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Fluss des Alltags
Er hatte begonnen wie jeder andere Tag, dieser Tag, doch er war nicht wie jeder andere Tag gewesen. Als er aufgestanden war, da war ihm der Wechsel von der Wärme des Bettes in die Kälte des Morgens ungewöhnlich hart vorgekommen. Im Bad hatte das kalte Wasser alles hinfort gewischt, den Schlaf und die Sorgen. Doch als er das Bad verließ, als seine nackten Füße von den kalten Fliesen auf das Parkett tappten und als er sich dann anzog, da kehrte mit jedem Kleidungsstück, das er anlegte, das zurück, was ihn eben noch verlassen hatte. Er verließ kurz darauf die Wohnung und das Einrasten des Schlosses, als er von Außen abschloss, das kam ihm endgültiger vor als je zuvor.
Draußen mischte er sich unter die hin- und herströmende Menschenmenge, die wie ein trauriger Fluss dahin trieb. Er ließ sich mitreißen von diesem Fluss, wie ein Blatt. Er hörte Stimmfetzen, das Kreischen eines Kindes, das die monotonen Brummgeräusche der vorbeifahrenden Autos verdrängte. Und er roch die Abgase, die Parfüms vorbei eilender Frauen und den Geruch von Brezeln, der aus einem Bäckerladen auf die Straße strömte. Er hasste Brezeln. Kurz darauf kam er an einem Elektrofachgeschäft vorbei, in dessen Schaufenster mehrere Fernseher standen, die flackerndes Licht auf den Bürgersteig und die hektischen Füße warfen. Er löst sich aus dem Treiben, griff nach dem Anblick der Fernseher wie ein Ertrinkender nach einem Ast. Das Bild des Fernsehers zeigte kurz einen Nachrichtensprecher, dann wurde es grün und körnig. Man sah eine nächtliche Wüstenlandschaft durch ein Nachtsichtgerät. Am Horizont krochen mehrere Fahrzeuge entlang, wie Ameisen in einer Reihe. Dann tauchte im nachtschwarzen Himmel ein grell leuchtender Punkt auf, der schnell anwuchs. Die Kamera wackelte jetzt stark, doch das Bild der Wagenkolonne blieb unerbittlich. Dann zerriss eine Explosion die körnige Finsternis, das Bild wackelte und zeigte kurz darauf nur noch Dunkelheit, durchzogen von grauem Flackern. Der Nachrichtensprecher kam wieder ins Bild und der Mann fragte sich unwillkürlich, warum eigentlich alle Nachrichtensprecher gleich aussahen. Er starrte noch eine Weile auf den Apparat, sah das Bild aber hörte den Ton nicht. Er ignorierte das ständige Ruckeln und Stoßen, welches von dem Menschenstrom in seinem Rücken ausging und ihm vorkam wie ein unermüdliches Zerren.
Doch schließlich – Minuten oder Stunden später, er wusste es nicht – scherte er wieder ein in die Strömung der Alltäglichkeit in der nur ein Gesetz vorzuherrschen schien: graue Anonymität. Wer hatte ihn gerade angerempelt, wem gehörte dieser Duft, wem dieser Regenschirm, wem dieses Gesicht? Fragen wie diese brannten sich heute so heftig wie nie zuvor in sein Hirn und ließen seine Blicke unstet hin- und herirren. Irgendwann kam das Treiben an eine Ampel und die Menschen stauten sich wie Flusswasser vor einem umgestürzten Baum. Seltsam, dachte der Mann, wie viel Respekt den Menschen doch ein rot leuchtendes Zeichen einflößte. Eine Frau löste sich aus der wartenden Menge und überquerte mit gesenktem Kopf und eiligen Schritten die Straße. Mit einem Mal erschien die Zeit für den Mann wie Honig: zähflüssig und seltsam trüb und dennoch erkannte er das, was sich nun vor seinen Augen abspielte, mit grausamer Brillanz. Die Frau, die ungeachtet der roten Ampel den Straßenzug überquerte, hob plötzlich den Kopf. Ein schrilles Hupen erstickte jedes andere Geräusch und sie riss entsetzt die Augen auf. Ihr Schatten zeichnete sich scharf auf dem Pflaster ab, als die Scheinwerfer des heranrasenden Wagens ihre Gestalt beleuchteten. Der Mann sah, wie sich ihr Körper seltsam verformte, wie sie ihren Mund zum Schrei aufriss und sich ihre schreckgeweiteten Augen mit purem Schmerz füllten. Blut befleckte Motorhaube und Frontscheibe des Wagens, ein kollektiver Aufschrei durchzog die Menge und quietschende Reifen und energisches Hupen übertönten alles. Der Mann sah noch wie der Körper der Frau schwer auf dem Boden aufschlug, dann wandte er sich um und kämpfte sich gegen die Strömung.
Er erreichte seine Arbeit später als sonst und sein Boss hielt ihm mit energischen Worten eine Strafpredigt. Es interessierte ihn nicht. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann automatisch damit, irgendwelche Zahlenkolonnen in den Computer zu tippen. Das Klacken der Tasten war wie das Ticken eines Sekundenzeigers, eine alltägliche Begleiterscheinung der niemand entrinnen konnte.
In der Mittagspause gab er sich erneut dem Ziehen und Zerren des Menschenstromes hin, der eben so ewig zu zirkulierten schien wie das Wasser in einem Fluss. Aus einem vorüberollenden Kinderwagen schaute ihn ein pausbäckiges Kind an, doch als der Mann zurückstarrte, fing es an zu weinen und sein Gesicht verzerrte sich zu eine unansehnlichen Fratze. Auf dem Rückweg blieb er vor dem Schaufenster eines Waffenladens stehen und betrachtete den kalt glänzenden Stahl der Waffen. Er betrat den Laden und kaufte sich einen Revolver, Kaliber .45. Seine Gedanken rasten als er das Bürogebäude betrat und in den verspiegelten Aufzug stieg. Während der Fahrt betrachtete er sich im Spiegel und ihm wurde klar, warum das Kind zu weinen begonnen hatte. Es waren seine Augen. Sie waren kalt und grau. Wie der Alltag.
Ein Ping ertönte und die Türen schoben sich auseinander. Der Stahl der Waffe drückte sich an seinen Körper als er die Stufen zum Dach hinaufstieg. Der Mann stellte sich an die Kante und blickte hinunter. Hier befand er sich also, der Wasserfall der Zivilisation, dessen Fluten sich in ewige Einöde ergossen. Er zog die Waffe und presste sich den Stahl an die Schläfen.
Das Leben war so langweilig.