Flucht
Ich will schlicht und ergreifend kein Dosenbier trinken. Das ist doch nichts, das ist irgendwie runtergekommen. Dann kann ich mich auch gleich dazu noch an ein Feuer setzen und mich danach verrußt ins Zelt legen. Das ist so widerlich, besonders der nächste Morgen, es ist die Hölle. Körper und Schlafsack (schon das Wort klingt nicht schön) sind Eins geworden. Das halbeingestürzte Zelt legt einen Teil seiner feucht süffigen Decke/ Wand auf dem Gesicht ab durch den Boden zeichnet sich irgendetwas Hartes ab, und da die Matratze schon längst luftentleert ist, ist der Abdruck des Harten auch im Rücken wieder zu entdecken. Luftmatratzen sind darauf programmiert, die Luft unmittelbar nach dem Einschlafen abzugeben. Was nicht das Schlechteste ist, kommt so doch dem nicht mehr Luft zu nennenden Gas im Zelt ein wenig Sauerstoff zu. Nein, das mache ich nicht mehr mit, das ist überwunden. Und dann diese Gesellschaft. Sie bildet die Kirsche auf der Torte der Unerträglichkeit. Es ist so furchtbar, was sich als Begleitung zum Zelten meldet. Das sind immer Schüler, bemitleidenswerte Würstchen. Abends dann die Gespräche, so wie Gespräche dann wohl sein müssen. Komisches Zeug, das sie aus ihrem Debatierclub mitgebracht haben, wird zum groß geplanten Inhalt. Nur manchmal als Alibi Kleidung. “Klamotten“ nennen sie diese Sachen. Als würden sie sich in ihren Drecksfetzen wohlfühlen. So, als ob sie sich das ausgesucht hätten. Ja, genau dieses oder jenes Teil muss es jetzt sein- von wegen. Ihr Geschmack ist verstümmelt. Hip- Hop Klamotten z.B. sind das Letzte. Aber ich schimpfe nun nicht über die Hosen, weil das zu alte Leute schon zu oft getan haben und keine Bemühungen machen, in naher Zukunft damit aufzuhören. Sie sagen „Ja, ja diese Hosen (die kenn ich!!!!), die sind so wie ein Zelt/ in denen man auch wohnen kann.“ Fickt euch mit dem dämlichen Gelaber. Das ist schon zu oft gehört, das habt ihr euch selber verbockt. Die Hosen sind bei ihnen siamesisch mit solchen Bemerkungen verbunden. Sweat- Shirts tragen Hip- Hopper auch, und zwar was für welche! Damit auch die kleinsten Schmachthappen noch nach Ghetto aussehen, stanzen die Firmen die aufgeplusterten Teile übergroß mit ihren Logos zu. Alte oder nur zu beschissene Leute haben auch hier eine abgedroschene Denkperspektive: „Die tragen gratis Werbung, da freuen sich die Firmen.“ Ja, ist ja gut, habt ihr toll erkannt.
Ich bin verabredet für heute Abend, natürlich. Wir wollen ein bisschen feiern, allerdings fehlt noch der Anlass. Gegen die Kunst der Kunstwerke will ich eine andere Kunst lehren: Die der Erfindung von Festen. Ich stimme Friedrich Nietzsche zu. Und wir sind unkreativ in dieser Kunst, uns fällt nie was ein. Da sitzen wir stundenlang in einer Bar und uns fällt nichts ein. Nur das eigentliche Ziel ist erfüllt: Wir sind zugedröhnt und haben uns gut unterhalten. Künstler sind nämlich gar nicht überall einfallsreich. Alles was außerhalb ihres Bereichs liegt, ist schwierig. Und unter uns ist keiner, der sich mit Festeerfinden beschäftigt. Mittlerweile haben wir das auch akzeptiert und trinken einfach so.
Auf dem Weg jetzt wieder das übliche Elend. Es ist so verloddert, aber das ist ja dann bekanntlich „Leben“. Hier wieder die Penner mit ihren Hüten voller Kleingeld. Naja, der Spirituosenladen nimmt das gerne. Das war schon wieder so ein Kommentar, den zu verachtende Leute sagen, nur habe ich ihn schöner formuliert. Dann diese Gassen, dieses Grau. Gut, es ist zwar dunkel, aber dennoch: Es ist grau. Nur nicht schön grau, sondern so ein Uns- Ist- Optik- Egal- Hauptsache- Funktional- Grau. Wie abgebrannt sehen dann auch immer die Eigentümer solcher Hässlichkeiten aus. Jeden Tag unterkellern diese Häuser noch die schlechte Alltagsästhetik, ich mag sie überhaupt nicht. Sie werden zunehmend abgefuckter.
