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Fohlen-Mädchen
Als ich in der siebten Klasse war, trennten sich meine Eltern, und meine Mutter zog mit uns Kindern zurück in ihre Heimatstadt.
Wir wohnten in einem Mehrfamilienhaus, das zusammen mit drei anderen einen Hof mit zwei Gärten bildete.
Es war Sommer, ich fuhr mit dem Rad zur neuen Schule, und unterwegs sah ich manchmal ein Mädchen, schlank, mit braunem, zu einem Zopf gebundenem Haar und braunen Augen. Sie war jünger als ich, aber groß gewachsen – sie erinnerte mich an ein edles Fohlen, das von seinem eigenen Wachstum überrascht ist und sich noch etwas ungelenk bewegt. Wenn sie mich wahrnahm, war ihr Blick abschätzig.
Ich sah sie in der Schule, zwischen anderen Mädchen herausragend, sie war also in einem unteren Jahrgang.
Doch die Schule war nicht unsere einzige Gemeinsamkeit.
Einmal schaute ich aus meinem Zimmerfenster hinunter in den Hof und sah sie dort in einem der Gärten. Sie trug ein weißes Top und eine kurze, beige Hose, die ihre langen Beine noch länger erscheinen ließ. Sie schlug barfuß Räder im Gras und spielte mit einem kleinen Kind, ihrer Schwester, nehme ich an, und ich beobachtete sie gebannt, sah ihr Lächeln, hörte ihr Lachen.
Als wir uns das nächste Mal sahen, wollte ich sie ansprechen, ihr sagen, dass ich sie gesehen und sie mich mit ihrer fröhlichen, liebevollen Art verzaubert hatte, doch da war wieder diese ernste Abschätzigkeit, ich fragte mich, ob ich denselben Mensch vor mir hatte, und konnte es nicht.
Mein Bruder beendete die Schule, zog aus, und meine Mutter und ich zogen in eine kleinere Wohnung.
Ich sah sie noch ein paar Mal in der Schule, bis auch ich fertig war.
Heute weiß ich, dass die Dinge manchmal anders sind, als sie scheinen, dass Abschätzigkeit Unsicherheit sein kann, und dass es Mut zum Leben braucht. Dass es einem Mädchen und vor allem einem selbst nichts bringt, wenn man nachts sehnsüchtig wachliegt, aber nichts unternimmt.
Dabei wäre es bei Lichte betrachtet so einfach gewesen: Wenn ich nur gesagt hätte „He, weißt du eigentlich, dass wir Nachbarn sind? Ich hab dich neulich im Hof gesehen“ – wer weiß, was vielleicht passiert, wie das Ganze weitergegangen wäre?