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Flugreise

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Flugreise

Flugreise

„An jedem Flughafen gibt es ein Einsatzfahrzeug, dessen einzige Aufgabe darin besteht, Farbe zu versprühen. Warum, fragen Sie sich? Falls eine Maschine runterkommt, wird damit das Fluglinien-Logo des brennenden Wracks übermalt, bevor die ersten Filmaufnahmen gemacht werden können.“

Warum erzählt er mir das? Gehört er zu denen, die gerne Angst verbreiten. Den Schock in anderer Menschen Augen sehen zu wollen. Denen, die ihre Gleichgültigkeit auf mich übertragen. Ich kenne den Mann neben mir nicht. Wir sind uns auf diesem Flug zum ersten Mal begegnet, und wir werden uns in Zukunft auch nicht wiedersehen.
Mir scheint seine Aussage nichts auszumachen, will ich ihm zu verstehen geben. Ich blicke in seine Richtung. Er starrt auf das Flugmagazin auf seinem Tisch und betrachtet einen Artikel über südkoreanische Inselgruppen. Ein weiterer Passagier huscht durch den Gang an mir vorbei zum Heck des Fliegers.
„Steht in jedem Flughafen-Notfallprotokoll. Eigentlich ganz interessant zu lesen. Nur, dass es niemand tut.“, fährt er fort.

Der Flug dauerte bislang gute 5 Stunden, wir müssen uns irgendwo über dem dämmerigen, frühmorgendlichem Nirgendwo des Atlantiks befinden. Die Sonne ging vor 2 Stunden auf und zieht nun ganz langsam ihre Bahn hinter uns her, nein eigentlich steht sie seit geraumer Zeit einfach am gleichen Ort des Firmaments. Wir bewegen uns zu ihrer Position relativ gesehen gar nicht, und sie tut es auch nicht. Der globale Ereignishorizont. Wenn schon keine kosmische Allgegenwarts-Physik am Werke ist, so dann doch wenigstens die unvermeidliche Monotonie des grauen Himmels und des blauen Wassers tief unter uns. Hier entsteht das Nichts. Hier oben in den Wolken der Erde. Wir schweben zwischen unserer kleinen Bordwelt und der tiefen, sinnlosen Leere, die uns hier allüberall umgibt.

Sicherlich bewegen wir uns auf den Horizont zu, absolut gesehen. Aber er ist nicht greifbar für uns. Nicht einmal sichtbar. So fühlen wir uns, wie eine leere Idee, die in den Köpfen der Menschen wandert, bis sie unlängst wieder vergessen sein wird. Ankunft am Zielort in ca 5 Stunden, Halbzeit bislang. Am Startort eingecheckt, den Boden verloren, die bekannte Welt zurückgelassen. Ankunft am Ziel. Check-in zurück in unser Leben. Die nichtmaterielle Schlucht verlassen. Ein neuer Anfang mit neuen Vorsätzen. Wir werden wieder in den Köpfen derjenigen aufleben, die uns vor einem halben Tag, absolut gesehen, aufgegeben haben. Freunde, Familie, Geschäftspartner. Ein jeder unserer Mitreisenden hat seinen Anker, der ihn erwarten wird. Und einen Teil nehmen wir mit uns. Akten, Koffer, Handgepäck.

Fragen sich Reisende denn niemals, ob sie überhaupt ankommen werden? So verloren zu sein zwischen den Welten. Was passiert, wenn wir weder unseren Weg finden noch die Rückreise antreten wollen. Nüchtern betrachtet werden wir in das Meer dazwischen stürzen. Und sonst? Wird man uns vergessen? Wird man uns suchen, hier in der Hülle der Existenzlosigkeit. Nein, das Meer wird uns verschlucken. Ein stiller und kurzer Knall wird unser Dasein beenden, danach wird rein gar nichts überleben. Man würde versuchen, unsere Leichen zu bergen, aber auf dem Meer ist das aussichtslos. Ein schönes, nasses Grab hätten wir uns dann ausgesucht. Anders als auf dem Landweg. Ein verlangsamender Sturz in bewaldete Landschaften. Die Tragflächen reißen ab, Flugbenzin sprüht haarfein in unser Gesicht. Ätzende Schmerzen werden durch die zündende Erlösung der aufschreckenden Flammen beendet.
Jedes mal, wenn ich in einem Flugzeug sitze, bitte ich Gott um mein Schicksal. Eine zerbombte Tragfläche, eine Entführung, eine Luftkollision. Nichts geschieht. Mein Leben soll einen anderen Verlauf annehmen. Statistisch ist die Luftfahrt das sicherste Verkehrsmittel der Welt. Leider. Ich muss viel reisen. Seit Jahren bin ich in meinem Geschäftsbereich tätig. Und ich lebe noch. Ich warte auf meinen Tag. Ob es heute der Fall sein konnte. Vieles spricht dafür. Aber auch dies war schon oft der Fall. Ich habe Bilder von verbrannten Körpern gesehen. Auf diese Art zu sterben kann ich mir nicht vorstellen. Deshalb vermeide ich Über-Land-Flüge, nehme stattdessen Bahnverbindungen und verzichte auf Autofahrten. Aber ich liebe Ozean-Flüge. Schneller und sicherer Tod.

Erst jetzt schaut mein Nachbar auf. Der Blick hinter seiner dunklen Sonnenbrille mustert mich. Ich schließe meine Augen.
„Ich habe sie gelesen“, antworte ich ihm. „Ich habe sie sogar geschrieben.“

 

Echt optimal zu lesen für jemanden, der in ca. 60 Stunden fliegt.... Vielleicht sollte ich morgen mal mein Testament verfassen? :D

Ach, Deine Geschichte: Sie wirkt.... ;)

Alles liebe
Susi

 

Kann man die Geschichte irgendwie mit den Ereignissen vom 11. September in Verbindung bringen?

 

@QuentinT. - Zitat:"Kann man die Geschichte irgendwie mit den Ereignissen vom 11. September in Verbindung bringen?"

- Wenn man sie gelesen hat, erübrigt sich Deine Frage eigentlich......

 

Zur Erklärung:
"Die Tragflächen reißen ab, Flugbenzin sprüht haarfein in unser Gesicht. Ätzende Schmerzen werden durch die zündende Erlösung der aufschreckenden Flammen beendet."
Sinngemäß aus Bret Easton Ellis' "Glamorama" übernommen.

"Jedes mal, wenn ich in einem Flugzeug sitze, bitte ich Gott um mein Schicksal. Eine zerbombte Tragfläche, eine Entführung, eine Luftkollision."
Sinngemäß aus "Fight Club" übernommen.
:)

C.

 

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