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- 21.12.2016
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Formen und Wandlungen eines polnischen Bauarbeiters
In manchen Nächten liege ich wach, und versuche mich an die Ereignisse dieser einen verrückten, traurigen Nacht zu erinnern, an der alles zu Ende ging. Manchmal, wenn ich betrunken bin, gelingt es mir ganz gut, dann kann ich J.s Wimmern hören, gemischt mit der fröhlich jauchzenden Stimme von Calypso Rose, die unglaublich laut aus dem Autoradio schmettert, um das schmerzverzerrte Heulen auf der Hinterbank zu übertönen. Wenn ich mich konzentriere, um die Bilder dieser Nacht aus den dunklen staubigen Schubladen meiner Erinnerungen zu kitzeln, passiert es manchmal, dass ich mir angespannt zu sehr auf die Lippe beiße; Blut mischt sich mit dem bitteren Biergeschmack auf meiner Zunge und ich bin wieder da. Auf dem Rücksitz des Taxi, rasend durch die milde Oktobernacht. Die Straßen sind leer um diese Zeit, unser Wien schläft tief, nur hier und da sausen die Schatten einzelner Nachtschwärmer an uns vorbei, Ratten, Polizeiwagen.
Das Blut war überall auf der Sitzbank, die untere Hälfte meines Kapuzenpullis klebte feucht an meinem Bauch und ich strich sanft über J.s Kopf auf meinem Schoß. Nass und verklebt fielen ihm die blonden Strähnen ins Gesicht, sein Körper vibriert leicht auf meinen Beinen.Wenn ich mich jetzt an diese Taxifahrt erinnere, sehe ich das alles durch einen dunklen milchigen Schleicher, düstere Bilder gefangen auf einem unterbelichteten Analogfilm, weiße Körnung an den Rändern, nur die vorbeiziehenden Straßenlaternen erhellten das Wageninnere für Sekunden.
Silbrig schimmernde Blutstropfen auf dem Sitz – Dunkelheit – das schwitzige, unrasierte Seitenprofil des Taxifahrers, sein angespannter nervöser Blick nach hinten – Dunkelheit – J.s weit aufgerissene Augen, ein rotes Schimmern auf seiner linken Iris – Dunkelheit – J.s schmerzhaft verkniffene Augen, die blutig zerfurchte Stirn – Dunkelheit – Dunkelheit – Dunkelheit...
Ein kühler Luftzug weckt mich. Der geöffnete Laptop auf meinem Bauch strahlt hell und ich brauche einige Sekunden, um die kahlen Umrisse meines Zimmers zu erkennen. Der kaputte Rollladen schlägt krachend gegen den Rahmen des geöffneten Fensters. Ich stolpere benommen darauf zu und trete in etwas nasses. Ich erschrecke kurz, aber es ist nur eine Bierpfütze. Draußen ist es still, ein kalter Oktobermorgen, kälter als in den letzten Tagen und hinter den kleinen Birkenwald, der bereits traurig karg aussieht, kann ich den hellen Dunstschleier des beginnenden Tages sehen. Eine Schar Graugänse fliegt über das Ton gekachelte Dach des Nachbarhauses, ich fliege mit ihnen, in den Süden, sonnengebleichte Adriaküste, Hauptsache weg, weg aus Wien. Ich schließe das Fenster und lege mich wieder ins Bett. Facebook poppt auf, morgendlicher Eskapismus aus meinem trüben Schlafzimmer, lachende Gesichter, Thailand Urlaubsfotos, niedliche Tiere in bunten GIFs, ein wenig Leben erwacht hinter meinen verschlafenen Augen.
Jemand schaltet das Radio in der Küche an, ein schwerfälliger, stampfender Hip-Hop Beat mit gepitchten Geigen-Intro, bevor Bushidos raue, nasale Stimme einsetzt und gegen meine Außenzimmerwand donnert. „Komm in meinen Bezirk, ich jag dich um den Block
Du bist eine Schwuchtel wie Dreck auf dem Boden". Mein Zimmer liegt neben der Küche und gegenüber vom Bad. Ich höre das Kratzen von aufeinandergestapelten Geschirr, jemand duscht, polnische Gesprächsfetzen im Flur. Ich scrolle durch Facebook und dann ist da plötzlich J.s lachendes Gesicht. (Er hat mich vor einiger Zeit geblockt, aber irgendjemand hat sein Profilbild gelikt) Sein Haar hat jetzt eine rötliche Färbung, ein älterer Mann steht neben ihm, drückt ihn an sich, küsst ihn auf den Hals. Ich sehe J.s zarte Grübchen auf den schmächtigen Wangen, und höre seine hohe, kindliche Stimme, sehe den tattoowierten Notenschlüssel hinter seinem linken Ohrläppchen und sehe die Narben, sehe sie nicht, wahrscheinlich hat er sich an diesem Abend geschminkt, aber weiß, dass sie da sind. Ruckartig schließe ich den Laptop und ziehe mir die Decke über den Kopf.
„Hey!...“,das Klopfen an meiner Tür nehme ich jetzt kaum wahr, ein Störgeräusch in weiter Ferne, ich denke an J. und schließe die Augen, fühle nackte Haut, seine weichen Hände auf meiner rauen Brust.
„Fuck!...“
„Ey ... Smarkacz...Ey!"
Das Pochen und Rufen an meiner Tür mischt sich mit der Klospühlung, und dem wütenden Rap aus der Küche. Es klingt weit weg und irgendwie dumpf, ein weißes Rauschen in meinem Ohr, und J.s leises Keuchen in meinem Nacken.
"Aleks hat Job an Land gezogen....6.30 Uhr Station Messe-Prater ... braucht noch jemand ..."
Jemand rüttelt energisch an meiner Zimmertür, doch ich hab sie abgeschlossen. Die Musik in der Küche verstummt abrupt, und die raue, beißende Stimme von Pavel durchschneidet die plötzlich eintretende Stille. Ich zittere ein wenig, die langsamen Bewegungen unter der Bettdecke. Auf und Ab. Gänsehaut, dann feuchte Lacken.
„Ey ... Aleks braucht kräftigen Kerl für Job …sei halb 7 da... kurwa mac!“
Er rüttelt noch ein paar Mal an der Klinke, dann höre ich wie er fluchend die Wohnungstür zuschlägt. J.s Gesicht wird schwächer in meiner Fantasie, verblasst, wie die zarten Eisblumen an meinem Fenster im langsam aufgehenden Sonnenlicht. Meine rechte Hand klebt.
Es war bei Rhinoplasty im Club U, vor zwei Jahren. Ich war neu in Wien, geflohen aus Polen, nicht wirklich geflohen, aber so fühlte ich mich damals, als ich die Rolltreppe zum U-Bahnausgang hochstolperte. Ich hatte mir extra ein enges lila Poloshirt mit V-Ausschnitt und gelbem Kragen gekauft, es spannte ein wenig an der Taille, gab mir aber trotzdem einen Schub Selbstvertrauen. Heute Nacht, das war ein Neuanfang, die neue Stadt, die komische Sprache, ich fühlte mich müde, doch diese Nacht würde etwas ändern, einen Unterschied machen. Als ich mit hastigen Schritten auf die unscheinbare Clubtür in der U-Bahnunterführung zusteuerte, klingelte mein Handy, Lenka, meine Ex-Frau, kurz lähmende Schuldgefühle gefolgt von tiefer Erleichterung, als ich ihren Anruf nach einigen Sekunden entschlossen wegdrückte. Heute Nacht würde ich das hinter mir lassen.
1:24 Uhr. Ich drängte mich zur Bar durch. Der Typ hinter der Theke trug ein zerklüftetes Tüllkleid mit Mesheinsätzen und Spitze, seine barockeske Perücke war leicht verrutscht und in seinem buschig braunen Schnurbart hingen einzelne Glitterstücke. Er zeigte auf mein leeres Wieselburger, ich nickte ihm nur zu, es war bereits mein siebtes Bier. Als mein Blick den Spiegel hinter der Bar streifte, erschreckte mich mein beschämendes Selbstbild. Das lichte blonde Haar auf meinem Kopf stand wild ab und entblösste meine glänzende Halbglatze, und das neue Poloshirt klebte an mir, wie ein nasses Handtuch, tellergroße Schweißflecken zeichneten sich ab.
Hinter mir schoss M.I.A. Papierflugzeuge durch den dunklen Raum, abrupt unterbrochen von einem Spice Girls Remix. Die Musik war so vielschichtig wie das Publikum in der nikotinverhangenen Tanzhölle. Muskelbepackte Männer in schmutzigen Brautkleidern, Lackkostüme mit SS-Mützen, eine korpulente Frau mit einem Liturgisches Gewand, eine weiße Bauta verdeckte ihren Schambereich und ein nacktes Pärchen, unbehelligt zwischen der feiernden Masse. Ich hatte alles trinkend aus meiner Ecke beobachtet, die hippen, schönen Menschen, aufgestylt, selbstsicher. Kurz hatte sich ein älterer Typ mit grauem Halbkranz um seine verschwitzte Platte an meinen Tisch gesetzt, der tätschelte mein Knie und schrie mir durch die Musik ins Ohr, ich verstand ihn nicht, er verstand mich nicht, dann ging er auf die Tanzfläche und ich blieb sitzen.
Als mein Bier alle war, schlürfte ich langsam Richtung Toilette. Ein riesiger Transvestit mit einer rosa Lockenperücke kam krachend aus der Männertoilette und rannte kreischend auf mich zu, als ich ihm auswich, stolperte ich in eine Gruppe junger Typen, die in einer dunklen Nische neben der Klotür rauchten.
„Hey, pass ma auf, Fettarsch!“, schrie mir ein kleiner Kerl mit weißen Feinrippunterhemd und solariumbraunen Teint entgegen. Ein dünner, perfekt getrimmter Schnurrbart wippte über seiner verzogenen Oberlippe. Ich zuckte erschrocken zurück und fühlte das Blut in mein Gesicht schießen.
„Der wollte dir bestimmt nur mal an den Knackarsch fassen“, säuselte ein kräftiger Schwarzer mit zottigem Vollbart und einem goldenen Ray-Ban Gestell auf der Nase.
„Hatte heut bestimmt noch nicht so viel Glück, unsere kleine Prinzessin hier“, fügte er lachend hinzu. Sein Blick taxierte mich spöttisch herablassend, als er seinen Arm um den Hals des Feinripp-Typen schlung.
„Soll halt in diesen schäbigen Sex-Club an der Josefstädter gehen, da hängen doch solche Typen rum!“, erwiderte der kichernd und hatte sich in den Armen seines Freundes schon wieder halb von mir weggedreht, als ich meine Stimme wiederfand und ein gebrochenes „'Tsch-Tschuldigung“ murmelte. Ruckartig drehte er sich wieder zu mir um, trat zwei Schritte auf mich zu und funkelte mich an.
„Ich kenne solche Typen, wie dich“, er war jetzt ganz nah, flüstere fast, ich sah seine münzgroßen Pupillen, winzig kleine Schneeflocken in seinem Nasenhaar, „schmierig und alt, versuchst hier wohl nen kleinen Boy aufzureißen“, er stieß mir vor die Brust, ich sah kurz Wahnsinn in seinen Augen, vielleicht auch nur den Einfluss der Drogen, dann wurde er zurückgezogen. Ein schmächtiger Junge mit blondierten Strähnen, einer abgetragenen Seemannsmütze und einem rosa Blazer schob sich zwischen uns.
„Beruhig dich mal, Ennie, dir darf man ja echt kein Zeug mehr geben, dann wirst du zum totalen Psycho“, sagt er in Richtung des aggressiven Kerls, der ihn nur verächtlich ansah, „der Retter der perversen Schwuchteln, Bravo J.“, zischte, und dann mit seinem Freund Richtung Tanzfläche verschwand.
„So ein aufgeblasener Penner, echt, nur weil er bei Le Moët arbeitet, und ihm dort jeder den Arsch küsst“, sagte der Junge und wandte sich zu mir. Er sah sehr jung aus, hatte etwas Akne auf der Stirn und eine hohe, etwas quietschige Stimme. Obwohl sein Kleidungsstil chaotisch zusammengewürfelt wirkte, verlieh ihm der Blazer etwas Glanzvolles.Wir schauten uns ein paar Sekunden an, seine großen graublauen Augen, ich verlor mich darin und suchte nach Worten, deutschen Worten, sie schwirrten in meinem Kopf, doch ich erwischte sie nicht, dann war der Moment vorbei. Er schaute etwas verlegen zu Boden und meinte, „ ähhm ja, ich muss mal die Anderen suchen gehen, Tschuldigung nochmal, wegen meinem, ähhm, Freund“, er lehnte sich etwas vor, beugte sich hoch, ich schaute auf seine abgetragenen weißen Chucks, er küsste mich zärtlich auf die Wange, dann drehte er sich um und lief in die tanzende Menge.
Mit wackligen Beinen betrat ich die Toilette. Mir war schwindlig. War es das Bier? War es der Junge mit seinen graublauen Augen? Schwankend hielt ich mich am Waschbecken fest, sah meinen verschwitzen hochroten Kopf im Spiegel und fühlte meine feuchten Hände auf dem kalten Porzellan. Alles drehte sich, mein Mund war eine staubige Wüste, ich trank kaltes Wasser vom Hahn, wusch mir das Gesicht, etwas zuckte blitzartig durch meine wirren Gedanken: Ich wollte ihn wiederfinden, den Jungen, schnell! Ich taumelte aus der Toilette, suchte auf der Tanzfläche, doch fand ihn nicht, eine halbe Stunde rannte ich durch die feiernden Gestalten, doch der Junge blieb verschwunden. Egal, na ja fast, dabei war mir war etwas eingefallen, Worte, die Sinn ergaben, aber zu spät. Resigniert ging ich wieder Richtung Bar.
Als ich das neue Bier zu zwei Dritteln ausgetrunken hatte, merkte ich die schleichende Veränderung und wusste es war Zeit. Die Anzeige auf meiner Armbanduhr sah ich nur verschwommen, aber die Uhrzeit war auch egal. Ich wusste was passieren würde, wenn ich blieb, wie ich werden würde. Mein Schalter im Kopf. Wenn es klickte, senkte sich der alles verschluckende schwarze Vorhang. Meine Ex-Frau hat mich gehasst, wenn das passierte – und ich hasste mich auch. Ich musste raus, sofort, weg von Menschen.
Das Bier ließ ich stehen, Richtung Ausgang. Ich streifte zwei, den dritten rempelte ich mit der Schulter ins Kreuz, lief weiter, hörte die Stimme hinter mir, drehte mich um. Die Wut in meinen Adern, eine gewaltige Kugel im Lauf, das heiße Blut ließ meinen Kopf vibrieren, kurz vor der Explosion. Ich hatte die Zügel bereits aus der Hand gegeben.
