- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Flucht
Flucht
Hektisch lief ich über die Straße, während die Fußgängerampel schon längst wieder rot zeigte. Der Fahrer des Wagens, der mich beinahe erwischt hätte, bremste und zeigte mir einen Vogel. Lautes Hupen überdeckte das, was er mir hinterher rief. Doch ich hatte es eilig - um genau zu sein, war ich bereits exakt sechs Minuten zu spät dran. Es war einfach nicht mein Tag. Heute morgen hatte ich bereits verschlafen, war zu spät zur Arbeit gekommen, hatte zu allem Überfluß auch noch die volle Kaffeekanne fallen lassen und mich anschließend auch noch mit meinem Arbeitspensum verzettelt. Kurz: Ich war einfach total im Streß. Und der heiße Sommertag, der dichte Feierabendverkehr, die gereizten Menschen machten es mir auch nicht gerade einfacher. Gleichzeitig wartete meine Freundin auf mich. Wieder einmal. Ich hatte ihr gesagt, daß es eventuell Überstunden geben würde, doch das hatte sie nicht akzeptieren können.
'Du machst Dir Deine Überstunden selbst, das wissen wir doch beide, Caro. Du kommst. Und zwar pünktlich, daß Du's nur weißt.', waren ihre Worte am Telefon gewesen.
Und hier war ich nun, noch in Rock, Jacke und elendig heißer Strumpfhose, die Aktentasche in der Hand und versuchte, mehr oder weniger pünktlich zu meinem Treffen mit ihr zu kommen. Noch kurz ein unsicherer Sprint durch ein menschliches Labyrinth, dann war ich endlich bei meinem Auto. Ich schmiß die Aktentasche auf den Nebensitz, warf mich selbst hinter das Lenkrad und fuhr los. Ich kam bis zur ersten Ampel. Die Stadt! Blechschlangen reihten sich um mich herum ein, warteten auf das erlösende grüne Licht. Ich hatte es so oft versucht, es mir selbst auszureden, doch selbst jetzt, nach über einem Jahrzehnt, haßte ich die Stadt. Sie war laut, sie war grell, sie betäubte meine Sinne. Sie sorgte dafür, daß ich immer irgendwo hin hetzte, mit einem Auge auf der Uhr und mit einem Ohr an ihrem unruhigen, drängenden Puls. Jetzt, in der heißesten Zeit des Jahres, nahm sie mir die Luft zum atmen. Ich schaltete das Radio ein, übertönte die Hektik der Stadt mit Bassrhythmen. Nicht besser, aber leichter zu ertragen. Wie schön hatte ich mir den Auszug zu Hause damals vorgestellt! In die Stadt, in das pralle Leben! Einen tollen Job und am Wochenende durch die tollsten Clubs tanzen! Nur fort aus dem langweiligen Provinznest, das ich meine Heimat nannte und wo man nachmittags ohne Auto verloren war, wenn man es verlassen wollte. Meine Freundinnen ließ ich stolz erhobenen Hauptes hinter mir. Sollten sie doch Kaffeekränzchen machen und Arbeitsgruppen und Schützenfeste - ich war diejenige, die in die Stadt gehen und eine nette, kleine Wohnung inmitten des Lebens haben würde. Und ich hatte es in der Tat geschafft. Ich hatte einen relativ krisenfreien Job als Sekretärin, eine wundervolle kleine Wohnung mit Balkon, die ich mit zwei Wellensittichen teilte und war die Sorge los, ob ich im Winter überhaupt trotz eisglatter Straßen zum Einkaufen kommen würde. Und was noch? Vorsichtig fuhr ich an, überwand mit Mühe und etwas Rücksichtslosigkeit die Kreuzung und fuhr exakt bis zur nächsten weiter. Ich murmelte einige unchristliche Flüche vor mich hin, als die Ampel wegen so einem Schleicher auf rot sprang, bevor ich sie überwinden konnte. Der Schleicher trug einen Hut, hatte einen Wackeldackel auf der Ablage seines Mercedes stehen und fuhr mit aller Gemütsruhe über die gerade umgesprungene Ampel. Genervt schaltete ich das Radio ab. Sofort holte mich die hupende Realität der Blechkolonnen wieder ein. Lautes Quietschen ertönte hinter mir, so daß sich mir die Nackenhaare aufstellten, doch das dazugehörige blecherne Scheppern fehlte - es war wohl gerade noch einmal gutgegangen. Ich seufzte. Zu Hause war es nie so gewesen. Dort fuhr man das Auto aus der Garage des bankfinanzierten Eigenheimes und konnte einfach losfahren. Wann kam es schon vor, daß andere zur selben Zeit auf dieselbe Idee kamen? Aufpassen mußte man eher auf Traktoren, Erntemaschinen oder Kinder mit Fahrrädern und Rollschuhen. Einst hatte ich auch zu diesen Kindern gehört... Die Erinnerung an mich und meine Freundinnen mit Zöpfen und dünnen Beinen, die aus den leichten Sommerkleidern herausschauten, brachte mir ein Lächeln. Wie hatte ich es geliebt, über die abgeernteten Stoppelfelder zu rennen und Drachen steigen zu lassen! Und der Mädchenhügel. Wie