Was ist neu

Fluchtzeit

Mitglied
Beitritt
15.02.2003
Beiträge
434
Zuletzt bearbeitet:

Fluchtzeit

Mein Zimmer ist ein großes Auge, das nach dem Vater späht. Und ich sitze hinter dem Auge, atme Gedanken und zähle die Stunden, die vergangen sind, seit der Vater nicht mehr da ist. Das Fenster ist so groß, dass ich mich aufrecht in den Rahmen stellen könnte, die Arme ausbreiten könnte, wegfliegen könnte. Wenn die Kirschbäume nicht im Weg wären. An ihren Zweigen hängen keine Kirschen, sondern kleine braune Vögel. Die Vögel fliegen nicht weg, sie sind zu schwer und zu satt von all den Kirschen. Und sie singen auch nicht, denn da ist kein Platz mehr für Töne in ihren Körpern, das Kirschenfleisch füllt ihre Bäuche und bläht sie auf. Sie stecken ihre Köpfe unter die Flügel und sitzen da wie kleine Fäuste. Und wenn wie jetzt kein Wind weht, ist es still, es geht zu wie auf einer Versammlung sehr schüchterner Leute.

Irgendwo rechts oben ist die Sonne, ich sehe sie nicht, aber auf der Sonnenseite leuchten die Blätter der Kirschbäume, und weil man die Sonne nicht sieht, meint man fast, die Blätter leuchten ganz von selbst.
Zwischen den Bäumen ist eine Lücke, gerade so groß, dass das Dorf darin Platz hat. Das Dorf hat sich aus Angst vor dem Fluss an den Rücken des Hügels gekrallt, mit Fingern aus Zement. Vielleicht wartet es darauf, dass der Hügel aufsteht und wegläuft, das Dorf wie einen Rucksack auf dem Buckel tragend, aber bisher hat er sich nicht bewegt. Wahrscheinlich ist das Dorf zu schwer.
Vielleicht würde es schon reichen, die Kirche abzuwerfen, die plump und dick am Fuß des Hügels liegend zusehen musste, wie immer mehr Häuser an ihr vorbeizogen, immer weiter den Hang hinauf, als ob es da oben etwas zu holen gäbe.

Wenn ich aus den Augen kleine Schlitze mache, kann ich zwischen den Zweigen des Kirschbaums den Wald erkennen, aus dem sich die Straße wie eine Zunge am Fluss entlang ins Dorf schlängelt. Wenn ich lange genug aus dem Fenster sah, rutschte der Vater über die Zunge aus dem Wald. Der Vater war ein kleiner roter Punkt zwischen den Ästen, so groß wie eine Kirsche. Der kleine rote Punkt war ein Porsche. Damit ich schneller zuhause bin, sagte der Vater. Damit er schneller von zuhause weg ist, sagte die Mutter.
Damit er schneller gegen einen Baum fährt, sagte der Großvater mit einem Lächeln um die gelben Zähne.

Manchmal war der Porsche nicht schnell genug. Dann kam der Vater erst am nächsten Morgen aus dem Wald, oft sogar noch später. So lange kann kein Mensch die Augen zusammenkneifen, so lange kann ich nicht auf den Waldrand schauen. Weil dir sonst die Augen aus dem Kopf fallen, sagt die Mutter. Weil es dann zu dunkel ist, sage ich, und weil der Vater nicht leuchtet. Aber solange es draußen hell ist, kann ich warten, wenn es nötig ist sehr lange.
Ich fahre die Zunge mit den Fingerspitzen an der Fensterscheibe nach und zähle die Autos, besonders die roten. Und erst wenn drei Autos mit der gleichen Farbe nacheinander aus dem Wald gerutscht sind, erlaube ich mir, wegzugehen. Wie bei dem Spielautomaten, nur dass ich nichts gewinne, außer dem bösen Gesicht der Mutter, so stumpf und rund und rot wie ein Zweicentstück, das durch ein Loch aus irgendeiner Tasche gefallen ist, in irgendeinen Rinnstein, leider zu schmutzig, um noch von irgendwem aufgehoben zu werden.

