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Früher Schnee

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29.06.2018
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Früher Schnee

Wann endet ein Leben, wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es noch schlägt? (Bodo Kirchhoff, Verlangen und Melancholie)

Den Kopf muss ich einziehen, um hinaustreten zu können. Vor meiner Hütte ist ein kleiner, in den vielen Jahren festgetretener Bereich, beinahe eine Veranda, im Sommer habe ich dort Schatten, in den langen Wintern eine weite Sicht, Patti hätte das gefallen. Ich strecke mich und spüre dabei die Platten und Schrauben, die ich seit dem Unfall in mir trage. Schlafen kann ich nur auf der rechten Seite, links ist die Haut zu sehr vernarbt. An Tagen, an denen die Luft hier oben so wie heute nach kommendem Schnee schmeckt, habe ich meinen Sohn vor Augen, rauchend, mit seinem grau-schwarzen Rucksack zwischen den Beinen. Es schneite auch an dem Tag, an dem ich ihn das letzte Mal sah. Philip war damals 16 Jahre alt, in der vorletzten Woche war sein 40. Geburtstag.
Diesen einen Tag, meinen ersten, von dem an ich kaum noch mit jemandem sprach, kann ich in meiner Erinnerung abrufen, als wäre er gestern gewesen.
Es sollte nur eine Übergangslösung sein, weit weg von allem, am anderen Ende der Stadt, mein Freund Moritz hatte sich gekümmert. Die Haustüre war so verzogen, dass sie immer offen stand, den Schlüssel fand ich im Kohlenkeller links am Holzpfosten hängend.
Die Kälte war die ganze Nacht über in mich hinein gekrochen und hatte sich vollständig in mir ausgebreitet. Sogar meine Augen taten mir weh, so wie als Kind, als ich das Eis immer im Ganzen vom Stiel abgebissen hatte und im Mund schmelzen ließ. Ich sehe mich an der dünnen Fensterscheibe lehnen und die Nacht über mit dem Kopf rollen, von rechts nach links und von links nach rechts, ich spüre noch heute die Unebenheiten des Knochens auf dem kalten, glatten Glas. Einige Zeit vorher, als ich noch Interesse an allem hatte, las ich, dass der Stirnknochen der stärkste Knochen im menschilchen Körper ist, vermutlich hätte ich die Scheibe mit dem Kopf eindrücken können, das warme Blut tat meinem Gesicht vielleicht gut.
Am Fenster lehnend, kam mir eine Zeile in den Sinn, die Patti in einer ihrer ersten Kurzgeschichten geschrieben hatte: „Schnee ist die einzige Stille, die man sehen kann.“
Es würde an diesem Tag noch schneien, ich war mir sicher, diesen kalten, leicht metallischen Geschmack in der Luft konnte ich schon immer richtig deuten. „Du bist wie ein Indianer“, hatte Johanna, meine Frau, früher manchmal gesagt. Darüber, wie sie es meinte, war ich mir nie richtig im Klaren, liebevoll war es sicherlich nicht.
Die Matratze steckte noch in der Folie, das Bettzeug noch in der Verpackung, Moritz hatte am Tag vorher alles hochgebracht und war dann auf ein Bier geblieben, wir mussten nicht sprechen. Der Kühlschrank aus meiner Studentenzeit brummte wie früher, der Zwei-Platten-Herd darauf war verklebt mit alten Resten, vermutlich Tomatensauce.
Erst kürzlich hatte ich erneut die weiche Haut an der Wunde abgezogen, sie nässte jetzt wieder und das kratzende Reiben des Pullovers an dieser empfindlichen Stelle fühlte sich bei jeder Bewegung richtig an, ich wollte eine körperliche Erinnerung behalten. Auch die Schulter schmerzte damals schon bei jeder Bewegung, das tut mir auch heute noch gut.
Ich nahm, das war an diesem Tag schon fast zehn Jahre her, nur wenig mit aus der Wohnung, die Johannas Vater für sie gekauft hatte, vor allem meine Platten und meine Bücher. Philip war die Lücke im Regal aufgefallen, das war schlimm zu hören, aber, behauptete seine Mutter, es würde ihm an nichts fehlen. Das stimmte nicht, wir wussten es beide, konnten darüber aber nicht sprechen.
