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Flug ins Schwarze
Einer der zwei Männer feuerte mit der Schrotflinte. Der gejagte Mann mit dem Hut presste sich in panischer Angst an die Rückseite des Lieferwagens. Würde das das Ende sein? Der Einschlag der Schrotkugeln in den Wagen dröhnte in den Ohren. Plötzlich wandelte sich das Bild zu einem tiefen Schwarz, es ertönte ein gleichmässiges Rauschen. Verärgert riss ich die Kopfhörer von meinem Kopf. Der Bildschirm, der im vorderen Sitz eingebaut war, gab keine Lebenszeichen mehr von sich. Gelangweilt lehnte ich mich in den Sessel, genau genommen in einen Flugzeugsitz und sah mich um. In derselben Reihe sassen noch eine Frau, die meiner Einschätzung gemäss etwa gegen die dreissig Jahre alt war und ein etwa vierjähriger Junge. Das monotone Dröhnen der Flugzeugtriebwerke drang in meine Ohren und machte mich schläfrig. Meine Augenlieder wurden schwer und schlossen sich gegen meinen Willen. Ich gab schliesslich nach und nickte ein. Als ich im Begriff war in die Traumwelt abzugleiten, spürte ich einen leichten Druck auf meiner linken Schulter. Ich öffnete schlagartig meine Augen. Die fremde Frau lehnte sich an mich und sprach mit müder Stimme: „ Liebling, wann kommen wir an?“ Völlig überrumpelt konnte ich kein Wort herausbringen. Woher kennt sie mich? Warum kenne ich sie nicht? Tausend Fragen warfen sich in diesem Moment auf und es fiel mir nichts Besseres ein, als zu antworten: „Ich, ich… weiss es nicht.“ - „Geht es dir gut?“, fragte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck, wohl merkend meine Unruhe. Nun musterte ich die Fremde aufmerksamer als zuvor. Sie hatte dunkelblonde Haare, die sachte auf ihre entblösste Schulter fielen, ihre funkelnden Augen hatten ein tiefes Grün, welches durch die Lichteinstrahlung verschiedene Farbvariationen aufwies. Sie faszinierte mich auf eine ganz besondere Art und Weise. Ich versuchte in ihre Seele zu blicken, doch sie blieb mir fremd, verschlossen.
Die Laute, die ihr Mund zu Worten formte, rissen mich aus meinen Gedanken. „Hast du mich nicht gehört?“, sprach sie nun mit einem verärgerten Unterton. „Doch, doch es ist nur…, ich bin müde.“, kam es zögerlich aus meinem Mund hervor. Doch in Wirklichkeit war ich jetzt hellwach. Die ganze Sache war mir nicht geheuer. Wiederum schloss ich die Augen um weiteren unangenehmen Fragen zu entgehen. Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren, doch es handelte sich um einen Leerlaufprozess. Ich fand keine Erklärung für das, was hier vor sich geht.
Schliesslich obsiegte die Neugier über die Furcht und veranlasste mich dazu, durch schmale Augenschlitze um mich zu blicken, wobei ich mir etwas albern vorkam. Es fiel mir erst jetzt auf, dass ich einen Ring trug, einen Ehering! Möglichst unauffällig schielte ich auf die Hand der Fremden. Mein Verdacht bestätigte sich: auch an ihrem Finger befand sich ein Ehering selber Machart.
Völlig unvermittelt erhob sie sich und bemerkte mit gedämpfter Stimme: „Ich muss mal kurz aufs WC, passt du bitte auf Marvin auf?“. Ich öffnete meine Augen ganz und gab prompt zur Antwort: „Na klar.“ , mit möglichst selbstverständlichem Tonfall. Marvin? Habe ich ihm diesen bescheuerten Namen gegeben? Langsam wurde das ganze wie eine Farce für mich. Das war zu komisch um wahr zu sein! Nun wandte ich meine Aufmerksamkeit dem kleinen Jungen, der versunken in dem für ihn viel zu grossen Sitz sass und abwesend einen Trickfilm anschaute. Seine grossen, kindlichen Augen verfolgten das Geschehen auf dem kleinen Bildschirm. „Marvin!“, rief ich ihm zu, worauf er aber keine Reaktion zeigte. Ich schob mich in seine Richtung und tippte ihm auf die Schulter, wobei er erschrocken zusammenzuckte. Zum ersten Mal erblickte ich das Gesicht meines vermeintlichen Sohnes. Hatte es irgendeine Ähnlichkeit zu dem meinen? Er nahm den Kopfhörer ab und umarmte mich freudig. Seine kurzen Arme umfassten mich nicht ganz. Trotz der ausserordentlich rührenden Situation empfand ich keine Verbundenheit, keine Vertrautheit. Alles kam mir so befremdend vor, sodass ich am liebsten gar nicht hier gewesen wäre. In diesem Augenblick ertönte eine Frauenstimme aus den Lautsprecher des Flugzeugs: „ Aufgrund eines defekten Motors sind wir gezwungen eine Notlandung durchzuführen. Bitte verhalten Sie sich ruhig und bleiben Sie auf Ihren Plätzen, weitere Anweisungen folgen.“
Ich schluckte schwer und sah betreten zu Boden. Es herrschte eine bedrückende Stimmung in der gesamten Kabine. Ist das das Ende? Ich war noch nicht bereit zu sterben. Die Farce nahm wohl eine tragische Wende. Dann tauchte die Fremde wieder auf. Sie blickte mich entsetzt an. Ich konnte dieselben Fragen in ihrem Gesicht lesen. Ich warf einen Blick nach draussen. Nichts als blaue Masse war da unten zu erkennen. Ein Überleben erschien mir unwahrscheinlich. Was macht man in einer solchen Situation? Manche würden in Tränen ausbrechen und andere ihre Stossgebete gen Himmel schicken, manche vielleicht durchdrehen, doch ich blieb Gedankenverloren in meinem Sitz. Die Frau liess sich in den benachbarten Sitz fallen. „Tja so wie’s aussieht fallen unsere Ferienpläne wohl ins Wasser.“, sagte sie und versuchte tapfer zu sein, doch dann schluchzte sie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Mit zitternder Stimme sagte sie: „Wieso gerade wir?!“ – „Ich weiss es nicht“, war das Einzige, das ich ihr entgegnen konnte. Das Flugzeug verlor rasch an Höhe. Marvin machte seinem Ärger Luft: „Ich mag das Gefühl nicht wenn wir landen.“ Was sollte ich ihm sagen? Etwa, dass alles gut wird oder so anderes sinnloses Gelaber? Ich entschied mich für den ehrlichen Weg. „Hör mir bitte gut zu Marvin, es kann gut sein, dass wir bald nicht mehr auf dieser Erde sind, verstehst du?“ –„Du meinst wir werden woanders sein? Wo?“ –„Ich kann es dir nicht sagen. Du musst jetzt einfach tapfer sein. Es wird eine schlimme Landung geben.“ – „Okay, das mach ich!“, sagte Marvin mit ernster Miene. Die Frau klammerte sich an mich. Mein Herz hörte sich wie ein verrückter Trommelspieler an. Ich umarmte sie fest und spürte ihre heissen Tränen an meiner Wange. Ich schlang ebenfalls den Arm um Marvin. „Wir müssen jetzt stark sein.“, flüsterte ich ihnen zu. Ich staunte über meine eigenen Worte, doch jetzt rückte diese kleine Welt zusammen. Fremd und doch vertraut, dachte ich mir. Die Frau sagte mit schwacher Stimme: „Weisst du, ich habe dich betrogen mit einem Anderen…, ich habe dich so oft belogen. Ich habe dich nicht mehr so geliebt wie du es verdient hast, ich war… untreu.“ Das letzte Wort sagte sie besonders leise. Überrascht von diesem Geständnis konnte ich nur nicken und drückte ihre Hand. Ein weiterer Blick aus dem Fenster verriet mir, dass das Schicksal nicht mehr länger auf sich warten würde. Der Horizont war bereits nicht mehr zu sehen. Ich war zögerlich, trotzig es anzunehmen, mein Schicksal. Dann kamen auch mir Tränen. Es überfiel mich eine grosse Einsamkeit, als ob ich zeitlos an irgendeinem verlassenen Ort wäre.
Aus dem Lautsprecher kamen die letzten Worte des Piloten. Sie klangen unsicher und verzagt: „Ich bitte Sie alle, Ihren Kopf zwischen die Beine zu nehmen, Gott sei mit Ihnen.“
Ich tauschte einen letzten Blick mit meiner Frau und meinem Sohn aus und dann gab es einen gewaltigen Ruck. Ich wurde nach vorne geschleudert, habe sie aus den Augen verloren, stiess meinen Kopf an etwas Hartem. Die Schmerzen vermengten sich mit einem ohrenbetäubenden Krach und gingen in ein dumpfes Pochen über. Mit wurde schwarz vor Augen. Die Schmerzen schienen mich zu überwältigen. Ohne Orientierung tastete ich nach ihnen. Dann hörte ich einen sehr lauten Knall. Es wurde heiss, sehr heiss.
Plötzlich wich die unerträgliche Hitze einer angenehmen Kühle, kaltes Nass umschlang meinen Körper. Sah das Ende so aus? Besser gesagt, fühlte es sich so an? Dann sah ich sie... Regungslos, umgeben von ultramarinblau schimmerndem Wasser. Ihre Augen hatten nun einen grauen Stich, oder war es eher ein blauer? Die Tränen waren verschwunden, weggewaschen vom mächtigen Ozean. Welch eine Grazie. Alles war egal, es zählte nur noch dieser Augenblick, er dürfte ewig andauern, dachte ich mir. Der Junge war bei ihr. Es sah so aus als würden sie sich halten und auf mich warten. Ich meinte ein Lächeln auf ihrer Lippe zu erkennen und eine Sehnsucht in seinen Augen. Ja, es war Zeit zu gehen. Ich wollte sie nicht warten lassen.