Fluss
Ich bin auf dem Weg zum Fluss, wie jeden Morgen. Es ist ein großer Fluss, ein mächtiger, ein breiter Fluss, welcher Tag ein, Tag aus dahinströmt. Mal schneller, mal langsamer, mal wild und heftig, mal schläfrig und vertraut. Heute ist ein schöner Tag. Sie Sonne lacht, kaum ein Wölkchen am Himmel, kein Wind, der meine Notizzettel davonwehen lässt, die betriebsamen Geräusche der Stadt. Einfach herrlich!
Am Flussufer angekommen gehe ich auf meinen täglichen Stammplatz, stelle meinen kleinen blauen Stuhl dicht ans Geländer, und setzte mich erst einmal. Nach einem so langen Marsch früh am Tage bin ich oft etwas aus der Puste. Ich nehme meinen Notizzettel und sehe nach, wie viele im Laufe der Woche bereits vorbei geschwommen sind. Ich setzte mich ja nicht zum Spaß hier her. Ich bin beruflich hier und zähle, wie viele am Tag vorbeischwimmen. Ein sehr einfacher Beruf muss ich sagen. Er ist nur etwas langweilig, wenn nichts passiert. Aber in letzter Zeit habe ich immer viel zu Zählen gehabt, ich weiß allerdings nicht genau woran das liegt. Es sind jetzt auch mehr Alte und Junge, manchmal auch kleine Kinder, dabei. Egal, ich werde leider nicht nach ihrer Anzahl bezahlt, sondern nach Stunden.
Ein Blick auf die Rathausuhr verrät mir, dass es gleich um acht ist. Genau zur richtigen Zeit angekommen. Ab um acht bin ich nämlich dran mit zählen. Es ist der offizielle Beginn meiner Arbeitszeit. „Von 8.00 bis 20.00“ steht in meinem Arbeitsvertrag geschrieben. In der anderen Tageshälfte von 20 bis 8 Uhr gibt es, glaube ich, eine Nachtschicht. Wer das ist, weiß ich nicht. Den habe ich aber noch nie gesehen. Wer weiß, wo der sich sein Plätzchen gesucht hat. Mich würde aber mal interessieren, wie viele nachts so vorbeischwimmen. Ich glaube aber, dass es nachts schwerer ist sie zu erkennen, ist jedoch nicht mein Problem.
Da ist auch schon der Erste für heute. Ein Mann. Irgendwie ist der Erste immer ein Mann. Er hat schöne blonde Haare. Er sieht von weitem sehr durchtrainiert aus. Mal sehen, wenn er näher herangetrieben ist. Er ist wirklich breit gebaut, aber die großen Schnittwunden auf seinen Rücken machen ihn vielleicht auch nur breiter als er wirklich war. Dann noch das Wasser, was durch die vielen Öffnungen in den Körper läuft und ihn aufschwemmt, naja. Neunzig Prozent der Leichen, die hier vorbeischwimmen, treiben mit dem Rücken nach oben. So kann ich selten ihr Gesicht erkennen oder andere Körperteile. Vor allem bei hübschen Frauen ist das ärgerlich, aber was soll`s. Bin ja wie gesagt nicht zum Spaß hier. Strich Nummer eins für heute.
Dass es mittlerweile mehr sind, die hier entlangschwimmen, hat auch mein Arbeitgeber gemerkt. Ab nächsten Monat soll ich dann nicht nur zählen, sondern auch noch nach Geschlecht unterscheiden und das Alter schätzen. Da bekomme ich eine vorgedruckte Tabelle mit verschiedenen Spalten. Im Tabellenkopf steht in der linken Spalte „Männlich“ und in der rechten „Weiblich“. In der Vertikalen die Alterseinstufungen: „0-5; 6-15; 16-25; 26-35 und so weiter. Immer in Zehnjahresabschnitten. Manchmal kann man das Alter aber nicht schätzen. Wenn zum Beispiel die Leiche angezündet wurde oder nur vereinzelte Körperteile entlang schwimmen ist es besonders schwer. Bei zerstückelten Leichen schwimmt der Kopf seltsamerweise immer als Erstes vorbei, ich weiß nicht warum. Wohlmöglich, weil er eine runde Form besitzt, soll mich nicht weiter stören. Störend an der Sache ist nur, dass ich nicht immer weiß, welche Körperteile zusammengehören. Vor allem, nachdem ich im Fernsehen gesehen habe, dass es auch Menschen mit drei Armen oder Beinen geben soll. Ich habe noch keine Order von meinem Arbeitgeber bekommen, wie ich das handhaben soll.