Ich wollte hinaus, das Fenster ließ sich nicht schließen und ein schmaler, zugiger Spalt blieb offen. Ich ließ es so, ich würde nicht mehr zurückkehren, Moritz würde das verstehen und sich auch darum kümmern. Die Nebelschwaden kamen noch vom See her und nahmen allem die Konturen, obwohl es schon einige Zeit hell sein sollte. Gerade als ich den See erreichte, fiel auch der Schnee. Die erste Flocke kitzelte leicht an den Wimpern, als sie sich verfing und langsam schmolz, aber ich wollte nicht blinzeln. Ich wollte den Steg noch einmal sehen, er hatte nun ein Geländer und am Ende standen ab Mitte November die Rettungsstangen. Einen Schal hatte ich nicht und den Kragen konnte ich nicht noch weiter hochschlagen. Die Fähre würde gleich kommen, die Wellen schwappten schon über den See. Die beiden 4.000-PS Dieselmotoren waren sein Grundrauschen geworden, allen Protesten der Umweltschützer zum Trotz. Ich hatte auch unterschrieben und war auf zwei Demos mitgegangen, eher Patti zu liebe, mit der ich alles richtig machen wollte.
Fast zwei Jahre nach meinem Auszug, an dem Tag, den ich später für lange Zeit in mich eingeschlossen hatte, war ich mit Johanna auch am See. Es war sehr kalt und diesig, der Horizont ging ohne Anfang in den Himmel über, es würde bald dämmern. Ich wollte mit ihr über Philip sprechen, es war ein Versuch zum Guten, am See und im Gehen sollte es leichter sein, Moritz hatte den Tipp gegeben. Am Abend vorher hatte ich nichts getrunken und ich hatte meinen Zettel mitgenommen, meine Argumente in der richtigen Reihenfolge sollten sie überzeugen: ihr Büro, die vielen Projekte, ihre langen Tage, meine freie Zeit, Philip würde davon profitieren, er wäre bei mir besser aufgehoben. Sie blieb stehen, hatte die Arme vor sich fest verschränkt, sah mit starrem Blick an mir vorbei, griff sich dann an den Schal, ihre Finger waren so angespannt wie ihr Gesicht, sie riss sich mit einem Ruck das Tuch vom Hals, ein Knopf fiel herunter, dann lief sie nach vorn, über den Steg auf das Eis, weil sie Luft brauchte, die sie in meiner Gegenwart nicht bekam, das kannte ich schon von ihr. Es kann nur ein Augenblick gewesen sein, aber in meiner Erinnerung klingt es wie ein defektes Tonbandgerät, das die Geräusche unerbittlich dehnt und nacheinander abspielt: ihre sich entfernenden Schritte, zunächst auf dem Steg, dann auf dem Eis, das trockene Knirschen und ihr kurzes Aufstaunen, das eher ein lautes Einatmen war, das Flattern der Krähen gegen den dunstigen Himmel. Das Eis war an diesem Tag vom Schnee bedeckt, irgendwelche Rettungsgeräte waren nicht zu sehen. Ich ging ihr zaghaft nach, hörte es schon bei den ersten Schritten knirschen und kehrte schnell um, ich wollte nichts riskieren, vielleicht hätte ich es ohnehin nicht geschafft.
Es zog mich weg aus meiner Wohnung noch einmal zum Steg und auch zu der Kreuzung, ich lief einfach, ignorierte die Schmerzen in der Hüfte und dachte nicht nach. Mit dem weiten Blick über den See und den Medikamenten, die ich schon viel zu lange und in viel zu hoher Dosis nahm, hoffte ich, die schummrige Wohligkeit zurückzugewinnen, die ich acht Monate zuvor im Krankenhaus beim Aufwachen gehabt hatte: es war etwas Schreckliches geschehen, aber es entzog sich mir wie damals der Nebel um mich herum, der auch nicht zu greifen war.
Auf meiner Veranda stehend, drücke ich den Rücken durch wie die Indianerfigur, mit der Philip und ich oft gespielt hatten, ich sauge die klare Luft durch die geschlossenen Zähne ein, die in meinem Mund einen metallischen Geschmack annimmt. Der Schnee kommt früh in diesem Jahr.
Ich ging am See vorbei, Schritt für Schritt, die Beine kannten den Weg, die schlaflose Nacht hatte meine Erschöpfung nicht weiter gesteigert, aber die dunstige Helligkeit tat mir in den Augen weh. Durch eine Laune des Schicksals war die Stelle, an der es geschehen war und alles endete, auch die Stelle, an der alles begonnen hatte. Als ich ankam, war alles zurück. Natürlich war die Straße gereinigt worden und in den letzten Wochen waren tausende Autos achtlos vorübergefahren.
