Mitglied
- Beitritt
- 11.10.2013
- Beiträge
- 5
Fluchtversuch
Flüchtling
„Ich liebe dich nicht mehr!“
„Ja und?“
Tja, das war eine gute Frage. Genaugenommen hatte ihre Beziehung nie auf Liebe aufgebaut. Carlo war sich dessen die ganze Zeit bewusst gewesen. Und er hatte immer vermutet, dass Lisa es auch gewusst hatte. Es war - er konnte leider kein schmeichelhafteres Wort dafür finden – bequem gewesen. Sie hatten einander gern, sie kamen gut miteinander aus. Seine Familie mochte sie. Ihre Freundinnen mochten ihn. Und er wollte einfach nicht allein sein. Aber wirkliche Liebe musste doch anders aussehen, oder?
Carlo hatte andere Beziehungen gehabt, andere Gefühle erlebt. Zuletzt war da diese verfluchte Schlampe Charlotte gewesen, die ihn in den anderthalb Jahren, die sie zusammen gewesen waren, womöglich die ersten anderthalb Monate nicht betrogen hatte und dann angeblich nochmal zwei Monate, nachdem sie ihm zu Silvester „einen“ Seitensprung gestanden hatte. Charlotte. Es juckte ihn in den Fingern. Das sollte es nicht. Er hatte es vor vier Jahren herausgefunden, hatte die Beziehung beendet, hatte vor immerhin zwei Jahren den Kontakt nach viel zu viel Zeit abgebrochen und trotzdem war sie letztlich der Grund für das alles hier gewesen.
„Willst du wirklich mit jemandem zusammen sein, der dich nicht liebt?“
„Jetzt mach dich nicht lächerlich, Carlo. Du hast mich nie geliebt. Was ist los? Hast du eine andere?“
Es war diese Kaltschnäuzigkeit, die er nicht umhin konnte, an Lisa zu bewundern. Ihr bisweilen aufflackernder vollkommen trockener Humor, ihre Art, Dinge anzugehen. Sie brachte ihn zum Lachen und er genoss es wirklich, mit ihr zusammen zu sein. Hatte es genossen. Es musste endlich Schluss damit sein.
„Und wenn es so wäre?“
„Dann ist das doch nicht mein Problem!“
Ein Teil von ihm hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde. Darin war Lisa anders als alle anderen Frauen, die er bislang gehabt hatte. Sie war praktisch veranlagt. Sie war gern mit ihm zusammen, das war klar. Und wahrscheinlich hatte sie einfach keine Lust, jemand anderen zu suchen.
„Du hättest damit kein Problem?“
„Womit? Du kriegst eh keine, die besser aussieht als ich.“
Die ganze Situation war völlig absurd. So sollte eine Trennung, sofern es denn eine war und momentan sah es nicht danach aus, einfach nicht aussehen. Es sollte geschrien und geweint werden, nicht verspottet. Oder wenn, dann zynisch und aus Verzweiflung heraus. Aber so war ihre Beziehung einfach nicht. So war Lisa nicht. Verdammt sollte sie sein.
„Was, wenn ich schon eine habe?“
„Dann wird es eh nicht lange dauern, bis du mich vermisst und bereust, mich jemals verlassen zu haben. Also warum sparen wir uns nicht den Stress und machen einfach nicht Schluss?“
„Aber... aber...“
„Fehlen dir die Worte?“ Lisa seufzte. „Willst du Sex mit ihr haben? Dann mach das. Versuch sie nicht zu schwängern und wag es nicht, mir eine Geschlechtskrankheit anzuschleppen, ich schleif dich zum Tierarzt und lass dich entlausen. Ansonsten ist mir das doch egal!“
Letztlich hatte Charlotte ihm auch angeboten, andere Frauen zu vögeln und sie zu behalten, aber sie hatte es jammernd und flehend auf allen Vieren getan, während sie an seiner Hose spielte. Aber das hier war anders. Charlotte hätte er zu seiner Sklavin machen können... Lisa war drauf und dran, ihn zu ihrem zu machen. Eigentlich faszinierend, wie ähnlich er und Charlotte sich waren. Nein! Nein! Nein! Daran wollte er jetzt nicht denken. Wie konnte er an so etwas denken?
„Was machen wir zum Abendessen?“
Carlo war einen Moment sprachlos. Für sie war das Thema abgehandelt. Er hatte ihr gesagt, dass er Schluss machen wollte, sie hatte dies verweigert und damit hatte sich das Gespräch erledigt. Sie würden zu Abend essen und danach vielleicht Sex haben, wobei er an andere Frauen denken würde wie schon so lange und dann würde es jeden Tag so weiter gehen.