Der Vater hebt sich selbst auf. Für Deineduweißtschonwenichmeine, sagt die Mutter. Für dich heißt sie immer noch Frau Bürkle, sagt der Vater. Wenn die Mutter nicht da ist, telefoniert er mit Frau Bürkle, dazu geht er in den Keller. Im Keller kann er lachen. Ich kann ihn trotzdem hören, durch die Rohre in der Wand, die sich wie hohle Spinnenbeine bis dicht unter die Dachbalken strecken und jedes Geräusch über das ganze Haus verteilen. Das Haus lacht mit dem Vater, wenn er mit Frau Bürkle telefoniert, unten im Keller, zwischen den Rohren, vielleicht auf der Stange eines rostigen Fahrrads sitzend, vielleicht auf der Kiste mit den Hochzeitsfotos, den Hosenboden in einem See aus Staub.

In meinem Zimmer gibt es keine Fotos, nur einen Spiegel, der mir einen halben Zwilling und einen ganzen Freund verschafft. Ein Freund, sagt man, ist jemand, mit dem man gemeinsam lachen kann. Leider hört der Zwilling einfach auf, da, wo sonst die Beine sind, unter dem Bauchnabel ist nichts mehr, nur die gelbe Wand. Der Kopf des Zwillings ist so groß wie der indische Ozean auf der Weltkarte hinter ihm. In der Karte stecken kleine Fähnchen, die meisten am Südpol. Als ich kleiner war, reichte meine Hand nicht höher. Inzwischen komme ich auf den Zehenspitzen stehend bis an die Ostsee. Jedes Fähnchen steht für einen Ort, an dem ich gerne wäre. Und wenn ich groß bin. Und wenn du groß bist, sagt die Mutter, wirst du die Karte ein Stückchen höher an der Wand befestigen, weil dann auch deine Augen weiter oben sind.

Der Großvater war früher auch ein Fähnchen. Er nahm mich auf den Schoß und erzählte mir vom Krieg, und ich schaute in seinen Mund und stellte mir die Wörter als kleine Tiere vor, die nach Tabak riechend durch seine Zahnlücken an die Luft spazierten und von seiner Zunge nacheinander auf den Teppich purzelten. Obwohl der Krieg schon lange aus und vorbei ist, roch der Großvater immer noch nach Medizin und Tod. Und eine Pistole hatte er auch noch. Falls der Feind kommt, sagte er mit einem Lachen und einem Auge, das zuckte oder zwinkerte.
Irgendwann kam er dann wirklich, der Feind. Allerdings muss der Feind sehr klein gewesen sein, denn er hat sich im Kopf des Großvaters versteckt. Aber der Großvater hat ihn trotzdem erwischt.
Obwohl er doch so klein war, hatte der Feind anscheinend sehr viel Blut.
Der Großvater schläft jetzt, sagte der Vater später, ganz fest schläft er.
Siehst du, sagte die Mutter und schüttelte den Kopf, wir hätten den alten Sack doch in ein Heim stecken sollen.

Irgendwer hat die Schatten wieder zerrissen, wie Gummibänder. Das passiert nun schon zum zweiten Mal, seit die Mutter weg ist. Wenn die Schatten zu lang werden, gehen sie kaputt, mit dem Tag ist es genauso. Und die Mutter ist weg, um den Vater zu suchen. Er ist im Magen des Waldes gefangen wie in einem dunkelgrünen Wal, kann nicht raus, kommt nicht an die Zunge, weil er immer wieder abrutscht. Die Mutter hat mir Geld und Worte dagelassen. Auf einem Zettel: Bin bald wieder da. Essen im Kühlschrank.

Ich werde nichts essen.
Ich schließe die Augen, halte die Luft an und kann das Dorf atmen hören. Das Dorf hustet und röchelt und flüstert wie ein alter Mann. Ich brauche die Augen nicht zu öffnen, um zu sehen, wie der Wind das hellgrüne Meer aus Birken aufwühlt, sodass der Kirchturm, längst rot angelaufen, ertrinkt. Und auch der kleine Laden, der sich mit der Schulter an die Kirche lehnt, wird bald schließen müssen. Wegen dem Supermarkt, sagen die alten Leute. Wegen den alten Leuten, sagt die Mutter, weil sie bald alle tot sind und wer kauft dann noch da ein. Der Laden sieht aus wie ein Schuhkarton mit Fenstern, und die Alten gehen hin, um Brötchen und Worte zu erwerben und mit Worten und Geld zu bezahlen. Anderen Worten.