Patti hatte es immer für Bestimmung gehalten, unser zufälliges erstes Treffen, sie mit dem Rad an der Ampel, ich vor ihr über die Straße gehend, die Tüte mit Philips Osternest, das er im Kindergarten gebastelt hatte, reißt, sie lacht und hilft mir beim Aufsammeln. Ich hatte ihn wie jeden Morgen in der Sonnengruppe gleich neben dem Schulzentrum gegenüber abgegeben, Johanna arbeitete zu dieser Zeit immer lang, sie hatten eine Deadline für die Planung der neuen Stadtbücherei, daher musste ich mich um nichts kümmern. Patti machte einfach blau, das gefiel mir. Ich hatte dieses Ziehen oft gespürt, vorher, als alles noch so geregelt war, das mich dorthin lockte, wo es sich lebendig anfühlte, so wie sie sich für mich an diesem Tag anfühlte. Wir gingen gemeinsam über den Trödelmarkt, sie überredete mich zu einer Lederjacke, obwohl ich kein Motorrad hatte, und wir tranken am Vormittag Pernod.
Für die Scheidung hatte Johannas Vater alle Mittel aufgeboten. Diese quälenden eineinhalb Jahre hielt ich mich von allem fern. Patti, Tequila, der Rotwein von Moritz und sein Gästebett waren meine ganze Welt geworden. Es gab Situationen, die nicht gut für Philip waren, ich hatte mich nicht richtig gekümmert, Johanna war immer die Stärkere gewesen. Der Entzug des Umgangsrechts war gerechtfertigt, sie wollten ihn schützen, das hatte Moritz mir erklärt, ich hatte es verstanden.
Patti und ich, wir waren eine ganzes Wochenende allein auf dem Weingut gewesen, waren satt von der Natur, wir waren erfüllt von uns. Ein stilles Einvernehmen, synchron schwingend in unserer Wahrnehmung des Außen und damit auch im Inneren verbunden. Ich hatte das vermisst mit Johanna, aber ich hätte es damals nicht benennen können. Es war eine spontaner Gedanke auf der Rückfahrt, schon fast in der Stadt angekommen, dass ich den eingeschlossenen Tag mit Johanna am See aus mir herauslassen wollte, dass ich versuchen sollte, Patti in die Entscheidung dieser Sekunde einzubeziehen, wie sie für mich damals klar auf der Hand lag: Nicht alles zu tun, um Johanna zu retten, sollte unsere Rettung sein, war die Chance, die Dinge für uns, für sie, für mich und für Philip zum Guten zu wenden. Schon am Anfang merkte ich, dass ich die Worte nicht traf, die Sätze keinen Sinn machten und ohne Halt in der Luft hingen. Ich rang mit den Begriffen, wurde immer schneller, immer eindringlicher, immer weniger überzeugend. Ich hörte auf zu reden, lenkte das Auto an die Bushaltestelle vor der Schule und sah sie flehend an. Nach Pattis stillem Entsetzen, das für fast eine Minute ihren ganzen Körper erstarren ließ, war es dann eine einzige fließende Bewegung, das Lösen des Gurtes, das Öffnen der Beifahrertür, und ihr Rennen hinter dem Auto auf die Straße, das erschreckte Hupen des LKW, das auch das Bremsen und den Aufprall übertönte. Den Bruch des Beckens spürte ich direkt, obwohl es zunächst nicht schmerzte, den tiefen Schnitt in der Seite und den ausgekugelten Arm erst, als ich mich auf dem Asphalt von der Trage aufrichten wollte. Patti lag neben mir, ihre Stiefel ragten als einziges unter der Abdeckung hervor.
Ich ging über die Kreuzung bis zum Zaun, Hunderte Schüler in der großen Pause, Philip stand mit seinem Rucksack zwischen den Beinen bei seinen Freunden und rauchte, seine Haare waren länger geworden, er sah unbeschwert aus, das hatte ich nicht erwartet. Nachdem die Zeit abgelaufen war und ich ihn hätte sehen dürfen, hatte mir der Anwalt meiner ehemaligen Schwiegereltern, die jetzt das Sorgerecht hatten, in seinem Namen geschrieben, dass er keinen Kontakt wünschte. Ich verstehe das, sie war ja seine Mutter.
Ich schreibe ihm seitdem in jedem Jahr. Die ersten Briefe kamen noch ungeöffnet zurück, die Mühe hat er sich später nicht mehr gemacht. Hier oben muss ich nicht weiter warten, niemand weiß, wo ich bin, einen Briefkasten habe ich nicht.
Das Holz wird kaum für den gesamten Winter reichen, ich sollte in den Wald gehen, bevor der Schnee kommt. Das Holzhacken tut mir gut, meine Schulter sticht noch immer bei jedem Schlag. In diesen Momenten bin ich mit mir im Reinen.