Da kommt Strich nummer Zwei. Ab nächsten Monat müsste ich diesen in „Weiblich, Spalte: 66-75“ eintragen. Wie gesagt, zur Zeit kommen auch viele alte Leute endlang geschwommen. In der Regel sind die Personen aber so zwischen 20 bis 50 Jahren alt. Es sind auch durchschnittlich doppelt so viele männliche Personen wie weibliche, die durch das Wasser dümpeln. Das ist aber nur ein gefühlter Wert von mir, ab nächstem Monat hab` ich dann genaue Werte.
Dort drüben schwimmt wieder etwas. Ziemlich klein. Ah ein Baby. Babys sind zurzeit eine Seltenheit, die letzten drei Wochen hatte ich zum Beispiel überhaupt keines. Vor vier Wochen aber, da hatte ich fünf an einem Tag. Das hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Soetwas vergisst man nicht so schnell. So einen Erfolg erzählt man den Lieben zu Hause gerne. An schlechteren Tagen ist es sehr schwer so eine Babyleiche im Wasser aufzuspüren. Da schwillt einem die Brust vor Stolz, wenn man sie doch erkennt. Das Problem bei der Sache ist allerdings, dass man das Geschlecht so gut wie nie erkennen kann. Bis nächsten Monat muss ich mir hierfür noch etwas überlegen. Der dritte Strich bisher.
Durchschnittlich kommen in den 12 Stunden, die ich täglich hier sitze, ungefähr 40 bis 60 Leichen den Fluss entlang, also insgesamt, ohne Alters- und Geschlechtsunterscheidung, Männer, Frauen, Rentner, Kinder, Babys. Im Grunde genommen ist es egal, sind ja alles Menschen. An schlechten Tagen sind es zurzeit so um die Zwanzig, an sehr guten Tagen dagegen bis zu achtzig. Stellenweise komme ich dann gar nicht mit dem Führen der Strichliste hinterher. Solch eine Hetzerei hat aber auch etwas Gutes, die Zeit vergeht dann wie im Flug.
Seltsam ist, dass die Wasserqualität des Flusses in all den Jahren und Jahrzehnten nicht abgenommen hat. Zumindest glaube ich das. Alle in der Stadt trinken das Wasser, was aus dem Fluss kommt. Trotzdem ist die Zahl kranker Menschen sehr gering. Bestimmt gibt es jemanden, der das Wasser auf seine Qualität überprüft. Schließlich müssen Arbeitsplätze geschaffen werden. Vielleicht werden die Bewohner der Stadt aber gerade wegen solcher Wasserverhältnisse nicht krank. Möglich ist es ja. Ich bin allerdings kein Biologe oder Hydrologe oder wer sich auch immer damit beschäftigt. Mein Beruf ist es, hier am Fluss zu stehen und die vorbeischwimmenden Leichen zu zählen.
Alles in allem bin ich mit meinem Beruf zufrieden. Ich verdiene gutes Geld und die Anstrengung hält sich in Grenzen. Durch meinen Vater bin ich vor Jahren zu diesem Beruf gekommen. Es ist bereits Familientradition geworden diesen Beruf zu erlernen. Von meinem Ur-Urgroßvater an haben alle männlichen Personen einen Fluss beruflich beaufsichtigt. Bei meinem Vater habe ich auch meine Lehre gemacht. Damals haben wir auf dem Land gelebt und der Fluss, an dem ich angelernt wurde, war nicht sehr ergiebig, was diese Arbeit angeht. Vor fünf Jahren habe ich mich für diesen Fluss beworben. Von rund 500 Bewerbern wurde ich als einziger angestellt. Dabei hat mir auch mein guter Familienname geholfen. Dieser hat in Fachkreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Meinem Sohn werde ich auch raten diesen Beruf zu erlernen. Er interessiert sich jetzt schon sehr dafür. Ich glaube, dass er ihn auch freiwillig erlernen will. Bis dahin vergehen noch ein paar Jahre.
Dieser Fluss ist genau das Richtige für mich. Er ist nicht zu langweilig, macht aber auch nicht zu viel Arbeit. Mein Bruder zum Beispiel - der hat auch bei unserem Vater gelernt - er arbeitet am größten Fluss des Landes, da kommen täglich mehr als hundert Leichen entlang geschwommen. Allein schafft der das gar nicht mehr, weshalb er jetzt einen Kollegen bekommen hat.
Nun gut, bin mal gespannt, wie viele es heute so werden.