„Du, kleiner Scheiß...“, zischte es aus meinem Mund und ich starrte in ein bleiches, betroffenes Gesicht mit Hornbrille. An meinem linken Arm ballte sich krampfend die Faust, aber ich erinnerte mich: Raus!
„Kleine Schwuchtel!“, spuckte mein Mund noch wutverzerrt und dann stieß ich glücklicherweise gegen die Tür mit dem neongrünen Ausgangszeichen. Frische Luft füllte meine verrauchten Lungen.
Ein kühler Luftzug weckte mich. Ich lag zusammengekauert unter einer großen Hainbuche, Raureif hatte mein Poloshirt komplett durchnässt, orangefarbene Blätter bedeckten meine Arme und ich fror, als mich die stechenden Kopfschmerzen benommen hochfuhren ließen. Weit weg konnte ich die mechanischen Umrisse des Riesenrads in der schwefelfarbenen Morgendämmerung erkennen, ich musste im hinteren Teil der Prater Au liegen, da wo die Wiesen durch dichten Kastanienbäume zerklüftet und die breite Betonbrücke der A23 den Park teilt. Ich erschreckte kurz, an meiner rechten Faust klebten Blutspritzer, die Mittelhandknochen waren geprellt und dick, Schuldgefühle füllten meinen benebelten Kopf, doch es war zwecklos, ich konnte mich nicht erinnern. Der dunkle Schleier hatte sich gesenkt, als ich aus der Clubtür getreten war, ab da Finsternis, kein Gefühl, keine Erinnerung, nur Leere.
Dunkelheit, oh tiefschwarze Dunkelheit, seit meiner Jugend das selbe Muster: viel Alkohol, dann der Abgrund, Kontrollverlust, oft Gewalt, dann lähmende Schuldgefühle, wenn mir Leute erzählten was ich im Wahn angestellt hatte. Manchmal hatte ich es drauf angelegt, um zu vergessen, dann war es wieder einfach so passiert. Zwei Jahre lief alles gut, hatte ich es geschafft, vielleicht mal ein Glas Wein, ab und zu, jetzt war die Dunkelheit zurückgekehrt. Als ich mit schmerzenden Glieder die Prater Hauptallee hinunter humpelte und mich die irritierten Blicke der eifrigen Morgenjoggern trafen, hasste ich mich selbst, schon viel zu lang war das so, manchmal, wenn ich angetrunken war kamen ein paar Bilder zurück von blutige Gesichter, verschwommene Nächte. Ein geisterhafter Rattenschwanz, immer auf meinen Fersen. Egal jetzt, vielleicht doch nicht; Tränen auf dem feuchten Herbstlaub.
Die nächsten zwei Wochen versuchte ich, die Erlebnisse dieser Nacht bestmöglich zu vergessen. Ich arbeitete hart auf der neue Baustelle im 6.Bezirk, Hermanngasse, Innenhofsanierung, den ganzen Tag schlug ich alten, staubigen Putz von den grauen Mörtelwänden und versuchte, an nichts anderes zu denken. Einmal ging ich mit Pavel und den anderen Jungs sogar in einen Stripclub, vielleicht bringt's was, dachte ich mir, Hauptsache vergessen, ausradieren, nur leichte Abdrücke auf einem weißen Blatt, kaum zu identifizieren. Dann schrieb mir der Junge aus dem Club.
Wir standen an einem Würstelstand in Mariahilf zur Mittagszeit, ich kaute auf der harten Kruste der Mischbrotkante, die bisher traurig neben den Resten meiner Käsekrainer gelegen hatte und verschluckte mich fast, als das Gesicht des Jungen auf meinem Handydisplay flimmerte. Er hatte mich auf Grindr gefunden, und dass er mich auf der Datinapp gefunden hatte, überraschte mich ein haarbreit weniger, als dass er sich überhaupt an mich erinnerte. Ich wischte mir über die schweißnassen, staubverkrusteten Augen und lass verwundert dreimal seine Nachricht: „Hi, wir sind uns doch letztens im Club U begegnet, bei Rhinoplasty. Wie geht’s? :*“. Als Pavel neben mich trat, schloss ich schnell die App und ließ mein Handy in die Tasche meines abgetragenen Blaumanns verschwinden. Den restlichen Tag war ich unkonzentriert und zerstreut, an Arbeit war kaum zu denken, was sollte ich ihm denn antworten?, als ich spätnachts endlich eine Antwort getippt hatte, schickte ich sie mit kindlicher Aufregung und zittrigen Fingern ab.
Er hieß J. und war gerade 19 geworden. Wir hatten uns drei Tage später im Xeno, einer kleinen Bar am Naschmarkt getroffen. Er hatte so direkt und schnell ein Date festgesetzt, dass ich meine Nervosität nur schwer verbergen konnte, als ich mit hochroten Kopf und verschwitztem Blouson-Hemd das schummrige Beisl betrat. Ein paar Momente schaute ich mich suchend in dem verwinkelten Lokal um, erwartete kurz die Enttäuschung, dann hörte ich ein hohes, „Hey, hier!“, vom Tisch an der Fensterfront schräg hinter mir. Im Gegensatz zu unserer ersten Begegnung trug J. ein schlichtes schwarzes Oberteil und ein wenig dezentes Make-up; seine graublauen Augen wirkten riesig, wie Beryll-Varietät Smaragde, funkelnd im Zwielicht des beginnenden Abends. Anfangs redete vor allem er, sprach über sein Studium, seine Freunde, seine Reisen, seine Wohnung, ich spielte nervös mit dem Schlüsselbund unterm Tisch und versuchte ihm zuzuhören, ihm fest in die Augen zu schauen, aber nicht zu lang, nicht psychomäßig anstarren, selbstsicher wirken, abgeklärt, bloß nicht rülpsen, die richtigen deutschen Wörter benutzten und einen erfahrenen Eindruck machen. Als sich die verrauchte Bar langsam leerte, machte ich mir aber keine all zu großen Hoffnungen, was wollte ein junger, hübscher Typ auch mit einem alten, nervösen Bauarbeiter? Ich dachte an meine rauen Hände, mein kahles Zimmer, meine mir fremde Familie in Polen, Lenka, die Kinder. Nichts. Dann küsste er mich.
Die Bedienung war gerade dabei, die Außentische zusammenzuketten und am einzig anderen besetzten Tisch saß ein älteres Bobo-Pärchen über einen summenden Apple MacBook versunken. J. packte mich unerwartet am Hemd, unsere Münder trafen sich, meine steifen Lippen, seine süße warme Zunge, die nach Orange und Weißwein schmeckte. Der goldene Schuss Endorphin in mein verstaubtes Herz. Überrumpelt plumste ich zurück auf meinen Stuhl, kicherte ein wenig, fühlte mich frisch und jung wie ein jungfräuliches Kalb, geflohen vor der Schlachtbank. Alles wirkte mit einem Mal intensiver, schärfer, und ein wolliges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. J. lachte mich an, warm und herzlich, vielleicht eine Spur Kalkül in seinem Gesicht, aber er trat so reif und erfahren auf, dass ich mich mehrmals an diesem Abend wie ein schüchterner, überforderter Teenager fühlte. „Und nun, gehen wir zu mir!“, sagte J. mit fester, bestimmter Stimme.
Ich verliebte mich in ihn, zu schnell, zu tief. Ich versank in seinen graublauen Augen und tauchte nie wieder auf. Er zeigte mir eine Welt, die sich so brutal von meiner bisherigen unterschied, dass mir die Rolle des unerfahrenen Schülers zufiel und J., der süße, junge Student mit der schmächtigen Figur, mein harter, fordernder Lehrer wurde. Er entschied was wir machten und wohin wir gingen, er rannte voraus, energisch und voller Drang, ich folgte mit jungfräulich begierigen Staunen und mach alles mit, ausschweifende Partys, einen Dreier mit einem Studienkollege von ihm, ein anderes Mal mit einem Typ, den er aus Belgien kannte, Sex auf der Clubtoilette, Koks, Nächte ohne Schlaf, Bondageschaukeln und Peitschenschläge, der intensiv stechenden Geruch von Amylnitrit, mehr Sex, weniger Schlaf. Aufgeheizt und high torkelten wir durch Wien, unserem Wien, und alles machte Sinn für den Moment.
Innerhalb eines Monats stellte ich mein Leben radikal um.Ging ins Fitness-Studio und zur Maniküre, ließ mein dünnes Haar behandeln und färbte es rotblond. Piercte meine Ohren, und legte mir kleine goldene Ohrstecker mit Yin und Yang-Muster zu, weil J. sie scharf fand. Ich wollte –musste – alles tun um diesen Junge zu halten, denn er hatte etwas in mir geweckt, das ich unterdrückt hatte, begraben vor Jahren, damals als mich meine Familie drängte Lenka zu heiraten. Die Leute reden über dich, hatten sie gesagt, das muss aufhören. Pavel und die anderen Jungs bekamen mich kaum noch zu Gesicht, ich schlief meistens auswärts, erzählte ihnen irgendwas von einer blonden Kassiererin aus dem 21.Bezirk.
Wenn wir shoppen oder ausgingen, bezahlte meistens ich. Zu seinen Eltern hatten J. gerade keinen Kontakt und sein Studium, die Freunde, Partys fraßen eine Menge Zeit. „Ich würde ja arbeiten, aber das geht sich nie aus, Darling, da müsst ich mich ja klonen“, sagte er manchmal und wir lachten. Sein Lifestyle war schon etwas kostspielig, aber mir machte es nicht aus, ein paar Überstunden zu schieben. Wenn J. mir „Danke, Daddy“ hauchend ins Ohr biss und mir unbemerkt einen Hunderter aus dem Portemonnaie stibitzte, war mir das egal, schließlich schenkte er mir seine Zuneigung, was machte da schon ein wenig Geld. So lebten wir dahin, ich liebestrunken und blind, die drohende Abwärtsspirale unter mir, nichts ahnend, öffnete ihren riesig dunklen Schlund, und sollte mich bald grausam verschlingen.