 

Herzlichen Dank liebe Ronja für die umfangreiche Kritik :-)

Probleme hatte ich damit, dass du mir anfangs zu viele Namen präsentiert hast. Da kam ich leicht ins Schleudern. Wir haben auf der ersten Seite: Patti (wenn das der Spitzname von Patricia ist, würde ich mich für einen Namen entscheiden), Patricia, Moritz, Philip, Johanna. Da muss ich mich anstregen, um mir alle zu merken.

OK - da werde ich straffen.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass du zu viele Infos eingestreut hast, die nicht unbedingt, für die Geschichte wichtig sind. Muss ich als Leser wissen, dass das Haus vom Vater gekauft wurde?
Diese Info würde ich auch streichen, weil es mMn nach keine tragende Rolle spielt. Falls doch, lass es mich wissen. Auch die Erwähnung des Anwalts würde ich herausnehmen.

Das ist m.E. wichtig, weil es zeigen soll, dass der Ich-Erzähler noch nie einen richtigen Stand bei Johanna hatte: sie arbeitet als Architektin, er ist Hausmann, ihre Familie hat Geld, er nicht etc. Das sollte ein wichtiges Motiv sein.

Etwas kritisch sehe ich auch die Rückblicke. Davon hast du viele im Text und die stören den Lesefluss in meinen Augen.

Das ist alles richtig, die Geschichte wird aber 24 Jahre später erzählt und dort auf mehreren Zeitebenen. Das ist auch nicht alles linear erzählt, sollte es auch bewusst nicht.

Leider habe ich nicht verstanden, wie der Unfall passiert ist und ob bzw. wer gestorben ist. Kann sein, dass ich eine lange Leitung habe und andere sofort verstehen, was passiert ist. Mich hinterlässt du etwas ratlos.

Gestorben ist Patti, für die der Erzähler Johanna nicht gerettet hat. Sie springt nach diesem Geständnis aus dem Auto und wird überfahren. Wennn das noch zu unklar ist muss ich nochmal ran.


Ganz viel Danke und herzliche Grüße

MarcCaesar

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola MarcCaesar,

willkommen im Forum! Du schreibst in Deinem knappen Profil:

Ich schreibe erst seit kurzer Zeit ...
und ich staune über die Qualität Deines Textes. Oder sind ‚kurze Zeit’ zwei, drei Jahre?

Einerlei, ich jedenfalls werde an Deinem Text nicht herumkritteln, weil ihn ich gut finde, so wie er ist. Ich habe den Eindruck, Du hast viel Zeit investiert – und das ist im Allgemeinen viel zu selten der Fall.
Und eben, weil der Text so gründlich gearbeitet ist, respektiere ich gern jede Zeile, die demzufolge vom Autor genau so und nicht anders gewollt ist.
Viele Details hast Du eingebracht, sicherlich ist Autobiographisches mit dabei.

Deine Geschichte hat mich sehr angesprochen, auch den Titel finde ich passend.

„Schnee ist die einzige Stille, die man sehen kann.“
Sehr schön.

Schade, dass Dir nicht mehr Mitglieder geschrieben haben, möglicherweise ist manchen die Erzählung zu weitausholend, weil sie kürzere Texte bevorzugen. Das muss aber nicht heißen, dass Du den Text kürzen sollst, sondern eher überlegen, ob das Format ‚Kurzgeschichte’ das richtige für Dich ist. Ein kleiner Trost: Es gibt KGs, die bekommen viele Kommentare, nur sind diese nicht immer überschwängliches Lob:shy:.

Sehr gern gelesen!
José

PS:
... das Eis immer im Ganzen vom Stil abgebissen ...

 

Ganz herzlichen Dank josefelipe für Deine liebe Ermutigung.

Eisstiele werden tatsächlich mit ie geschrieben :-)

 

Hallo MarcCaesar,

herzlich willkommen!

Mir gefällt dein Einstand ganz gut, auch wenn ich nicht alles beim ersten Lesen verstanden habe. Insbesondere die unterschiedlichen Frauen und Zeiten haben mich verwirrt.

Wann endet ein Leben, wenn das Herz nicht mehr schlägt oder es sinnlos erscheint, dass es noch schlägt? (Bodo Kirchhoff, Verlangen und Melancholie)
Schöner Spruch, kann meiner Meinung nach aber weg. Lieber direkt in die Geschichte einsteigen.

Den Kopf muss ich einziehen, um heraustreten zu können.
Müsste es nicht hinaustreten heißen?

Der erste Absatz gefällt mir eigentlich ganz gut, obwohl er mir fast ein wenig zu voll ist. Man erfährt, dass der Erzähler einen Unfall hatte. Patti lebt wohl nicht mehr. Kontakt zu seinem Sohn besteht schon lange nicht mehr. Ich finde, die Info über den Sohn ist dort zu viel, lieber hätte ich noch etwas über Patti erfahren und erst später etwas über den Sohn.

Die Kälte war die ganze Nacht über in mich hinein gekrochen und hatte sich vollständig in mir ausgebreitet.
Wuuahh, ich kenne und hasse es ...

als ich das Eis immer im Ganzen vom Stil abgebissen hatte
Stiel

auf dem kalten glatten Glas
Komma nach kalten

Ich hatte einige Zeit vorher, als ich noch Interesse an allem hatte, gelesen, dass der Stirnknochen der stärkste Knochen überhaupt ist, vermutlich hätte ich die Scheibe mit dem Kopf eindrücken können, das warme Blut hätte meinem Gesicht vielleicht gut getan.
Hier kann man kürzen. In etwa so:
Ich hatte gelesen, dass der Stirnknochen der stärkste Knochen überhaupt sei, vermutlich hätte ich die Scheibe mit dem Kopf eindrücken können, um mit dem warmen Blut mein Gesicht zu wärmen.
So wird auch das doppelte hätte vermieden.

Der Vermieter hatte den Schlüssel im Kohlenkeller links an den Holzpfosten gehängt, wie die beiden es abgesprochen hatten, die Haustüre war so verzogen, dass sie ohnehin immer offen stand.
Im Satz vorher hast du auch schon „hatte“. Vielleicht kann man weitere vermeiden?
Der Schlüssel hing wie abgesprochen im Kohlenkeller links an den Holzpfosten, die Haustüre war so verzogen, dass sie ohnehin immer offen stand.

Am Fenster lehnend kam mir eine Zeile in den Sinn
Mir ist nicht klar, wann er an dem Fenster lehnt. Ist das zu dem Zeitpunkt, an dem er in die Notwohnung kommt? Dann würde ich keine Leerzeile machen.

„Schnee ist die einzige Stille, die man sehen kann.“
Das ist schön.

„Du bist wie ein Indianer“ hatte Johanna, meine Frau, einmal gesagt.
Aber Johanna ist die Exfrau nicht wahr? Es hat mich verwirrt, dass hier Frau steht, so als ob sie noch zusammen wären.

Der alte Kühlschrank aus meiner Studentenzeit brummte wie früher, der Zwei-Platten-Herd darauf war verklebt mit alten Resten, vermutlich Tomatensauce.
Einmal alt bitte streichen oder ersetzen.

Erst kürzlich hatte ich erneut die weiche Haut an der Wunde abgezogen, sie nässte jetzt wieder und das kratzende Reiben des Pullovers an dieser empfindlichen Stelle fühlte sich bei jeder Bewegung richtig an. Ich hatte die Wunde noch nie richtig verheilen lassen, ich wollte eine körperliche Erinnerung behalten. Auch die Schulter schmerzte damals schon bei jeder Bewegung, das tut mir auch heute noch gut.
Den ersten Satz finde ich richtig gut, die beiden darauffolgenden schwach, so schwach und wiederholend dass sie die Wirkung des ersten zerstören. Es liest sich, als würdest du dir selbst nicht trauen. Ich habe schon nach dem ersten Satz verstanden. Lass die anderen beiden weg.

Philip war die Lücke im Regal aufgefallen, das war schlimm zu hören,
Wäre es besser gewesen, wenn es Philip nicht aufgefallen wäre?

Das stimmte nicht, wir wussten es beide, konnten darüber aber nicht sprechen.
Warum konnten sie das nicht?

Die erste Flocke kitzelte leicht an den Wimpern als sie sich verfängt und langsam schmilzt, aber ich möchte nicht blinzeln.
Komma nach Wimpern
In diesem Satz wechselt der Absatz auf einmal von Vergangenheit zur Gegenwart.

den ich später für lange Zeit in mich eingeschlossen hatt,
Da fehlt ein e am Ende.

ihr kurzes Aufstaunen
aufstaunen?

Ich konnte das alles zunächst nicht zuordnen.
Kann weg.

die Rettungsstangen, die am Anfang des Winters immer an das Ufer gestellt werden, waren nicht zu sehen
Ich bin mir nicht ganz sicher, was diese Rettungsstangen sind. Schiebt man die übers Eis, um eingebrochene Leute rauszuholen?

Geht Johanna sofort unter und ist verschwunden? Hört man sie nicht rufen?

Mit dem weiten Blick über den See und den Medikamenten
Mit dem weiten Blick über den Medikamenten? :p

Es gab Situationen die nicht gut
Komma nach Situationen

Den Abschnitt in dem er Patti erzählt, dass er Johanna hat sterben lassen, ist dir gut gelungen. Das geht tief und schnell.

Ich gehe über die Kreuzung bis zum Zaun, Hunderte Schüler in der großen Pause, Philip steht mit seinem Rucksack zwischen den Beinen bei seinen Freunden und raucht,
Du schreibst nun in der gegenwart, ich nehm an wir sind am Anfang angekommen und Philip ist vierzig? Was macht er an der Schule? Ist er Lehrer?

In diesen Momenten bin ich mit mir im reinen.
Kann weg.

Beim zweiten Lesen versteht man schon mehr, aber ich finde durch diese komplizierten Zeitsprünge, machst du einiges kaputt. Ich denke du kannst gut schreiben, aber oft stocke ich, überlege. Hä, wann bin ich jetzt. Wer ist wer? Und ist er grad schon geschieden oder nicht? Lebt Johanna noch? Lebt Patti noch? Für mich würde die Geschichte gewinnen, wenn du klarer Strukturieren würdest. Die Geschichte ist schon komplex genug, da musst du nicht noch so ein Rätsel draus machen.

Viel Spaß noch hier und liebe Grüße,
Nichtgeburstatgskind

 

Vielen Dank Nichtgeburtstagskind, ich habe einiges übernommen - anderes bewusst stehen lassen.

Die kleine Geschichte soll sich bewusst nicht so ganz schnell und einfach erklären und ist daher in Teilen nicht linear erzählt.

Das Wort "Aufstaunen" gibt es tatsächlich nicht, ich habe einen Begriff für das stimmhafte Einatmen in einer Schrecksituation gesucht, da habe ich noch nichts gefunden...

Viele Grüße

 

„Wie nun alles stirbt und endet
Und das letzte Lindenblatt
Müd sich an die Erde wendet
In die warme Ruhestatt,
So auch unser Tun und Lassen,
Was uns zügellos erregt,
Unser Lieben, unser Hassen
Sei zum welken Laub gelegt.“*​

Auch die Schulter schmerzte damals schon bei jeder Bewegung, das tut mir auch heute noch gut.

Seltsame Souvenirs sammelt der Mensch …
Aber warum les ich Dein Debüt hierorts?

Weil der Erstling, selbst wenn er nicht perfekt ist, bereits verrät, was in seinem Autor steckt, weitestgehend unbeeinflusst von Dritten, die man sich nicht selbst zum Vorbild ausgesucht hat wie – so darf ich vermuten aufgrund Deines Eingangszitats – etwa Bodo Kirchhoff,

lieber MarcCaesar,

und da kann ich – trotz aller Schwächen wie etwa dem andernorts bereits beklagten Klebens an der Schulgrammatik mit der Herrschaft der Hilfsverben und potentieller Partizipienreiterei, die ja auch eine anderen Krankheit am Anfang der Karriere – der Du überraschenderweise eben nicht unterliegst – der Adjektivitis zuspielt.

Und zwo Dinge vorweg, dass Du schreiben kannst, haben schon Vorredner bescheinigt – aber was wäre das Zwote?

Die nichtlineare Erzählung, der an sich doch die Authentisten anhängen müssten – denn schlägt das wirkliche Leben nicht Haken wie das Kaninchen, hinter dem auf Beutezug wie der dumme Hund die karnivore Zeit herhechelt.

