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Forellenquintett
Die Butter zischte, als er sie über den Fisch goss, und ihr köstlicher Duft aktivierte in bewährter Weise den Speichelfluss. Der richtige Zeitpunkt war entscheidend. Erst mussten sich die Schwebstoffe aus der gelben Brühe lösen und Farbe nehmen, dann erst bildete sich das gewünschte Aroma. Kurz bevor die in der Hitze tanzenden Partikel zu Kohlenstoff verbrannten, war der perfekte Zustand erreicht. Plötzlich schmeckte die Butter nach gerösteten Nüssen, weswegen die Franzosen sie Beurre noisette, Nussbutter, nannten. Wenn alles passte, vereinte sich unter ihrer Regie das weiße Fleisch mit dem Wein zu einem kraftvollen Geschmacksorgasmus. Zweifellos der einzige, an dem er heute teilhaben würde.
Sie hatte gerne Fisch gegessen, und es war verständlich, dass seine Gedanken beim Anrichten des Tellers in die verbotene Richtung schweiften. Gedanken waren nun einmal kopflose Schafherden, und das Bewusstsein rannte hinterdrein wie ein in die Jahre gekommener Schäferhund auf verlorenem Posten. Dr. Konrad Angermann bemühte sich, sie wieder zu seinem Teller zurückzuscheuchen. Dann zündete er eine Kerze an, obwohl ihm an diesem letzten Augusttag vierundvierzig zugestanden wären, und kaute den ersten Bissen. Die Forelle aus nachhaltiger Waldviertler Zucht war auf den Punkt gebraten, aber er hatte eine Spur zu viel Salbei in die Bauchhöhle gestopft, was ihren Eigengeschmack beeinträchtigte. Missvergnügt hob er sein Weinglas und spülte die kleine Irritation hinunter.
Auch der Sancerre war eine Sentimentalität. Es hätte genug heimische Weine gegeben, um sein einsames Geburtstagsmahl angemessen zu begleiten. Wäre Gudrun ihm gegenüber gesessen, hätte sie zweifellos eine Diskussion über Transportkosten und CO[SUB]2[/SUB]-Fußabdrücke vom Zaun gebrochen, über Regionalität als Kernprinzip von Slowfood und so weiter. So gesehen hatte alles seine Vorteile. Für ihn war in diesem Wein jedenfalls eine Erinnerung enthalten, die er punktgenau abrufen konnte: eine Studienreise an die Loire im ersten Jahr des Milleniums, grüne Pappelwälder, darin eingebettet makellos strenge Schlossanlagen, überhaupt die Musikalität der Landschaft, die einfachen aber ausgeklügelten Menüs, zu hundert Prozent autochthon, die relativ erträglichen Reisekollegen, fast alles Pädagogen wie er selbst. Angermann nahm wie zum Trotz einen unmäßig großen Schluck und ließ ihn lange im Gaumen nachklingen, doch beim Nachschenken träufelte aus der Flasche nur noch ein dünner Faden. Gudrun hatte sich der Reisegruppe als Künstlerin vorgestellt, was er damals kindisch fand. Dennoch war Frankreich ein Erfolg gewesen, weit mehr als eine Sauf- und Edelfressreise, wie sie im Vorfeld befürchtet hatte, und der bleibende Höhepunkt kein kulinarischer, sondern ein kulturgeschichtlicher: der Salon von Clos-Lucé, das zum Schloss Amboise gehörige Herrenhaus, in dem Leonardo vor fünfhundert Jahren an seinen Katapulten und wirren Maschinen getüftelt hatte. Dieser vergleichsweise bescheidene Raum hatte Konrad mehr aufgewühlt als die Deckenfresken Michaelangelos in der Sixtinischen Kapelle und die große El Greco Ausstellung in der Reina Sofia zusammen genommen. In Clos-Lucé war sie noch einmal greifbar gewesen, jene rätselhafte Kraft, die einen augenblicklich aus der farblosen Welt der Gegenwart riss, gründlicher als die besten Flaschen in seinem Keller. Zwei Wochen lang hatte er sich als Renaissancemensch gefühlt. Und das hatte ihn wieder mit seinem Fach versöhnt, das viele Schüler für das langweiligste von allen hielten.