Unter kleinen Leuten sagt man „Kneipe“ zu dem, wo ich jetzt angekommen bin. In meinem Fall sogar noch schlimmer: „Stammkneipe“. Die anderen sind noch nicht da, nur Stefan. Hier sitzen wir öfter zusammen, das ist eine wunderbare Atmosphäre. Man kann sich in gemütliche Halbsessel fallen lassen und alles trinken, was man sich vorstellen kann. Und auch wenn hier mal ein wenig Koks genossen wird, muss man nicht gleich mit hochrotem Kopf ein schlechtes Gewissen bekommen. Die Menschen hier sind zwar nicht alle zufrieden, aber auf jeden Fall hat ihr Verhalten durch und durch Stil. Man liegt nicht mit einer Hand am Bier auf dem Tresen und sondert weißlich dichten Schleim aus seinem Mund ab. Auch schwitzen hier die Menschen nicht ihre ganze Seele aus allen Poren und berichten dem Barkeeper von ihren selbst verursachten, aber natürlich fremdverschuldeten Misserfolgen. Man ist einfach elegant zurückhaltend. Und in dieser Bar gab es auch noch keine Schlägerei. Die Aggressoren solcher Theater, überwiegend ja der totalen Unterschicht angehörig, werden hier schon an der Tür ausselektiert. Wir kennen die Menschen hier fast nur vom Sehen, vielleicht mit Vornamen. Aber man spricht sich nicht unnötig an, das ist angenehm. Stefan ist einer meiner Freunde, er ist Maler und hat ein kleines Problem mit Drogen, aber das muss er wohl auch. Er ist sehr cool. „Hallo Benjamin, schön was Du da an hast.“, begrüßt er mich. „Hallo Stefan, was sagen die anderen? Wollten die auch noch vorbeikommen?“, entgegne ich. Seine Klamotten sehen scheiße aus. Aber das macht eigentlich nichts. Ich könnte ihm das auch sagen, werde das mit großer Sicherheit auch noch heute machen, nur passt es jetzt nicht in den Moment. „Ich hab deinen neuen Essay in der „Literaturkritik“ gelesen. Muss sagen, alle Achtung, hat mir gefallen. Wie Du da wieder unverschämt mit Gernhardt umgegangen bist, wunderbar erfrischend.“ Er liest meine Texte eher gerne, aber hält sich auch nicht mit herabsetzender Kritik zurück. So weiß ich, dass er ihn wirklich gut fand. Seine Bilder sind bei mir hoch angesehen. Ich habe natürlich einige in meiner Wohnung, sogar aufgehängt. Nicht, weil sie umsonst sind. „Ja, danke, ich fand ihn auch gut. Hat mir Spaß gemacht beim Verfassen, allerdings wollen die da immer so ausufernd viel Breite. Das schränkt ein, woanders ist das einfacher.“ Die anderen kommen auch langsam an. Ich habe die menschlich fortgeschrittenste Clique. Wir sind eng miteinander befreundet, aber trotzdem allesamt große Persönlichkeiten. Außenstehende erklären die Atmosphäre bei uns als anstrengend, und mit Sicherheit wäre sie das auch für viele Mitmenschen. Sie sind halt noch nicht so weit. Die meisten Menschen auf der Welt sind die ewigen Eckensteher, die an ihrer Entwicklungsstufe Festgefrorenen. Sie saugen sich an einengenden Tugenden und urinstinktwidriger Moral fest. In ihren Cliquen ist beispielsweise vernichtende Kritik aneinander einhergehend mit Freundschaftsbruch. Wie peinlich in den Augen einer höheren Gesellschaft, in Unseren. Auch verschweigen sie ihre negativen Empfindungen genau gegenüber denen, die sie gerade hören sollten. Stattdessen erzählen sie ausführlich bei Anderen. „Lästern“ sagen sie dazu. Lästern ist übrigens alles, was über Personen gesagt wird, die nicht anwesend sind- egal was geredet wird. Und Lästern ist das schlimmste Vergehen. Aber sie verkennen den Leidenden: Die Lästerer selbst sind es, weil sie nichts bewirken, wenn sie über andere „ablästern“ und die Betreffenden nicht zuhören können. Bei uns ist das anders, genau entgegengesetzt. Keiner macht einen Hehl aus sich. Wenn wir jemanden aus unserer Gemeinschaft gerade nicht mögen, dann schleudern wir drauflos- zielgerichtet ins Gesicht. So ist es am Schönsten, schließlich erreicht die Kritik genau die Richtigen. So ist die Chance auf Besserung am Größten. Auch wenn jemand ein Thema anschneidet, das den anderen nun überhaupt nicht interessiert oder der nur im Moment allgemein keine Lust auf ein Gespräch hat, werden diese Gefühle radikal geäußert. Und das Beste: Es geht in Ordnung. Das ist herrlich.