Wir waren gerade von einem Wochenende in Berlin zurück, eine Reihe schweisnasser dunstverhangener Nächte, als ich mir auf der Baustelle tief in die Hand sägte. Ein süßer Tagtraum war es, J. nackter Körper, dann viel Blut, Krankenhaus und eine hässliche Zwölf-Stiche-Naht auf meinem rechten Handrücken. Mindestens einem Monat war ich arbeitslos und da ich schwarz gearbeitet hatte, kein Anspruch auf Krankengeld. Als ich J. geknickt aus dem Krankenhaus anrief, war er wütend, „wie sollen wir denn jetzt die Kreuzfahrt bezahlen, du Idiot!“, schrie er mich durchs Telefon an und legte einfach auf. Ich war perplex, dann wütend auf mich selber – stimmt, die Mittelmeer-Kreuzfahrt in zwei Monaten.
Nach meinem Unfall veränderte sich J., er wurde launischer, fordernder, meistens ging es um Geld. Meine Ersparnisse schmolzen dahin. Als er einen teuren Seidenblouson kaufen wollte, war ich pleite, er schrie mich an, schlug mich, nicht spielerisch auf den Po, sondern hart ins Gesicht und warf mich mitten in der Nacht aus der Wohnung. Das bleiche, jungenhafte Gesicht verwandelte sich in eine wütend keifende Fratze, kleine Speichelfetzen flogen mir ins Gesicht und seine graublauen Augen fixierten mich mit wildem Wahnsinn. Er wirkte so verwandelt, ich bekam Angst in dieser Nacht und schlief unruhig in meinem eigenem kalten Bett. Mit gekauften Seidenblouson und schlechtem Gewissen stand ich am nächsten Abend vor seiner Tür, das Geld hatte ich von Pavel geliehen, „Geschenk für meine Freundin“ hatte ich nervös gekichert, ich liebte J. schließlich.
Die nächsten Wochen wurden zu einem endlosen Kampf um J. launische Gunst, verzweifelt versuchte ich, unsere brüchige heile Welt zusammenzuhalten, aber jeden Tag brach ein neues Stück weg. Er verstieß mich, nahm mich zurück, verstieß mich wieder. „Bezahl endlich die Kreuzfahrt ab, du nutzloser Fettsack!“, ich gewöhnte mich an seine hasserfüllten Wutausbrüche, die Schläge, gestand dann meine Schuld, heulend, schluchzend, bettelnd, nach ungewiss quellende Nächte und steigenden Schulden bei Pavel, Lukasz, meiner Tante Adela, und schließlich sogar bei Lenka. Ich versank tiefer, und redete mich um Kopf und Kragen, während J. über mir stand, dominant, herablassend, und mit fordernder Geste, die Begleichung seiner Ausgaben forderte. Aber ich brauchte ihn, die Angst, die Einsamkeit in Wien, Polen, überall, fraß mich auf.
Anfang Oktober musste ich zur Firmung meines älteren Sohnes zurück nach Poznan. Ich sträubte mich, schob die Arbeit vor, aber Lenka bestand darauf, meine restliche Familie stand längst hinter ihr und die ausbleibenden Unterhaltszahlungen, versagten mir jegliches Einwandsrecht. J war launisch, gerade hatte er mich zwei Tage ignoriert und sich dann nur widerwillig zum Essen einladen lassen, „dann verpiss dich doch in dein scheiß Schwulenhasser-Land, hier kriegst du ja auch nichts mehr auf die Reihe!“, schrie er mir nach dem Essen ins Gesicht und verschwand. Ich blieb sitzen, gedemütigt, müde. Vielleicht sollte ich es einfach lassen, Schlussmachen, mit allem, aber nein, nach dem Essen rief ich ihn an, bettelte wieder, versprach meine Tante anzupumpen und endlich die Kreuzfahrt abzubezahlen. Am Ende ließ er sich ein trockenes „lieb dich“ abgewinnen, das reichte mir, zum Luftholen, atmen, in zwei Wochen war der Urlaub, eine kleine träumerische Utopie, da würde ich alles wieder hinbiegen,.
Polen wurde ein nervenaufreibender Spießrutenlauf. Lenka lag mir wegen dem Geld und meinem mangelnden Verantwortungsbewusstsein in den Ohren, meine Söhne ignorierten mich, waren böse, dass ich kaum Zeit mit ihnen verbrachte und der Rest meiner Familie hatte mich ohnehin schon satt. Selbst meine letzte Verbündete, Tante Adela, machte ein enttäuschtes Gesicht, als ich sie nochmal um ein wenig Geld bat. Was machte ich eigentlich hier? Irgendwann während der fünf Tage, die ich daheim verbrachte, war mir alles egal, die bösen Blicke, die leisen Flüche, ich ignorierte sie, das schien ihre Wut nur zu befeuern. Ich war ein Steuermann auf hoher See, die hässlich boshaften Meeresungeheuer kreisten um meine marode Schaluppe und das Meer stürmte heftig. Die Bestien schrien und fauchten, warfen sich gegen das Boot, mit all ihrer Wut und dem Groll, riesige Wellen peitschten um mich herum, doch ich blieb stark, kannte das Ziel, heil zurück nach Wien, zu J. Voller Hoffnung und mit 1300 Zsloty, die mir meine alte Tante schlussendlich doch noch zugesteckt hatte, kam ich zurück, doch J. war verschwunden.