Auf dem Weg in die Küche leerte er das Glas. Ein zweiter Sancerre lag gekühlt bereit. Auch er brannte darauf, von seinem Korken befreit und ein Teil von ihm, Konrad Angermann, zu werden, und auch diese Flasche war in tadellosem Zustand, wie ihm ein Probeschluck am Rückweg ins Esszimmer verriet. Mit dem Bukett – Stachelbeere, grüner Paprika unterlegt mit einem Hauch Feuerstein – breitete sich eine Welle von Zufriedenheit in ihm aus. Sogar der Salbeigeschmack der Forelle war letztlich vertretbar. Das Essen lag, auch wenn man strengste Kriterien anlegte, an der Kippe zwischen Gut und Sehr Gut. Nur die Meistersinger-Ouvertüre schien ihm jetzt zu schwer für die zweite Flasche, und er wechselte wie geplant zum Forellenquintett, eine Einspielung von Alfred Brendel und dem Cleveland Quartett. Während die schwarze Scheibe sich zu drehen begann, verharrte er ein paar Takte lang vor dem Gerät und blickte zum Fenster hinaus. Dort in der Straße wirbelte braungelbes Laub. Es waren immer die Kastanienblätter, die als erstes aufgaben und ihn an das Ende seines ausgedehnten Pädagogensommers erinnerten. Seit einiger Zeit folgte sein braungelocktes Haupthaar ihrem Beispiel. Auf dem Hinterkopf hatte sich ein handtellergroßes Loch aufgetan, und kein Frühling würde es jemals wieder schließen. Unter Schuberts Klängen überkam ihn das wehmütige Gefühl, im September seines eigenen Lebens angekommen zu sein. Wie viele strahlende Sonnentage würden ihm noch bleiben, wie viele interessante Studienreisen würde er noch unternehmen? Und – mit wem?
Er ging rasch zurück zum Tisch, um sich der Forelle zu widmen. Noch einmal vermochte der Sancerre seine Laune zu heben. Er beschloss, am nächsten Tag in den Lainzer Tiergarten zu gehen. Dort würde er die eichelgemästeten Wildschweine und – oben am Wiener Blick – das zyklamenfarbene Meer der Herbstzeitlosen genießen, mit der die Natur alljährlich seines Geburtstags gedachte. Und es würde ihm dort leichter fallen, nicht an sie zu denken. War der September nicht seine ureigenste Jahreszeit? Einmal hatte ihm Gudrun vor dem Einschlafen Lafontaines Fabel von der Ameise und der Grille vorgelesen. Er war zu müde gewesen, nach dem Grund zu fragen, doch ihre Gute-Nacht-Geschichten, das wusste er zur Genüge, waren immer mit Absichten hinterlegt. Zweifellos war er in ihren Augen eine der langweiligen Ameisen. Und wenn schon. Der Grille würde die Rechnung für ihren ausschweifenden Lebenswandel bald präsentiert werden. Gudrun hatte kein Bewusstsein davon, wie weit ihr eigener Stern bereits gesunken war, unbewusst dimmte sie im Badezimmer seit Jahren das Licht, wenn sie sich mit Makeup zuspachtelte und zu immer gewagteren Haarfarben Zuflucht nahm. Und wie ernsthaft waren wohl die Absichten der verkrachten Künstler, mit denen sie jetzt durch die Kneipen zog? Ein Fachkollege hatte ihrem aktuellen Begleiter den Spitznamen Bob Dylan gegeben, weil er stets einen Flohmarkthut trug. Aber Dylan würde sie fallen lassen, wenn er sich ausgetobt hatte, daran bestand kein Zweifel, für so einen Windhund war sie doch nur ein Spielzeug. Und Konrad Angermann würde keine Lust haben, sie zurückzunehmen, denn auch der hatte seinen Stolz.
Trotzdem waren einige Fragen offen geblieben: Wie war zum Beispiel dieser böse Geist in den schmächtigen, schon etwas erschlafften Mädchenkörper eingefahren, der sie unablässig zu Performancekunst und Ausdruckstanz anstachelte, und – was am bedenklichsten war – sie ermutigte ihre pädagogische Laufbahn zu vernachlässigen? Was brachte sie dazu, seine Korrektheit zu verlachen, anstatt ihm dankbar zu sein, dass er ihr seit Jahren den Rücken freihielt und die Bühne freikehrte, damit sie vor der Welt ihre Kapriolen schlagen konnte? Und warum fiel es manchen Menschen so schwer, sich die natürlichen Begrenzungen ihrer Existenz einzugestehen? Gymnasiallehrerin. Manchmal hatte er ihr das Wort vor dem Einschlafen zugeflüstert wie man einem Kleinkind den eigenen Vornamen vorsagt, doch solche Scherze waren ihm nie gut bekommen. Dabei hatte er ihre Eskapaden leidlich unterstützt, hatte sie zu ihrem Sabbatical ermutigt, und wie oft hatte er sein ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen, um sie vor dem Direktor und dem Kollegium in Schutz zu nehmen.
Und wenn sie doch eine echte Künstlerin war? Vieles an ihrer Arbeit schien ihm übertrieben und nicht von den Prinzipien durchdrungen, die Werke auszeichnen, welche man später zum Ziel einer Bildungsreise machen konnte. Dass man ein zeitgenössisches Kunstwerk nicht mit den gleichen Maßstäben beurteilte wie ein dreigängiges Menü, brauchte man ihm nicht extra vorzuwerfen. Und dabei war sie es, die nicht kochen konnte. Auch das sagte einiges aus. War Essen nicht gelebte Sinnlichkeit? Jede Kunst beruhe auf Lebenskunst, hatte irgendjemand irgendwann behauptet.
