, der auch nicht zu greifen war.
Auf meiner Veranda stehend, drücke ich den Rücken durch wie die Indianerfigur, mit der Philip und ich oft gespielt hatten, ich sauge die klare Luft durch die geschlossenen Zähne ein, die in meinem Mund einen metallischen Geschmack annimmt. Der Schnee kommt früh in diesem Jahr.
Ich ging am See vorbei, Schritt für Schritt, die Beine kannten den Weg, die schlaflose Nacht hatte meine Erschöpfung nicht weiter gesteigert, aber die dunstige Helligkeit tat mir in den Augen weh. Durch eine Laune des Schicksals war die Stelle, an der es geschehen war und alles endete, auch die Stelle, an der alles begonnen hatte. Als ich ankam, war alles zurück. Natürlich war die Straße gereinigt worden und in den letzten Wochen waren tausende Autos achtlos vorübergefahren.
Patti hatte es immer für Bestimmung gehalten, unser zufälliges erstes Treffen, sie mit dem Rad an der Ampel, ich vor ihr über die Straße gehend, die Tüte mit Philips Osternest, das er im Kindergarten gebastelt hatte, reißt, sie lacht und hilft mir beim Aufsammeln. Ich hatte ihn wie jeden Morgen in der Sonnengruppe gleich neben dem Schulzentrum gegenüber abgegeben, Johanna arbeitete zu dieser Zeit immer lang, sie hatten eine Deadline für die Planung der neuen Stadtbücherei, daher musste ich mich um nichts kümmern. Patti machte einfach blau, das gefiel mir. Ich hatte dieses Ziehen oft gespürt, vorher, als alles noch so geregelt war, das mich dorthin lockte, wo es sich lebendig anfühlte, so wie sie sich für mich an diesem Tag anfühlte. Wir gingen gemeinsam über den Trödelmarkt, sie überredete mich zu einer Lederjacke, obwohl ich kein Motorrad hatte, und wir tranken am Vormittag Pernod.
Für die Scheidung hatte Johannas Vater alle Mittel aufgeboten. Diese quälenden eineinhalb Jahre hielt ich mich von allem fern. Patti, Tequila, der Rotwein von Moritz und sein Gästebett waren meine ganze Welt geworden. Es gab Situationen, die nicht gut für Philip waren, ich hatte mich nicht richtig gekümmert, Johanna war immer die Stärkere gewesen. Der Entzug des Umgangsrechts war gerechtfertigt, sie wollten ihn schützen, das hatte Moritz mir erklärt, ich hatte es verstanden.
Patti und ich, wir waren eine ganzes Wochenende allein auf dem Weingut gewesen, waren satt von der Natur, wir waren erfüllt von uns. Ein stilles Einvernehmen, synchron schwingend in unserer Wahrnehmung des Außen und damit auch im Inneren verbunden. Ich hatte das vermisst mit Johanna, aber ich hätte es damals nicht benennen können. Es war eine spontaner Gedanke auf der Rückfahrt, schon fast in der Stadt angekommen, dass ich den eingeschlossenen Tag mit Johanna am See aus mir herauslassen wollte, dass ich versuchen sollte, Patti in die Entscheidung dieser Sekunde einzubeziehen, wie sie für mich damals klar auf der Hand lag: Nicht alles zu tun, um Johanna zu retten, sollte unsere Rettung sein, war die Chance, die Dinge für uns, für sie, für mich und für Philip zum Guten zu wenden. Schon am Anfang merkte ich, dass ich die Worte nicht traf, die Sätze keinen Sinn machten und ohne Halt in der Luft hingen. Ich rang mit den Begriffen, wurde immer schneller, immer eindringlicher, immer weniger überzeugend. Ich hörte auf zu reden, lenkte das Auto an die Bushaltestelle vor der Schule und sah sie flehend an. Nach Pattis stillem Entsetzen, das für fast eine Minute ihren ganzen Körper erstarren ließ, war es dann eine einzige fließende Bewegung, das Lösen des Gurtes, das Öffnen der Beifahrertür, und ihr Rennen hinter dem Auto auf die Straße, das erschreckte Hupen des LKW, das auch das Bremsen und den Aufprall übertönte. Den Bruch des Beckens spürte ich direkt, obwohl es zunächst nicht schmerzte, den tiefen Schnitt in der Seite und den ausgekugelten Arm erst, als ich mich auf dem Asphalt von der Trage aufrichten wollte. Patti lag neben mir, ihre Stiefel ragten als einziges unter der Abdeckung hervor.
Ich ging über die Kreuzung bis zum Zaun, Hunderte Schüler in der großen Pause, Philip stand mit seinem Rucksack zwischen den Beinen bei seinen Freunden und rauchte, seine Haare waren länger geworden, er sah unbeschwert aus, das hatte ich nicht erwartet. Nachdem die Zeit abgelaufen war und ich ihn hätte sehen dürfen, hatte mir der Anwalt meiner ehemaligen Schwiegereltern, die jetzt das Sorgerecht hatten, in seinem Namen geschrieben, dass er keinen Kontakt wünschte. Ich verstehe das, sie war ja seine Mutter.
Ich schreibe ihm seitdem in jedem Jahr. Die ersten Briefe kamen noch ungeöffnet zurück, die Mühe hat er sich später nicht mehr gemacht. Hier oben muss ich nicht weiter warten, niemand weiß, wo ich bin, einen Briefkasten habe ich nicht.
Das Holz wird kaum für den gesamten Winter reichen, ich sollte in den Wald gehen, bevor der Schnee kommt. Das Holzhacken tut mir gut, meine Schulter sticht noch immer bei jedem Schlag. In diesen Momenten bin ich mit mir im Reinen.