„Ich weiß nicht, worauf hast du Lust?“
Und er machte mit! Er war kein Mann, nein, er war kein Mensch. Oder er liebte diese Frau wirklich. Wer wusste das schon? Es war doch beileibe nicht schlimm mit einer gutaussehenden, klugen Frau mit einem ausufernden Sexualtrieb zusammen zu sein, die ihn liebte und die er sehr mochte? Es würde alles so einfach machen. Und wenn er andere Frauen haben wollte, durfte er das anscheinend. Warum hatte er sich eigentlich so viel Mühe gegeben, seine Seitensprünge zu verbergen? Er war echt wie Charlotte, die dumme Schlampe.
„Lasagne!“
Dieses Strahlen in ihren Augen. Sie war... sie war wirklich einzigartig.
„Und als Nachtisch?“
Es musste immer Nachtisch geben für Lisa. Immer. Vielleicht liebte sie ihn auch nicht? Vielleicht war er ihr genauso bequem wie er ihr? Er war mit Sicherheit von seinen Anlagen her gutes Material für Kinder, er konnte kochen, er spülte, er behandelte sie wie die verwöhnte Prinzessin, die sie war... ja, warum sollte sie ihn gehen lassen?
„Himbeerquark mit Löffelbiskuits!“
„Natürlich, du verfressenes Monster!“
Manchmal kam er sich vor, als wäre sie seine Tochter. Naja, jedenfalls wenn es um Essen ging. Oder um die Heizung. Oder um Massagen. Er liebte das an ihr. Und er hasste es. Wahrscheinlich hasste er, dass er es liebte. Besonders hasste er sich selbst. Alles an ihm. Er war ein serviler Gnom, der nichts erreicht hatte und regelmäßig in Selbstmitleid verging. Er war fett. Er war ein Versager.
Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest. Ein schöner Spruch. Leider liebte er sich nicht und vielleicht war es gerade deshalb auch egal, wen er heiratete.
Rein vom Verstand wusste er, dass all das nicht stimmte. Er war groß, kräftig und gutaussehend. Er war intelligent, er war eloquent, ein guter Unterhalter. Er war witzig und konnte sehr charmant sein. Und er hatte durchaus etwas erreicht, auch beruflich. Sicher, er war weder reich noch berühmt, aber er war unabhängig und würde über kurz oder lang sogar eine Familie ernähren können, wenn alles so weiterlief wie bisher.
Nur, dies alles zu wissen und es zu empfinden waren zwei sehr verschiedene Paar Schuhe.
Und seine Beziehung zu Lisa war ihm eine ewige Erinnerung daran. Sie schien ihn zu vergöttern, sie war immer für ihn da, sie hörte ihm zu, auch wenn er nie den Eindruck hatte, dass sie ihn verstand und wenn er niedergeschlagen war, dann brachte sie ihn zum Lachen. Entweder wusste sie nicht, dass Lachen und Depressionen durchaus Hand in Hand gehen konnten oder es war ihr schlichtweg egal. Solange er lächelte war ihre Welt in Ordnung. Sie verschloss die Augen vor allem anderen.
„Ich geh einkaufen.“
Er zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf zum Supermarkt, um Hackfleisch, Pizzatomaten, geriebenen Käse, Schmand, Sahne, Quark, Tiefkühlhimbeeren, Milch und Löffelbiskuits zu besorgen. Vermutlich sollte er auch Zucker mitbringen, wahrscheinlich war keiner mehr da. Lasagneplatten waren da. Lasagneplatten waren immer da, gerade weil er das nie erwartete und immer neue kaufte.
Im Gehen zog er das Handy aus der Tasche und drückte auf Wahlwiederholung. Es tutete nur zweimal.
„Ich komme heute doch nicht, Charlotte!“
Prinzessin
„Ich liebe dich nicht mehr!“
Irgendetwas in Lisa zerbrach. Es war wie ein Stück Geschirr, es fühlte sich so an, als ob ein Teil ihres Körpers eigentlich nur auf einem Regalbrett gestanden hätte und nun heruntergefallen war, so dass irgendwo zwischen Hals und Bauchnabel eine Lücke war und in der Magengegend diese scharfkantigen Scherben, die sie von innen heraus bluten ließen. Aber sie wusste, dass sie niemals diese Empfindungen in ihr Gesicht entweichen lassen durfte. Sie hatten dort zu bleiben, wo sie hingehörten, tief in ihrer Seele eingesperrt, hinter gepanzerten Wänden. Nein, Schwäche hätte Mitleid hervorgerufen und wenn Lisa eins nicht ertrug, war es Mitleid.
„Ja und?“
Stolz registrierte Lisa, dass ihre Stimme nicht zitterte. Man konnte sie schlagen, man konnte sie treten, man konnte ihr das pochende Herz aus dem Leib reißen, aber brechen konnte man sie nie. Nicht einmal Carlo. Sie sah ihn an, bemüht, keine andere Emotion in ihr Gesicht zu lassen als Stolz und vielleicht einen Hauch von Verachtung. Er wusste gar nicht, wie sehr sie ihn liebte. Das durfte er nicht wissen. Wenn er es je herausgefunden hätte, wäre er geflohen und hätte sich aus Scham nie wieder gemeldet. Und sie wusste ganz genau, dass er nicht so empfand wie sie. Aber das war egal. Er gehörte ihr. Sie hatte ihn erobert und sie würde sich eher umbringen lassen, als ihn je wieder loszulassen. Und sie wusste genau, wie sie ihn halten konnte. Nur tat das, was sie tun musste, beinahe noch mehr weh als was er ihr sagte.
„Willst du wirklich mit jemandem zusammen sein, der dich nicht liebt?“
Fast hätte sie laut gelacht. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn Carlo sie geliebt hätte. Aber Liebe konnte so leicht sterben und sie wusste, was danach kam. Er hatte seine Ex-Freundin geliebt. Charlotte. Und sie hatte ihn geliebt, das wusste Lisa ganz ohne Zweifel. Es war in all den kurzen Sätzen, die er über sie verloren hatte, enthalten. Und jeder dieser Sätze sagte ihr noch eins: Carlo liebte auch Charlotte noch. Und er hasste sich dafür. Und er würde vielleicht nie wieder eine andere Frau lieben. Und das war eigentlich perfekt.
„Jetzt mach dich nicht lächerlich, Carlo. Du hast mich nie geliebt. Was ist los? Hast du eine andere?“
„Und wenn es so wäre?“
Daher wehte der Wind. Irgendwann musste es ja so kommen. Natürlich war er ihr nie treu gewesen. Damit musste sie leben. Aber warum sollte er sie für eine andere verlassen, wenn er doch noch Charlotte liebte? Tja, die Hoffnung starb wahrscheinlich zuletzt bei ihm, dass er noch einmal lieben konnte. Sie wusste es besser. Sie wusste, dass er sie mochte, bewunderte, dass er den Gedanken nicht ertragen konnte, ohne sie zu sein. Und wenn er nicht einmal sie lieben konnte, wen dann? Nur er selbst wusste es nicht. Ihre Hand zitterte leicht. Sie betete, dass er es nicht merken würde.
„Dann ist das doch nicht mein Problem!“
Sie spie ihm die Worte entgegen. Gut.
„Du hättest damit kein Problem?“
„Womit? Du kriegst eh keine, die besser aussieht als ich.“
Eisige Befriedigung durchfuhr sie. Natürlich sah sie gut aus und das wusste sie. Aber sie wusste auch, dass er andere haben konnte, die genauso gut aussahen wie sie. Oder besser. Nur er wusste es nicht. Dafür wusste sie, dass sie keinen haben konnte wie ihn. Natürlich sah er gut aus. Er hätte etwas abnehmen können. Aber wenn er sich von ihr trennte würde er das auch in kürzester Zeit schaffen. Er war so zerrissen. Er war ein Kunstwerk. Er war liebevoll, er trug sie auf Händen, oft sogar buchstäblich, wenn sie auf dem Sofa eingeschlafen war und ins Bett gebracht werden wollte. Er sorgte sich so sehr um sie. Eigentlich dachte er nie an sich selbst. Selbst das jetzt war ein Versuch, die Beziehung zu ihr zu beenden, bevor er ihr noch mehr weh tun konnte, auch wenn er das selbst nicht wusste. Er war alles, was sie hatte und alles, was sie sich wünschte. Er würde ihren Kindern ein großartiger Vater sein. Er war ihr Prinz, ihr dämlicher, alberner, zynischer, depressiver, ungepflegter leicht übergewichtiger Prinz. Und sie musste seine Königin sein. Und gerade jetzt entschied sich, ob sie das Zeug dazu hatte, den Thron zu halten.