Und wie die Mathematik von ihren weltfremden geradlinigen Modellen auf nichtlineare umsteigen kann, so findet das Hier und Jetzt allein in unseren Schädeln die Erweiterung zur wachsenden Vergangenheit und schrumpfenden Zukunft. Egal, was jetzt kommt - wird was werden mit Deinem Schreiben, selbst wenn wir uns mal aneinander reiben. Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen – wobei ich mir zum Ziel setze, meinen Beitrag nicht länger werden zu lassen als Deinen Muttertext.

Nun kann jedes Hilfsverb auch als Vollverb genutzt werden, wie etwa hier

Ich strecke mich und spüre dabei die Platten und Schrauben, die ich seit dem Unfall in meinem Körper habe.
Es ist nix falsch daran und eine mögliche Formulierung mit „sich befinden“ wäre unendlich schlimmer, als das schlichte „haben“, aber, wie gesagt, „haben“ als Flut kann auch hier schon kanalisiert und aufgefangen werden.
Was hältstu z. B. Von „die ich seit dem Unfall in meinem Körper trage“?

Hier schon lässt sich m. E. Die Zeitform vereinfachen

Es schneite auch an dem Tag, an dem ich ihn das letzte Mal [sah].
Das es eine Rückblende ist, sollte sich jedem ohne zusammengesetzte Zeit erschließen wie auch hier
Diesen einen Tag, meinen ersten, von dem an ich kaum noch mit jemandem [sprach], kann ich in meiner Erinnerung abrufen, als wäre er gestern gewesen.

Dann passiert allerdings etwas, was in der schreibenden Zunft wie der Super-GaU der Verwechselung von das und dass wirkt, die Verwechselung von „lesen“ (Imperativ: lies) und lassen (Prät.: ließ). Da darf ch auch ein wenig an meinen Vorlesern zweifeln ...
Sogar meine Augen taten mir weh, so wie als Kind, als ich das Eis immer im Ganzen vom Stiel abgebissen hatte und im Mund schmelzen lie[ß].

Hier nun
Ich hatte einige Zeit vorher, als ich noch Interesse an allem hatte, gelesen, dass der Stirnknochen der stärkste Knochen ist, vermutlich hätte ich die Scheibe mit dem Kopf eindrücken können, das warme Blut hätte meinem Gesicht vielleicht gut getan.
lässt sich neben dem Kampf wider Hilfsverb und Partizip auch die schwache Klammer („… vorher, …, gelesen) durch einfaches Möbelrücken vermeiden. „Vielleicht“in seiner Unbestimmtheit steckt im Konj. indirekt schon mit drin (und umgekehrt auch) und „guttun“ wird an sich zusammengeschrieben. Der Satz sähe dann etwa so aus (Du entscheidest letztlich, wie er aussehen soll!): „Einige Zeit vorher, als ich noch Interesse für alles hatte/zeigte, las ich, dass … warmes Blut tat vielleicht gut.“

Jetzt folgen zwo strukturell ähnliche Satzanfänge, die Du unterschiedlich behandelst

Am Fenster lehnend kam mir eine Zeile in den Sinn, …
und weiter untern
Auf meiner Veranda stehend, drücke ich den Rücken durch wie die kleine …
Entweder mit oder ohne Komma?

Ich empfehle mit, weil es – so paradox das klingt – Appositionen des Subjektes sind. Möbelrücken verräts: Ich, auf der Veranda stehende, drücke … und mir kam, am Fenster lehnend, eine Zeile in den Sinn

Es würde an diesem Tag noch schneien, ich war mir sicher, …
Warum dann nicht schlicht Futur I oder Konj. I?

„Du bist wie ein Indianer“[,] hatte Johanna, meine Frau, früher manchmal gesagt. Darüber, wie sie es [meinte], war ich mir nie richtig im Klaren [...], liebevoll war es sicherlich nicht.

Hier
Die Matratze war noch in der Folie, Laken und Bettzeug noch in der Verpackung, …
kann das schlichte „war“ nur der Matratze Genüge tun, „Folie, Laken und Bettzeug WAREN noch in ...“ Könnte nicht die „Folie“ auch nur eine „Verpackung“ sein, Du kämst mit dem Anhängen der Pluralendung davon ...

Erst kürzlich hatte ich …
Probier mal selbst ohne PQP, kürzlich macht‘s möglich, behaupt ich mal!