Ich kannte das Spiel, wahrscheinlich ignorierte er mich, damit ich am Abend bettelnd vor seiner Tür erschien. Doch als ich mit Blumen und Sushi vor seiner Wohnungstür stand, war er nicht da, „verreist“, erzählte mir die Nachbarin, die sich im Hausflur an mir vorbei quetschte und mich misstrauisch musterte. Auch am zweiten Tag, und dritten Tag, kein Zeichen. Nach einer Woche wurde ich unruhig, normalerweise dauerte das Spiel nie länger als zwei Tage, dann meldete er sich auf meine zahllosen Versuche, doch diesmal schien er verschwunden, weg, keine Nachricht, kein Anruf. Seine Freunde wiegelten mich genervt ab, „es sei Schluss mit mir, endlich“, sagten sie, „ich solle ihn vergessen“. Schluss. Vergessen. Ich begann wieder zu trinken, nur ein wenig, in den kalten Nächte vor J. verwaister Tür, Eine Achterbahn ratterte krachend durch meinen Kopf, alles drehte sich, ein leere Jägermeister fiel scheppernd zu Boden. Er versteckte sich doch nur, das war unser Spiel. Ich rannte durch die Stadt, unserer Stadt, und suchte ihn, die Dunkelheit leise auf meiner Spur. Taubengeflatter weckte mich fröstelnd auf einer Parkbank, konnte die Wohnungsschlüssel nicht finden, wann war ich überhaupt das letzte Mal zuhause gewesen? Egal jetzt, musste weiter, die Alkoholfahne wurde mein treuer Begleiter, doch J finden konnte ich nicht. Nacht um Nacht verschwamm zu einer grauen Masse. Ich schreckte in der 5er Bim hoch, unruhige Träume, spürte die komische Blicke, musste raus, weitersuchen. Dann fand ich ihn endlich.
Ich stolperte betrunken ins Xeno, wie und warum, daran konnte ich mich auch später nicht mehr erinnern. Aber J war da, saß an der Bar, neben ihm ein älterer, gut angezogener Typ, er hielt ihn eng umschlungen. Endlich hatte ich J gefunden, Erleichterung durchflutete meinen müden Körper. Ich rempelte den Typ beiseite und wollte mein Freund küssen, aber J. stieß mich angewidert weg.
„Was machst du den hier? Du stinkst!“, zischte er mir wütend entgegen.
„Suchen...dich“, die Worte kamen nur langsam über meine Lippen, der Alkohol hatte mich schon zu fest im Griff, die Ablehnung in seiner Stimme prallte dumpf an mir ab, keine Wirkung, ich wollte nur nach Hause, mit ihm.
„Wer ist der Penner?“, jemand sprach schräg hinter mir, ich beachtete ihn nicht, schaute nur auf J.s süße, vom Wein bordeaux gefärbten Lippen.
„So ein durchgeknallter Stalker von mir“, J. Lippen bewegten sich, aber die Stimme klang weit weg, wie am Ende eines langgezogenen, Echo werfenden Tunnels. Die halbleere Whisky-Flasche in meiner Jackentasche, ich fühlte es, die Dunkelheit war mir dicht auf den Fersen, „können wir nachhause gehen? Ich lieb dich, J.“
„Liebe? Das bisschen poppen ist doch keine Liebe, Schätzchen!“
Ein paar Nadelstiche ins Herz, egal, er meint's nicht so, war eh schon taub. Wieder hörte ich die Stimme hinter mir.
„Mit dem Typ hattest du was?“
„Ich war bisschen knapp bei Kasse,okay, da hat er mir bisschen ausgeholfen, nichts Ernstes.“
„Haha J., du machst Sachen, der Typ sieht aus wie ein Obdachloser!“
Können wir reden ... allein … kurz?“, nuschelte ich, doch J. mustere mich nur mit ausdruckslosem, festem Blick. Keine Reaktion, kein Zucken auf seinem bleichen, jungenhaften Gesicht.
...
„BITTE?“, schrie ich plötzlich, ohne es gleich zu realisieren und erschrak vor mir selbst.
...
„Bitte J.!“, diesmal nur ein ersticktes Flüstern, nasse Tränen auf meinem Gesicht. Keine Reaktion.
„Oh Gott, was passiert hier!“, ich hörte die gehässig lachende Stimme des älteren Typ, er war jetzt neben J. getreten und tätschelte ihm den Oberschenkel, und ließ seine Hand langsam Richtung Schambereich gleiten. Das war's!, was bildete sich dieses Arschloch ein, meinen Freund so zu betatschen.
Rasender Hass packte mich und zitternd ballte ich meine rechte Faust. Ich machte einen Schritt in seine Richtung, sah kurz auf, überraschte Angst in seinem Gesicht und setzte an, die restliche Distanz zu überbrücken, als J. , der zwischen uns saß, seufzend von seinem Barhocker glitt und auf die Tür deutete, „Zwei Minuten“.
J. machte Schluss. Und während er mich auslachte und sich darüber amüsierte, wie er das, was ich Liebe genannt hatte, genutzt hatte, um sich seinen Lebensstil zu finanzieren, stand ich nur da, starrte zu Boden, ertrug es und nuckelte an der Whisky-Flasche. „Was bist du eigentlich für ein weirder Typ!“, fing er gerade wieder an, „son alten Kerl wie dich besorg ich mir alle paar Monate, sie bezahlen für mich, kaufen mir paar hübsche Sachen und sind froh, dass sie ne Zeit lang nen jungen Typen vögeln können und dann ist auch wieder gut“, er war jetzt ganz nah getreten, berührte mich fast und lachte mir ins Gesicht, ich roch den Wein in seinem Atem und das teure Armani Parfüm, das ich ihm geschenkt hatte, „keiner von denen hat irgendwas von Liebe gefaselt, und dann such ich mir ausgerechnet nen verklemmten Pollacken, und der will mich dann gleich heiraten oder wie?“. Hämisches Gekicher. Eine stumpfe Schere schnitt mein Herz in kleine blutrote Teile. Ich fühle die Demütigung, Trauer, Tränen tropfen von meinem rauen Kinn. Doch nur noch kurz, gleich vorbei, dann Dunkelheit. Ich nahm einen letzten Schluck von dem Whisky, einen großen. Konnte es schon spüren, wie mir die Kontrolle entglitt, Wut löschte flammenartig alles andere aus meinem Kopf, in wenigen Sekunden war alles weg. Die Schwarze Asche meiner Erinnerungen, ein kühler Wind trug sie davon. Ruckartig hob ich meinen Kopf und fixiere die graublauen Augen. Jetzt würde ich mir alles zurücknehmen von diesem mickrigen Arschloch, er sollte leiden, wie ich. J. wich zurück, ich sah die Furcht und die nervöse Überraschung in seinem blasen Gesicht, „hey, hey, bleib mal locker!“. Aber ich war weg, woanders, ein Autopilot hinter meinem ausdruckslosen Gesicht. Mein Arm erhob sich, und ich zischte noch „Du, miese kleine Schwuchtel!“, dann zersplitterte die Whisky-Flasche brachial auf seinem blonden Schopf.
Ich hatte das hintere Taxifenster jetzt etwas runtergekurbelt, brauchte die frische Fahrtluft in meinem nebelschweren Kopf. Wir rasten die Wiener Gürtelstraße entlang, ich sah die hell beleuchtete Volksoper durch einen Torbogen auf der anderen Fahrbahnseite vorbeifliegen und wusste, wir hatten das Krankenhaus fast erreicht. Gedanken schossen durch meinen Kopf, schnell und verworren, wie eine bunte Konfettischlacht in einem finstren Kellerclub. Was war passiert? Waren wir ausgeraubt worden? Hatte ich das J. angetan? Aber warum sollte ich meinem Freund so etwas antun? J. markerschütternde Schreie hatten mich zurückgebracht, ich hatte das ganze Blut auf dem Gehweg gesehen und im nächsten Moment war ich schon vor ein Taxi gesprungen, hatte J. reingezogen und nur noch „Krankenhaus, Krankenhaus, schnell!“ geschrien. Hatte wieder ein Blackout gehabt, Dunkelheit, wie ich es nannte, warum hatte ich Dummkopf auch wieder zu viel getrunken im Club U?; dann waren wir bestimmt auf dem Heimweg in einen Streit geraten, vielleicht mit ein paar homophoben Jugendlichen, die hatten J. attackiert und ich hatte ihn gerettet. Machte das Sinn oder belog ich mich selbst? Mich? Selbst? Wilde Gedankengebilde wuchsen in meinem sprunghaft zuckenden Kopf hochhausgroß heran, krachten ein und formierten sich neu. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass wir längst das Krankenhaus erreicht hatten, erst als die Sanitäter den bewusstlosen J. förmlich aus meinen Armen rissen, schaute ich auf. Armer, kleiner J. Ich blieb im Taxi sitzen und lachte, und auch als der nervöse Taxifahrer mich anschrie, dass ich verrückt sei und er die Polizei rufen würde, lachte ich noch. Was hatte ich ein Glück gehabt mit J., so ein süßer Schatz, er hatte mir die einzig wahre Liebe gezeigt. Wir würden heiraten, irgendwo, wo man das amtlich machen kann und uns dann für immer lieben. Vielleicht würden wir eine kleine Wohnung kaufen, irgendwo im 7.Bezirk, Neubau, da mochten wir es. Ich schloss die Augen, lächelte und träumte von einer unbeschwerten, glitzernden Zukunft.
Ein eisiger Luftzug weckte mich...