„Was, wenn ich schon eine habe?“
„Dann wird es eh nicht lange dauern, bis du mich vermisst und bereust, mich jemals verlassen zu haben. Also warum sparen wir uns nicht den Stress und machen einfach nicht Schluss?“
Sie wusste, dass es grausam war, was sie tat. Sie nutzte ihr Wissen um seine Schwächen aus. Er bereute noch heute alles, was er als Kind falsch gemacht hatte, wen er womöglich verletzt haben könnte, wen er darum verloren hatte, auch wenn sich niemand der Betroffenen erinnern konnte. Er war anders. Er wusste gar nicht, wie man hasste, ihm war niemand gleichgültig, er verwechselte nur oft mangelnden Willen, mit ihm Sex haben zu wollen, mit mangelnder Zuneigung. Seine Art machte es schwierig mit ihm befreundet zu sein, denn seine kindliche Naivität war schonungslos.
„Aber... aber...“
„Fehlen dir die Worte?“ Lisa seufzte. „Willst du Sex mit ihr haben? Dann mach das. Versuch sie nicht zu schwängern und wag es nicht, mir eine Geschlechtskrankheit anzuschleppen, ich schleif dich zum Tierarzt und lass dich entlausen. Ansonsten ist mir das doch egal!“
Na und? Er hatte sie bisher betrogen und er würde es sowieso weiter tun. Warum es ihm nicht auf diese Art erlauben? Es würde ihm einen weiteren Vorteil offenbaren mit ihr zusammenzubleiben. Und außerdem zeigte sie ihm, wer hier stark war. Wenn sie seine Mutter sein musste, um ihn zu behalten, dann bitte sehr.
„Was machen wir zum Abendessen?“
Sie sah fast, wie ihm die Kinnlade herunterfiel. Es war ein bitterer Sieg. Sie war seine Mutter und Königin gewesen, nun war sie seine Tochter und Prinzessin. Er konnte jetzt gar nicht gehen. Sie befahl ihren Augen zu strahlen.
„Lasagne!“
Sie sah das Zucken seiner Mundwinkel.
„Und als Nachtisch?“
Er gehörte ihr. Und er würde sie nicht los. Und wenn sie jeden Monat diesen Kampf ausstehen müsste.
„Himbeerquark mit Löffelbiskuits!“
„Natürlich, du verfressenes Monster!“
Und ein Arschloch war er auch. Jetzt scherzte er, dabei hatte er eben noch ihr Herz gebrochen und war darauf herumgesprungen.
„Ich geh einkaufen.“
Er ging und zog die Tür hinter sich zu.
Lisa brach zusammen und weinte. Weinte genau fünf Minuten. Der Supermarkt war nicht weit weg und sie musste alle Spuren von Tränen noch aus ihrem Gesicht tilgen.
Die andere Frau
„Ich komme heute doch nicht, Charlotte!“
Ihr fiel das Telefon aus der Hand. Ihr wurde schwindelig. Sie setzte sich ungeschickt auf die Couch, die glücklicherweise genau hinter ihr stand. Der Raum war nur schwach beleuchtet von Dutzenden von Kerzen, die sie aufgestellt hatte. Es war warm, im Kamin brannte ein Feuer, davor war ein Fell ausgebreitet. Sie war nackt.
Es hatte alles perfekt sein sollen für ihn. Sie hätten sich geliebt vor dem Kamin. Er hätte sich in ihr ergossen, er hätte sie seine Frustration spüren lassen für das, was sie ihm damals angetan hatte und heute auch. Sie hatte ihn wieder haben gewollt. Niemand hatte seit ihm jemals wieder die Leere in ihr ausgefüllt, die er damals hinterlassen hatte, als er sie verdreckt, mit heruntergerissener Hose und zerfetztem Slip liegengelassen hatte. Sie hatte es verdient gehabt.
Aber jetzt hatte alles ganz anders werden sollen. Diesmal hätte sie alles richtig gemacht und sie hätte... sie wusste nicht, was sie hätte tun können, um ihn zu entschädigen. Man konnte nichts ungeschehen machen und sie wusste auch, dass sie selbst eigentlich keine sonderlich herausragenden Attribute besaß als dass sie schön war, verführerisch und... tja, ihr fiel noch nicht einmal ein dritter Punkt ein.
Sie war ein Nichts. Sie hauchte die Kerzen eine nach der anderen aus. Sie trat nackt auf den Balkon. Der Regen lief an ihren Brüsten herab und ihre Brustwarzen standen nach vorn von der Kälte. Sie bemerkte es und erfreute sich an dem Anblick, der, wie sie wusste, viele Männerherzen höher schlagen gelassen hätte. Sie stieg auf einen Stuhl und sah über das Geländer. Die Straße war belebt und weit unter ihr.
Sie setzte einen Fuß auf das Geländer.
Sie nahm den Fuß wieder vom Geländer herunter.