Bald wird es zu dunkel sein, um weiter auf den Vater zu warten. Zumindest, wenn der Mond nicht heller scheint als sonst, was nicht zu erwarten ist. Ich werde nichts essen, um leicht zu bleiben, leicht zu werden. Ich werde das Fenster öffnen, um den Wind hereinzulassen, werde ihn mit den Händen hineinschaufeln. Immer mehr Wind, bis das Zimmer voller Luft ist und sich aufbläht und davonfliegt wie ein Vogel mit nur einem Auge und mir in seinem Magen. Zuerst wird es die Fähnchen von der Karte rupfen, sie werden zur Erde trudeln, wirbeln und sich drehen, auf den Dächern werden sie liegenbleiben, auf den Gehsteigen und auf den Köpfen der alten Leute, als wären das die Orte, an denen ich gerne wäre. Aber niemand wird wissen, wo ich wirklich bin.
Auf der Suche nach dem Großvater, wird der Vater denken.
Auf der Suche nach dem Vater, wird die Mutter denken.
Ich denke, ich werde einfach weg sein.
Bin bald wieder da. Essen immer noch im Kühlschrank.

 

Hallo wolkenkind,

es passiert nichts und trotzdem eine Menge in deiner Geschichte. Du hast sie wie immer poetisch erzählt und die Kinderperspektive wunderbar eingehalten. So erleben Kinder die Streitigkeiten zu Hause. Das ist fast schon u schön für soviel Tristesse. An einer Stelle hast du den Kindermund für mein Gefühl etwas übertrieben, so dass ich beim Lesen gestolpert bin.

aber auf der Seite, wo die Sonne draufscheint, leuchten die Blätter der Kirschbäume ein bisschen,
Das ist aber natürlich nur mein persönlicher Eindruck.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim

Freut mich, dass dir auch die Geschichte gefallen hat.
Handlungsmäßig passiert (mal wieder) fast nichts, wie immer lag mein Hauptaugenmerk auf der Sprache.
Natürlich wird selbst ein Kind kaum so naiv denken, aber der wirkliche Kinderton würde wohl jeden Leser verschrecken ;)

Gruß
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind,

schöne Geschichte, mit vielen Bildern, die sehr stimmig sind für mich.

Nicht durchgängig allerdings, manches passt meiner Meinung nicht zur Gedankenwelt eines Kindes, z.B. "...und die Alten gehen hin, um Brötchen und Worte zu erwerben und mit Worten und Geld zu bezahlen."

Einmal zumindest wechselst du auch unmotiviert von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, bei dem Abschnitt mit dem Porsche.

Trotzdem, gefällt mir.

Gruß
Rainman

 

Danke auch dir fürs Lesen, rainman.

Bei der Autostelle hab ich mich tatsächlich mit der Zeit verheddert, hoffentlich war das die einzige.
Dass nicht alles zur Gedankenwelt eines Kindes passt, hab ich mir schon gedacht. Das alles anzupassen würde die Grundstimmung meiner Meinung nach aber zu stark verändern, außerdem lassen sich die Gedanken eines Kindes wohl nie eins zu eins übertragen.

LG
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind,
wow, was für Formulierungen.Die Beschreibung des Dorfes und des Waldes, einfach genial. Ok, vielleicht wirken manche Formulierungen wirklich nicht so ganz, als ob sie ein Kind formuliert hätte, aber es hängt ja auch davon ab, wie alt das Kind ist. An welches Alter hattest Du denn gedacht?
Ansonsten wirklich gelungen. *malschnelleinenwolkenkindfanclubgründ*

LG
Blanca

 

Wow, ziemlich tiefe Sätze, man hat Angst, hineinzufallen.
Die Formulierung über den Tod des Großvaters ist wirklich einzigartig, mein Respekt!
Und wer behauptet, dass nicht viel passiert? Es ist sogar sehr viel passiert, eben nur nicht mit Wörtern wie "plötzlich" und "auf einmal".
Ich würde vielleicht an der Überschrift feilen, sie passt meiner Meinung nach nicht in die Farbe des Textes.
"wolkenkindfanclubanschließ"

 

Hallo wolkenkind,

der Blickwinkel des Auges hat mir sehr gut gefallen.

Dass nichts passiert, kann ich aus dieser Perspektive nicht behaupten.

Liebe Grüße
fliegdurchdieZeit

 

Wunderschön gewebt, dicht und tragfähig, vom Muster ganz zu schweigen!:huldig:

Abgesehen vom vergangenen Porsche fiel mir nur eines auf:

Zuerst wird es die Fähnchen von der Karte rupfen

Ist nicht eher der Wind der Rupfer?

Wird künftig nur noch Wolkenkinder rauben, die spinnen schöner!