Als kleinen Gag haben wir uns überlegt, jetzt mal eine herkömmliche deutsche Schänke zu frequentieren. Einfach mal die Bestätigung holen. Wir sind angekommen. Wir treten ein und das sieht aus, als wenn ein Gewichtheber Fußball spielt: unbeholfen und regelunsicher. Wir machen uns über Kleidung und Sätze der Tresensitzer lustig, die mit ihrem fetten Arsch den Hocker komplett verschlingen. Das ist ein großer Spaß, aber schon hat so eine dezidierte Meinungssau lauthals vorgeschlagen, „das mal kurz vor der Tür zu klären“. Und um dann Vornehmheit zu behaupten und seinem unterdurchschnittlichen Gedächtnis Rechnung zu tragen: „Das klären wir draußen, nicht hier vor den Frauen.“ Wegen der anwesenden Frauen ist es aber gar nicht lohnenswert, die Örtlichkeit zu verlassen. Das „klären“ muss unbedingt in ihre Aussprüche. Das lieben sie. Schon die vielen jungen Nachwuchsasis ab 14 aufwärts, die ihr Leben lang Schützenfesten lokalpatriotisch die Treue halten werden, gewöhnen sich an dieses fahle Reden. Sie müssen sich auf jedem Fest dringend prügeln, damit sie am nächsten Tag in ihrer Kleinbürgerclique triumphieren können. Als Gründe für ausführliche Wutausbrüche werden flüchtige Blickstreifungen mit einer beliebigen Person herangezogen. Aber die Asis sind unschuldig. Denn oftmals ist die Freude am wortkargen Pöbeln und spendablen Schlagen schon zu einem Familienritus empor gekrochen. Zu Hause werden und wurden sie seit Nabelschnurabtrennung angehalten, den Kult fortzuführen. Ihre Eltern lehren eine richtig ausgeklügelte Auseinandersetzungsphilosophie mit jedem Körperteil, das sich bewegen kann. Außer dem Mund. Der kommt zu kurz. Aber umso besser können sie zuschlagen. Das ist wie bei Behinderten: Wenn eine Funktion des Körpers schlecht bis gar nicht existiert, bildet sich eine andere oftmals sehr viel intensiver aus. „Nein, das tut mir jetzt Leid, wir sind ja gerade erst gekommen und darüber hinaus wird für mich hoffentlich niemals ein Anlass bestehen, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. Allgemein sollte niemand auf der Welt mit Ihnen irgendwas führen. Ich denke da besonders an die Durchführung der Kopulation, da ja die Gefahr des Nachwuchses trotz allem Suff besteht. Das gehört in eine praktische Philosophie für die Frauen.“, enttäusche ich ihn und verlache nebenbei noch schnell sein Dasein. Er dreht sich zurück zu seinen Bierbekanntschaften, sie lachen und das klingt wie ein Traktor, der nach langem Winter wieder gestartet wird. Einer fängt an, durch die Gegend zu krachen, ein sicheres Indiz für das lebhafte Austauschen von Überschriften aus Dreckspolitblättern. Beleidigt ist er aber wohl nicht, denn schließlich hat er nach dem ersten Nebensatz schon abgeschaltet. Es ist denkbar, dass er mir später vorsichtshalber doch ein paar reinhauen wird, sofern er vor Alkohol nicht schon erhebliche Sinnesbetäubungen zu beklagen hat.