hatte ich ihn vergessen können? Unweit unseres Hauses, zwischen Mais- und Getreidefeldern, hatte versteckt zwischen einigen Bäumen ein Hügel gelegen. Es war ein einfacher, grasbewachsener Hügel im Nichts, auf dem im Sommer alle möglichen Blüten gediehen. Ich und einige meiner Freundinnen nahmen diesen Hügel als den unseren in Besitz und verteidigten ihn mit aller Kraft gegen die Jungen des Dorfes. Wahrscheinlich begehrten sie den Hügel lediglich deshalb, weil wir ihn beanspruchten, doch das war uns egal. Wir warfen mit Kiefernzapfen, bemalten unsere Gesichter wie Indianer, bastelten Bogen und Pfeile, dachten uns immer neue Strategien aus, wie unser Hügel am besten zu verteidigen war. Manchmal war ich auf den Hügel gestiegen, hatte die Arme ausgebreitet und die Augen geschlossen, während der Wind durch meine gelösten Zöpfe fuhr. In diesen Momenten war ich nicht mehr Caro, das rothaarige Mädchen aus dem Dorf. In diesen Momenten war ich Wuhnia, die Königin des Windes und ich gebot über Wind und Wolken. Ach, es war so lang her... Doch wenn ich jetzt die Augen schloß - die Ampel war schließlich noch immer rot - konnte ich den Wind in meinen langen Haaren spüren, als hätte ich sie niemals abgeschnitten und hörte weit entfernt die Erntemaschinen. Ja, ich konnte sogar noch den würzigen Sommerduft riechen. Ja, da sah ich es vor mir, die Felder, die Bäume, meine Freundinnen, die hinter zwei Jungen aus dem Dorf herjagten. Waren es Markus und Jonas? Vielleicht. Ich lachte, nahm meinen Kiefernzapfen auf und rannte ihnen hinterher, spürte das Gras unter meinen nackten Füßen... Erschrocken öffnete ich die Augen wieder. Gerade sprang die Ampel um und ich fuhr automatisch an. Diese Erinnerung - ich hätte schwören können, daß ich wieder dagewesen war. Zu Hause, auf dem Hügel. Ich glaubte immer noch, das Rascheln des Windes in den Bäumen und das Lachen von Lilli zu hören, doch wie konnte das sein? Ich war keine Tagträumerin, ich wußte immer, wo ich mich befand. In meiner Welt hatten Träume keinen Platz mehr und ich war schon 13 Minuten zu spät. Doch ob ich es für wahrscheinlich hielt oder nicht, an der nächsten Ampel mußte ich ein weiteres Mal die Augen schließen. Sand. Salzgeruch. Kreischende Möwen und rauschende Wellen. Die Sonne leuchtete auf meiner Sandburg und ich schmückte sie mit kleinen weißen Muscheln, die ich am Wasser gesammelt hatte. Von hinten traf mich warmer, feuchter Sand im Rücken und ich drehte mich protestierend um. Gerade noch konnte ich Lilli davonrennen sehen und ich sprang lachend auf, die eine kleine Faust voll mit Sand, in der anderen eine letzte weiße Muschel....
Lautes Gehupe riß mich wieder in die Wirklichkeit. Es war längst wieder grün. Mit klopfendem Herzen setzte ich meinen Weg fort. Es war nicht mehr weit, doch es reichte lange nicht aus, um mich zu beruhigen. War es so, wenn man verrückt wurde, hatte die Stadt mich geschafft? Ich stellte den Wagen ab und starrte auf die Motorhaube. Die Augen ein weiteres Mal zu schließen, traute ich mich nicht. Wer weiß, wo ich dann wieder sein würde? Es war schön gewesen, zu jenen Orten meiner Kindheit zurückzukehren, ja. Doch die Realität, mit der mich diese beiden Erinnerungen getroffen hatte, war mir unheimlich. Ich hatte den Salzgeruch in der Nase gehabt, ich hatte das Gras gefühlt und ich ballte vergeblich meine Faust, um die rauhe Oberfläche des Kiefernzapfens wieder darin zu spüren. Ja, ich hatte Angst davor, die Augen erneut zu schließen, doch es zog mich mit ungeheurer Kraft dorthin zurück, zurück in die Unbeschwertheit jener Tage. Ich schloß die Augen gegen meinen Willen, ich mußte einfach. Doch nichts geschah. Nur ein entferntes Wellenrauschen hörte ich, das jedoch genauso gut vom Straßenverkehr stammen konnte. Enttäuscht verließ ich das Auto und zog meinen Rock glatt. Doch als ich die Tür abschließen wollte, öffnete ich sie noch einmal. Auf dem Sitz lag etwas, das vorher nicht dagewesen sein konnte. Vorsichtig hob ich es auf und betrachtete es ungläubig. Es war die Hälfte einer kleinen, weißen Jacobsmuschel mit einer abgebrochenen Ecke. Woher kam sie? Was suchte sie in meinem Wagen? Ich war seit jenem Sommer nicht wieder am Meer gewesen, wie sollte sie also auf meinen Sitz gekommen sein? Kopfschüttelnd ging ich die paar Schritte zum Haus, klingelte an und wartete darauf, eingelassen zu werden, noch immer die Muschel in der Hand.