Die Platte hatte aufgehört, sich zu drehen, und der schwere Tonarm fuhr krächzend in seine Ausgangsposition zurück. Es wäre schön gewesen, einfach still zu sitzen, wenn es nur in einem selbst auch still gewesen wäre. Konrad schob seinen Bauch noch einmal an der Tischkante vorbei, um die Platte umzudrehen. Der dritte Satz des Forellenquintetts, das Scherzo, begann zu lebhaft für seinen Geschmack, ihn schätzte er als Tischmusik am wenigsten. Doch noch wartete das zweite, unten den Gräten befindliche Filet. Am Gebrauch seiner Gabel merkte er, dass er betrunken war, es verschaffte ihm eine grimmige Befriedigung. Der Alkohol war endlich in seiner Großhirnrinde angelangt und dort durfte er sich an diesem Ehrentag wie zu Hause fühlen. Draußen vor den wehenden Vorhängen war indes die Mondscheibe aufgegangen. Nach dem Essen hatten sie gerne ein wenig gestritten, das war ihr liebstes Dessert. Meistens über Kleinigkeiten. „Es gibt keine Kleinigkeiten“, hatte Gudrun gerne behauptet, und Konrad widersprach nie, obschon er diese Auffassung nicht teilte. War am Ende gar ihre Beziehung eine Kleinigkeit gewesen? Konrad hatte sich stets gescheut, das größere Wort in den Mund zu nehmen. Nein, es war keine Amour fou, keine große Liebesgeschichte, nicht einmal am Anfang, als sie noch gemeinsam Gedichte lasen; eher ein Pakt, deren Wert sich in späteren Jahren vollends gezeigt hätte, wenn ihre weiblichen Reize verwelkt und die Kunstillusionen von ihr abgefallen wären. Spätestens dann hätte sie seine Verlässlichkeit zu schätzen gelernt. Gemeinsam hätten sie die Ernte einfahren können. Aber sie musste ja mit dem Lippenstift drei Buchstaben auf den Badezimmerspiegel malen. Dass sie einen theatralischen Abgang wählte, hatte ihn nicht im Geringsten überrascht, aber er fragte sich, ob dieses französische Stummfilmende nicht in sich selbst ein Vorwurf war. Immer schien sie die Intensität der Beziehung in Dezibel messen zu wollen. Ich lebe mit dir wie in einem Aquarium! Früheren Generationen war Reden Silber und Schweigen Gold gewesen. Durch Vertrautheit konnten Dinge ungesagt bleiben. Konrad vermochte darin keinen Nachteil zu erkennen, im Gegenteil, überall wurde doch zu viel geredet, nicht zu wenig. Mit diesem Gedanken schluckte Konrad den letzten Bissen hinunter und schickte den Rest Sancerre hinterher. Dann trug er Teller und Glas in die Küche und stellte sie in den Geschirrspüler.
Es war Zeit für einen Cognac.
Selten gönnte er sich den teuren Tropfen aus einer kleinen Destillerie in der Charente. Die Flasche stand versteckt zwischen den alten Büchern – antiquarische Ausgaben, die er auf seinen Reisen erworben hatte. Auf der Ablage aber lag der alten Rilkeband, den Gudrun ihm in der ersten hoffnungsvollen Phase ihrer Bekanntschaft geschenkt hatte. Dieses Buch, das nur in der ersten Hälfte starke Lesespuren aufwies, hatte er – soviel stand fest – nicht selbst dorthin gelegt. Seit Jahren hatte er es nicht in der Hand gehabt. Nun aber lag es aufgeschlagen vor ihm – wie ein Orakel. Er stockte. War ihr zuzutrauen, dass sie ihm einen Wink hinterlassen hatte? Eine verrätselte Botschaft? Wer am anderen noch herumdoktort, hat den Patienten nicht aufgegeben. Konrads Herz schlug schneller, als er Vers um Vers in sich aufsog, ohne ein Wort zu verstehen, denn der Alkohol war eine nutzlose Lupe, die ihn zwischen den Buchstaben in ein dunkles Nichts blicken ließ. Er überflog die Seite ein zweites Mal, mehr als dass er sie las, suchte nach Wendungen, die auf ihn gemünzt sein mochten, und es dauerte lange, bis sein Ohr den Dreiklang seiner Hausglocke aus dem dahinplätschernden Forellenquintett herauslöste. Er legte das Buch beiseite und hastete zur Gegensprechanlage.
„Hallo. Hier Angermann! … Hallo? Gudrun?“
Niemand antwortete ihm. Sollte er hinuntergehen und nachsehen? Er trat ans Fenster. Von dort konnte er das Haustor mit den Klingelknöpfen nicht einsehen, trotzdem beugte er sich weit in die kalte Nachtluft hinaus und horchte nach Schritten. Aus der Ferne hörte er ein Kinderlachen, das ihn deprimierte.
„Hallo?!“
Sein Ruf übertönte die Klaviertriolen, die im Hintergrund ungerührt das Finale einläuteten.
„Hallo?! Hallo?! Hallo?!“
Er spürte den Alkohol als Hitze im Gesicht und schrie immer lauter, wie eine Jahrmarktsattraktion, die außer Kontrolle geraten war, bis in den dunklen Fenstern gegenüber nach und nach die Lichter angingen.