Wir ziehen es vor, uns dieser lebensfeindlichen Atmosphäre schnellstmöglich zu entziehen. Das könnte ansonsten übel für besonders mich enden. Aber so schlimm würde es wahrscheinlich doch nicht werden, schließlich sind wir auch zu viert. Habe ich das gerade tatsächlich gedacht? Das ist ja furchtbar, wie schnell doch die Umgebung einen Menschen bestimmen kann. Da reihe ich mich schon nach nicht mal 15 Minuten bei diesen Verlierern ein. Wir müssen hier raus, sonst verende ich genauso. Der Beschluss, bei Stefan den restlichen Abend zu verbringen, stößt zwar nicht auf einhellige Meinungen, aber letztlich haben wir ihn doch überredet. Jetzt haben wir nämlich Blut geleckt und wollen unser gesellschaftliches Erinnerungsexperiment fortführen, indem wir Pizza nach Hause bestellen. Als Würdigung der zwar guten, aber zum Glück vergangenen Zeit als Schüler. Das haben wir damals immer gerne gemacht. Einer musste in die Videothek fahren und das Video besorgen. Nur leider gab es DAS Video nicht, weil nie ein Einvernehmen bestand. Oder ein ausgewählter Film gerade verliehen war. Aber egal, wie es aussah, der Videobesorger war der Arsch. Aber erst das Pizzabestellen kennzeichnete einen Videoabend als einen solchen. Und wir kopieren jetzt das Procedere in jedem Punkt. Es darf natürlich nicht sofort klar sein, wer was mit was drauf essen will und wer nun was unter keinen Umständen haben will. Es muss vielmehr ein kopfloses Durcheinander herrschen, bis der Bestellungenaufschreiber nervlich einer berufstätigen Mutter von fünf Kindern ähnelt. Wir kriegens leider nicht so gut hin wie damals, wir sind ja nur vier Leute. Und dann die übliche Frage: Wer ruft an? Niemand möchte, weil alle lieber sitzen bleiben und nicht mit dem ausländischen Pizzabäcker über die Bestellung diskutieren wollen. Denn der kann keine Entscheidungen akzeptieren und schlägt immer etwas anderes vor, genauso wie bei McDonald’s. Auch bei der zu beliefernden Adresse ist er anderer Meinung. Es dauert lange und bedarf der Geduld eines Grundschullehrers, bis er überzeugt ist. Das ist Stress. Aber ich raffe mich auf, habe schließlich Hunger aber nicht nur das. Ich habe sogar Glück: Es ist kein Ausländer! So laufen die Mahlzeiten problemlos über meine Lippen. „Halbe bis Dreiviertelstunde“, verspricht der nette Gesprächspartner, und er hat Unrecht, sagt die Erfahrung. Hat er seit je her, und das macht ihn menschlich.
Der Pizzabringdienst erfüllt seinen Dienst und bringt die Pizza, daher kommt die Bezeichnung. Und das ist in diesem Fall genau sein Problem: Er bringt eben nur Pizza. Von den zusätzlich bestellten Salaten will er nichts wissen. Im Eifer des Gefechts beschließe ich routiniert zu meckern, doch es bleibt, wie so oft, nur beim harmlosen Scherzen. Der Fahrer reagiert auch routiniert, wir sind ja alle Profis. Bevor wir uns die Pizza schmecken lassen können, muss sie erst noch entfettet werden. Das geschieht ganz unkonventionell, indem man sie mit der Oberseite auf die schon längst durchnässte, braune Pappe klatscht. Dieser Pappschwamm dient bei den meisten Abenden auch als Teller, da kaum jemand Lust hat, Auf- und Abzuräumen. Außerdem will man nicht gerne spießig sein. Des I- Tüpfelchens wegen verzichten wir auch auf jegliches Besteck. Die einen nehmen die ganze Pizza wie sie ist in zwei Hände und beißen kleine Häppchen heraus, andere übertreiben es bis ins Groteske und rollen sie zusammen. Letzteres hat den unliebsamen Doppelwhoppereffekt, dass hinten rauskommt, was später eigentlich vorne in den Mund soll. Nur nicht in dem Maße wie bei Burger King, weil beim Belegen gespart wurde. Und das ist nicht mal geschmacksbeeinträchtigend