Oder hier:

Ich hatte, das war an diesem Tag schon fast zehn Jahre her, nur wenig mitgenommen aus der Wohnung, die Johannas Vater für sie gekauft hatte, vor allem meine CDs und meine Bücher. Philip war die Lücke im Regal aufgefallen, das war schlimm zu hören, aber, …

Ähnliches lässt auch der Konjunktiv zu, statt

Ich ließ es so, ich würde nicht mehr zurückkehren, Moritz würde das verstehen und sich auch darum kümmern.
„Ich ließ es so, ich würde nicht mehr zurückkehren, Moritz verstünde das verstehen und sich kümmern.“ "Verstünde" zöge ich dem ebenso korrekten "verstände" vor, weil es mit der Zeitlichkeit - der Stunde - spielt.

Hier

Es war am Nachmittag schon sehr kalt und es war diesig, …
kannstu schlicht kürzen „Es war … schon sehr kalt und diesig ...“

Mit dem weiten Blick über den See und den Medikamenten, die ich schon viel zu lange und in viel zu hoher Dosis nahm, hoffte ich, die schummrige Wohligkeit zurück zu gewinnen, …
„zurückgewinnen“ ein Wort (so auch sein Infinitiv)!

Klingt seltsam

..., ich sauge durch die geschlossenen Zähne und gleichzeitig meine Nase den metallisch-kalten Geschmack ein.
Ist Deine Nase separatistisch veranlagt? Der Mund steht für den Geschmack, die Nase für den Geruchssinn, die zwar in der Küche ein Bouquet ergeben, aber doch unterscheidbare, unterschiedliche Erfahrungen sind.

Ich zeig Dir hier nur das nachzutragende Komma an

Durch eine Laune des Schicksals, die niemand glauben würde, hätte ich sie erfunden, war die Stelle, an der es geschehen war und alles geendet hatte[,] auch die Stelle, an der alles begonnen hatte.
Und behaupte mal, da ließe sich einiges straffen ...

Wir gingen gemeinsam über den Trödelmarkt, sie überredete mich zu einer Lederjacke, obwohl ich kein Motorrad hatte[,] und wir tranken am Vormittag Pernod.
(Momentan wird hieorts viel getrunken – die Geschwister Absinth und P.)

Nicht alles zu tun, um Johanna zu retten[,] sollte unsere Rettung sein, war ...

, er sah unbeschwert aus, das habe ich nicht erwartet.
„das hatte ich nicht erwartet“

... warten, niemand weiß[,] wo ich bin, einen Briefkasten habe ich nicht.

„Reiner weißer Schnee, o schneie,
Decke beide Gräber zu,
Dass die Seele uns gedeihe
Still und kühl in Wintersruh!
Bald kommt jene Frühlingswende,
Die allein die Liebe weckt,
Wo der Hass umsonst die Hände
Dräuend aus dem Grabe streckt.“*​

* Gottfried Keller: „Erster Schnee“, Anpassung an die neuere deutsche Rechtschreibung durch mich

Dass nun alles gefunden wäre, kann ich nicht behaupten. Aber 9o % ist ja auch schon ganz manierlich.

So viel oder wenig für heute vom

Friedel,
der morgen evtl. ausfällt, wenn er (natürlich nicht alleine) einen ausgewachsenen Maremmanoa – ein Tier zwischen Teddy und Eisbär und als zentnerschweres Wolfsderivat nicht geeignet, zu den kalten Monden Dante Friedchens Füße zu wärmen – das erste Mal in freier Wildbahn unangeleint laufen lässt. Möge das Dantchen niemals das Viech die Treppe rauf oder runtertragen müssen!

 
Zuletzt bearbeitet:

Viiiiiieeeelen Dank Friedrichard für Deine umfangreichen Anmerkungen, die nicht alle leicht zu lesen aber alle ein Gewinn sind. Bei manchen Fehlern ist es natürlich kaum zu glauben, das ;-) sie immer noch drinstecken, andere haben sich bestimmt noch gutversteckt.

Ich habe fast alle Vorschläge übernommmen, aber manchmal das PQP beibehalten, weil es die Sprachmelodie besser erhält und mir mehr entspricht.

Die einen herzlichen Tag mit Deinem Hund - und Danke auch für Dein Lob, die Ermutigung und die angekündigte Reibung, dafür bin ich ja hier.

 

Ich habe fast alleVorschläge übernommmen, aber manchmal das PQP beibehalten, weil es die Sprachmelodie besser erhält und mir mehr entspricht.

So soll es sein,

lieber MarcCaesar -

und aus Erfahrung weiß ich, dass manche Fluse erst im zehnten Jahr gefunden wird, selbst wenn eine Geschichte nur aus einem Satz besteht.

Tschüss

Friedel

 

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