 

Hallo Wolkenkind, sehr schöner Stil.
Auch die Vergleiche, obwohl sie ganz einfach sind, oder gerade deshalb klingen sehr gut. z. b. die sache mit den schüchternen Menschen auf einer Versammlung. Bedächtig auch die Wortwahl.
Der letzte Satz passt supergut, und rundet alles schön ab.

Liebe grüsse stefan

 

So, wieder da.

Ich weiß gar nicht, was ich zu den Antworten sagen soll außer: Danke :)
Freut mich, dass die Sätze anscheinend trotzdem verständlich sind, trotz der vielen Andeutungen.

Zum Titel: In der Geschichte fliehen alle, jeder auf seine Weise, erst der Großvater, dann der Vater und die Mutter hinterher, sogar das Dorf will weg...

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind

Wunderschön dicht und toll formuliert, von Dir ist man langsam gar nichts anderes mehr gewohnt.... Mir hat auch diese Geschichte wieder ausgezeichnet gefallen, die Seitenhiebe der Eltern, der tod des Großvaters, das Essen im Kühlschrank, dass da ewig stehen wird... Diese Beschreibungen der zerissenen Athmosphäre gelingen Dir ausgezeichnet.

Schöne Grüße
Anne

 

Hallo Anne

Ich warte ja immer noch darauf, dass dir mal eine meiner Geschichten nicht gefällt ;)
Hier hab ich nochmal richtig mit Bildern um mich geworfen, um die dünne Handlung einzupacken. Ähnlich wie bei der Regenzeiten-Geschichte, nur besser :)

Lieben Gruß
wolkenkind

 

Servus Wolkenkind!

Eine Geschichte die man auf der Zunge zergehen lassen kann, bei der man sich die Augen rubbelt um noch klarer dieses herrlich beschriebene Dorf zu erblicken, vielleicht sogar noch eigenes entdecken kann und ein Kind zwischen innerer Wahrnehmung und äußerer Selbstauflösung erleben darf - ich freu mich darauf alle deine Sommergeschichten herausszufischen, sie zu lesen ist wie Essen von schokoumhüllten Früchten - mmmmh.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hallo Eva,

Danke für deine wie immer schön formulierte Antwort. Hoffentlich rebelliert dein Magen nicht gegen die schokoumhüllten Früchte, wenn du dich durch meine Geschichten knabberst.
Würde mich sehr interessieren, ob du, die du ja auch meine älteren Texte gelesen hast, irgendeine Weiterentwicklung siehst, ich hab nämlich immer noch den Verdacht, dass sich die Frucht hinter der Schokoumhüllung versteckt ;)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Liebes Wolkenkind!

Mir scheinen die Geschichten realitätsbezogener werden. Dadurch werden die Menschen und Schicksale greifbarer, plastischer, weniger verschleiert - was ihnen aber vielleicht ein wenig den märchenhaften Zauber deiner Wortspielereien nimmt, um beim Vergleich zu bleiben - die Schoko wird dünnwandiger. Was sich nicht verliert und deine Geschichten auch so hervorhebt, ist der Spielraum den du der Phantasie des Lesers gibst auf deinen vielen Bildern im eigenen Rhythmus zu tanzen.

Eine Weiterentwicklung heißt für mich auf dem Weg in eine bestimmte Richtung zu sein, sich irgendwo hinentwickeln zu wollen. Wohin möchtest du denn oder in deinem Fall scheint mir die Frage angebrachter - wovon möchtest du denn wegkommen?

Lieben Gruß Eva

 

Danke für deine Einschätzung, eigentlich ist das genau die von mir angestrebte Richtung. Mehr Realitätsbezug, sozusagen als Basis, verschleiern kann man dann immer noch im Nachhinein. Die Wortspielereien sehe ich nur als Fingerübungen, je dezenter, desto besser. Freut mich natürlich zu hören, dass der Spaß beim Lesen trotzdem nicht auf der Strecke bleibt :cool:

 

Hallo wolkenkind,
Eine tiefe Verneigung vor diesem Text. Sehr traurige Bilder läßt du wie Seifenblasen in die Luft steigen und dazu die bittersüße Erkenntnis des Erwachsenwerdens.Die Worte haben mir sehr gut gefallen.
********merlinwolf*******

 

Hallo Merlinwolf

Freut mich, dass auch du etwas mit den Bildern anfangen konntest, anscheinend besitzen die einfachsten Worte doch immer noch die meiste Kraft.
Die nächste Geschichte wird allerdings wieder ganz anders :)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom