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Fräulein Eva Christ
Ich sag's euch: Bei uns zu Hause stimmt etwas nicht. Und ich bin mir ganz ganz sicher, dass das mit unserem neuen Gast zu tun hat. Dieser Holländerin oder Deutschen oder woher sie auch immer kommen mag, na ja, Fräulein Eva eben.
Aber ich finde das heraus, so wie die "drei ???", und da wir Mädchen so oder so klüger sind, wahrscheinlich auch noch schneller.
Aber nun mal von Anfang an. Mama sagt immer, ich soll nicht gleich drauflosquatschen, weil sonst gleich gar keiner zuhört. Und höflich sein soll ich auch. Das ist wichtig!
Ich bin Charlotte Neugebauer und das gescheiteste Mädchen der 4a. Sagt zumindest Sabine. Und die muss es wissen, weil sie ja meine Lehrerin ist. Meinen Eltern gehört eine kleine Pension in der Alsterstraße, eigentlich meiner Mama. Der Papa ist fast nie zu Hause, weil er irgendwelchen blöden Leuten in ganz Europa Maschinen verkaufen muss, was im Übrigen gerade jetzt ein ziemlicher Mist ist, da in wenigen Tagen Weihnachten ist und Mama momentan besonders viel zu tun hat.
Aber sie hat ja mich und ich helfe ihr. Nach der Schule gehe ich immer schnurstracks nach Hause, esse mit Mama zu Mittag und die Hausaufgaben sind auch im Nullkommajosef fertig. Wenn mich Mama dann braucht, zum Einkaufen oder zum Zimmer machen, helfe ich ihr. Ansonsten lese ich die "drei ???" oder, falls Mama kurz weg muss, passe ich auf die Pension auf oder versuche, etwas über unsere Gäste herauszubekommen. Vorsichtig natürlich, denn so stark wie Peter Shaw bin ich noch nicht, eher schon wie Justus, obwohl, den kann ich nicht wirklich leiden, weil der gibt immer so viel an. Am liebsten ist mir Bob Andrews, das dritte "?". Meiner Meinung nach müsste er ja das erste sein. Auch wenn er eher schüchtern und tollpatschig ist. Die besten Ideen hat immer er.
Was das alles mit Eva Christ zu tun hat? Das will ich euch ja die ganze Zeit schon sagen, aber ein bisschen muss ich schon erklären, sonst kennt sich ja keiner aus.
Also, das war so: Heuer am 6. Dezember, einen Samstag - ich war gerade mit Bob und Justus auf der Teufelsinsel in Deckung gegangen - rief mich plötzlich Mama. Ich kann euch sagen, ich habe mich erschreckt. Wie auch immer, Mama musste schnell noch Milch und Eier holen und bat mich, aufzupassen. So habe ich mich in unsere "Rezeption" gesetzt - von der Papa immer sagt, sie sei nur ein alter Schreibtisch - und hab die schönen Glitzersterne, die Mama aufgehängt hat, bewundert. Da hat auf einmal ein Glöckchen geklingelt.
Na gut, das ist nichts Besonderes. Das ist bei uns nämlich immer so, wenn wer bei der Tür hereinkommt. Doch normalerweise macht es "Klingkling" und fertig. Diesmal aber "Klingelingeling" und so weiter, aber ganz leise und irgendwie viel weiter weg als sonst. Und da sah ich erstmals Fräulein Eva Christ. Sie ... strahlte ... irgendwie. Doch dank Justus habe ich mich an den Fall mit dem unheimlichen Magier erinnert.
Daraufhin petzte ich einmal kräftig die Augen zu und schaute dann nochmal.
Eva Christ war ... wunderschön. Schöner als Sabine mit ihren lustigen Sommersprossen und sogar schöner als Mama, und das heißt was, sage ich euch. Damit nicht genug. Sie duftete nach Christbäumen.
Nicht so wie mein Tannenduft-Schaumbad oder die Duftkerzen im Frühstücksraum, sondern richtig frisch und stark wie damals, als wir mit dem Förster in einem Winterwald unterwegs waren.
Auch ihr Gewand war wunderschön. Sie trug Stiefel bis zu den Knien, eine Strumphose, 'eindeutig blickdicht', wie Peter grinsend feststellte. Ob Rock oder Kleid, konnte ich nicht genau sagen, da ihre mit einem silbern schimmernden Pelz besetzte blaue Jacke das verdeckte. Auf dem Kopf trug sie eine runde Pelzmütze, unter der goldblonde, lange Haare hervorwellten, die das stupsnasige Gesicht umspielten. Die blauen Augen erinnerten mich an sonnenbeschienenen Schnee und waren schlichtweg der Hammer, wie Peter sagen würde. Papa wahrscheinlich auch.
"Hallo Charlotte. Ihr habt doch noch ein Zimmer frei? Das hätte ich bitte gern."
Sagte sie zu mir und lächelte ein Lächeln, das Bob zum Stottern bringen würde. Wirklich erinnern, was dann passiert ist, kann ich mich nicht. Ich weiß nur, dass ich später festgestellt habe, dass ich höchstpersönlich "Frl. Eva Christ" ins Gästebuch geschrieben habe und das noch in meiner allerschönsten Schrift, die ich nur bei Einträgen in Freundschaftbücher verwende. Und dabei ist mir eingefallen, dass Frl. Eva meinen Namen gewusst hat. Hallo! Also da werden nicht nur die "drei ???" stutzig. Und seit Eva Christ unser Gast ist, stimmt etwas nicht.
Justus, Peter und Bob hatten einmal mit einer Juwelendiebin zu tun, die hypnotisiert hat und ich glaube ja, dass Frl. Eva auch irgend so etwas ist. Doch bevor mir der neunmalkluge Justus reinquatscht, werde ich sie schon finden, die Beweise nämlich. Darum beobachte ich Eva Christ, wann immer mir Zeit bleibt.
Leider leiden sowohl meine Hausaufgaben als auch meine Pflichten Mama gegenüber darunter. Allerdings finden das komischerweise weder Sabine noch Mama schlimm. Sabine glaubt nur, dass ich wegen Weihnachten so aufgeregt bin, weil ich schon auf die Geschenke neugierig bin und so. Alles Blödsinn. Schon seit zwei Jahren weiß ich, dass meine Eltern die Sachen für mich kaufen und sogar, wo sie sie verstecken. Ich wäre wohl eine ganz schrecklich schlechte Detektivin, wenn dem nicht so ist. Aber Mama freut sich immer so, wenn ich ganz überrascht tue - manchmal weint sie sogar ein bisschen. Ach, Mama.
Apropos: Mama hat sich auch verändert, seit Eva Christ im Haus ist. Obwohl momentan superviel zu tun ist, lächelt sie dauernd. Lobt mich fürs Bravsein und behauptet, dass mir das Christkind heuer besonders viel bringen wird. Dabei bin ich nicht wirklich brav momentan. Keine Zeit zum Bravsein.
Brav bin ich momentan nur beim Beobachten von Eva Christ und da passieren schon seltsame Dinge. Bloß, schlau werde ich nicht aus meinen Erkenntnissen. Nicht einmal die "drei ???" helfen mir. Na gut, Bob tröstet mich ab und an und spricht mir Mut zu. Aber sonst? Nichts!
Zum Beispiel sehe ich Eva Christ kürzlich hinter unser Haus gehen, wo zwei verhungerte Bäume winterkarg herumstehen. Dort singt sie dann ein Liedchen in einer mir komplett unbekannten Sprache - holländisch vielleicht - und plötzlich kommen lauter Vögel geflogen, setzen sich auf den Baum und zwitschern mit. Mit Schrecken erinnere ich mich an diese gruseligen Fälle mit Silberschlangen, Geisteraffen und Werwölfen, welche die "drei ???" gelöst haben.
Bin ich doch dann gleich in die Bücherei gegangen und habe nachgeschaut, was das für monströse Vögel sein könnten. Rotkehlchen. Klang allerdings nicht allzu gefährlich, was dort über sie stand. Komisch eigentlich nur, dass sie zu dieser Jahreszeit eher in Südeuropa sein sollten.
Und dann erst die Sache mit dem alten Jochen. Der alte Jochen ist ein Obdachloser mit einem Alkoholproblem, hat mir Papa mal erklärt. Wie auch immer, jedes Jahr spielt er vorm Kaufhaus den Weihnachtsmann, läutet mit einer großen Glocke und verteilt Süßigkeiten an die Kinder. Mir noch nie, weil Mama mich immer an im vorbeizerrt, aber gut, lassen wir das.
Also, der alte Jochen steht da, besser gesagt, wackelt herum und beschimpft laut alle, die an ihm vorbeigehen. Vom Kaufhaus kommt irgend ein Mann gelaufen, der den alten Jochen beruhigen will. Doch was macht der? Nimmt er sich doch glatt die Glocke und will auf den Kaufhausmann hinhauen. Steht auf einmal Frl. Eva vorm Jochen und lächelt. Der starrt sie kurz an, fängt auf einmal zum zittern und weinen an, fällt auf die Knie und klammert sich an ihre Beine. Eva hilft ihm auf, umarmt ihn und küsst ihn - einfach so - muss man sich einmal vorstellen. Na, der alte Jochen beginnt selig zu lächeln, umarmt den Kaufhausmann und entschuldigt sich bei ihm und verteilt weiter Süßigkeiten, als wäre nichts geschehen. Peter Shaw meint ja, dass Eva Christ ein Gangsterboss ist und der Jochen ein Killer, Bob Andrews glaubt eher, dass sich der Jochen verliebt hat. Justus schweigt und denkt hoffentlich nach, wie wir hinter das Geheimnis von Frl. Christ kommen.
Lauter seltsame Sachen also, seit Eva Christ da ist. Zum Beispiel der Schnee. Jedes Mal, wenn Frl. Eva unser Haus verlässt, schneit es. Bitte? Schnee zur Weihnachtszeit! Gibt's doch gar nicht! Aber wie macht sie das nur? Ich werde ihr schon auf die Schliche kommen.
Leute kann sie auch gut beruhigen, muss man ihr lassen. Wir haben da noch einen anderen Gast. Die Frau Wotroff. Immer um diese Zeit besucht sie irgendwelche Verwandte hier in der Stadt. Sie schimpft allerdings den ganzen Tag. Über ihre Verwandten, den Verkehr, das Wetter und überhaupt alles. War auch wieder ganz genau so, wie sie angekommen ist. Doch zufällig geht Frl. Christ mit ihrem tollen Christbaumduft an ihr vorbei - plötzlich fragt Frau Wotroff, ob sie einmal Mamas Küche benützen dürfe, weil sie gerne für ihre lieben Verwandten Kekse backen will. Hat man so etwas schon gehört?
Selbst ich werde komisch. Habe ich doch tatsächlich nach zwei Jahren wieder einmal einen Brief ans Christkind geschrieben, in meiner Freundschaftsbuchschrift noch dazu. Ich habe Justus förmlich den Kopf schütteln sehen. Detektive machen so etwas nicht. Aber das allerschlimmste - der Brief war am nächsten Morgen weg und es hat nach Christbäumen gerochen. Doch was soll Frl. Eva schon mit meinem Wunschzettel anfangen? Schon wieder schüttelt Justus tadelnd den Kopf. So, als würde er mehr wissen. Gibt's doch gar nicht. So ein Angeber - und ein Bub noch dazu.
Leider muss ich jetzt ein bisschen Pause machen beim Beobachten. Papa kommt nämlich schon heute zurück. Drei Tage früher. Das freut mich wirklich sehr. Das habe ich mir sehnlich gewünscht, endlich ist er einmal ein paar Tage länger zuhause.
Danach löse ich das Rätsel um Eva Christ. "???"-Ehrenwort!