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Fluch der Wölfe
„Nichts ist von Dauer, Jonathan. Das musst dir immer vor Augen halten, so lange du lebst. Vergiss niemals, dass du nur dieses eine Leben hast“, keuchte der Großvater, einem Hauch gleich, zu dem Jungen. Alt und krank, gar kümmerlich lag er in seinem Bett und man sah ihm die Mühe an, seine spröden, eingefallenen Lippen zu bewegen. Das abgedunkelte, holzverkleidete Zimmer hatte sich in letzter Zeit gewandelt und sich als das entpuppt, was der alte Mann am meisten fürchtete – zu einem düsteren Gefängnis, das sich von seinem Lebensgeist zu nähren schien. Mit jedem Tag in diesem verschnörkelten Kerker schien ein Stück seiner Seele gestorben zu sein. Die undichten Fenster waren machtlos gegen den ständig anrückenden Wind, der das Haus seit Wochen belagerte. Kerzenlicht flackerte auf der Kommode und kämpfte gegen die Dunkelheit. Das Resultat waren wild umhertanzende Schatten, die sich wie Aasgeier über den alten Mann zu stürzen schienen. Dichte Wolkenschwaden hingen tagsüber vor der Sonne und ließen kaum Licht in das Zimmer. Hin und wieder schaffte es ein vereinzelter, schwacher Lichtstrahl für einen Moment des Friedens, den Raum zu erhellen. Es war, als ob irgendetwas diese Wolken darauf abrichtete, sich trotz des Windes, wie eine Festung vor dem Haus zu postieren. Als sei etwas in den Wäldern vor dem Haus, das nicht zu erklären war.
Jonathan saß stumm auf dem alten Holzstuhl und lauschte angestrengt, was ihm sein Großvater zu berichten hatte. Er war noch zu klein, um das alles zu verstehen aber er wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Er hatte gehofft, dass sie noch mehr Zeit gehabt hätten aber die Krankheit, die anfangs so schleichend kam, hatte seinen Opa nun fest in ihrer Gewalt und würde nicht eher ruhen, ehe sie seine Energie vollends verzehrt hatte.
„Aber Großvater, was genau meinst du damit? Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst. Bitte, ich verstehe das nicht“, schluchzte der kleine Jonathan und brachte es kaum übers Herz, seinen Opa so schwach daliegen zu sehen. Noch vor einem Jahr waren sie zusammen im Wald, machten ausgiebige Spaziergänge und gingen sogar auf die Jagd. Auch wenn Jonathan natürlich viel mehr einfach nur dabei gewesen und selbst noch zu klein war, um aktiv helfen zu können. Zugesehen hatte er. Sein Opa war früher von großer, stattlicher Statur gewesen und nichts schien ihn auf irgendeine Weise aufhalten zu können. Nun lag er auf diesem Bett. So alt. So schwach. So hilflos.
„Verschwende deine kostbare Zeit nicht, mein Junge. Viel zu lange lebte ich so vor mich hin. Tag für Tag, Monat für Monat. Ja, sogar Jahr für Jahr. Seit ich mich erinnern kann, habe ich dieses Leben gepflegt. Aber alles fordert seinen Tribut, mein Junge. Versprich mir, dass du dich von allem Bösen fern hältst. Begehe nicht den selben Fehler wie ich oder deine Eltern. Bitte.“
In diesem Moment kreischte der Wind aus der Ferne. Selbst bei den geschlossenen Fenstern begannen die alten, grauen Vorhänge zu zittern. Die meisten der Kerzen ergaben sich dem Windzug. Lediglich eine Kerze in einer mit Gläser versehenen Laterne spendete weiterhin treu ergeben Licht.
Etwas lautes krachte gegen die mit Querbalken versehenen Holztüre. Der Junge riss die Augen auf und war schreckerstarrt. Sein Mund stand offen und sein Körper verkrampfte sich schlagartig. Er hielt die Luft an, um kein Geräusch mehr von sich zu geben. Er spürte die nackte Panik, die durch seinen Körper schoss.
„Hab keine Angst, Jonathan. Das war nur der Wind, nichts weiter“, sprach sein Großvater zu dem Jungen. Danach schloss er die Augen und schlief ein. Die letzten Tage schlief er unglaublich viel. Jonathan machte sich deswegen oft Sorgen um seinen Opa, doch bisher war es nicht so schlimm wie an jenem Tag.
Nach einer Weile ging der Junge um das Bett, schob den Vorhang beiseite und schielte vorsichtig aus dem Fenster. Nichts. Außer dem tristen Wetter und dem Waldrand in der Ferne war nichts zu sehen. Völlig müde und erschöpft legte er sich zu seinem Großvater in das Bett und dachte über dessen Worte längere Zeit nach.
Von welchem Fehler er wohl sprach? Eine Zeit lang ließ Jonathan seinen Gedanken freien Lauf, bis er vor Müdigkeit gähnte und selbst ins Reich der träume glitt.
Ein schmerzverzerrtes Heulen in der Nacht ertönte aus dem Wald. Der Junge, der von wilden Albträumen heimgesucht wurde, erwachte schweißgebadet und sah sich um. Sein Großvater war nicht mehr in seinem Bett. Wie war das möglich? Ein erneutes Geheul bescherte dem Jungen großes Unwohlsein. Er begann zu weinen und rief schluchzend nach seinem Opa. Wo war er hin? Wieso war er nicht in seinem Bett, wo er hingehörte? Die Situation war beängstigend. Immerhin war es relativ hell in der Hütte. Jemand hatte mehrere Kerzen entzündet, die nun warmes, wohltuendes Licht spendeten. Jonathan versuchte zu ergründen, was das alles zu bedeuten hatte. Sein Großvater hätte nicht aufstehen dürfen. Nicht, dass er es nicht gewollt hätte. Der alte Mann konnte die Kraft erst gar nicht aufbringen, von alleine aufzustehen. Doch nun war er ohne jeden Zweifel weg. Hatte ihn jemand geholt? Oder konnte er womöglich noch so viel Kraft aufbringen, nicht nur das Bett, sondern selbst die Hütte zu verlassen? Behutsam schlich der Junge erneut an das Fenster und sah hinaus in die Ferne. Inzwischen war es Nacht und der Vollmond strahlte in blutuntermaltem, Dunkelorange auf die Erde. Jonathan erinnerte sich an die alten Geschichten, die ihm sein Großvater immer erzählt hatte, als er noch kleiner war. Geschichten von übergroßen, menschenähnlichen Wölfen, die auf zwei Beinen liefen. Seine Eltern wollten nie, dass er sich diese Geschichten anhörte, doch sein Opa erzählte sie ihm heimlich. Jonathan verspürte eine angenehme Wärme, als er sich an die früheren Zeiten zurückerinnerte. Das nahm ihm einiges seiner Angst, die er bis eben noch verspürt hatte. Auch wenn er eigentlich immer ein gewisses Unbehagen vernahm, als er gespannt den alten Erzählungen lauschte. Jonathans Eltern wollten mit so einem Humbug nichts zu tun haben und waren dagegen, dass er sich mit solchen abergläubischen Mythen abgab. Sie waren der Meinung, dass sein Großvater, der wirklich an die alten Sagen zu glauben schien, wirres Zeug von sich gab und nicht mehr wusste, was er sprach. Doch seit Jonathan´s Eltern eines Tages verschwunden waren, nahm er ihn bei sich auf. Alles was Jonathan über das Verschwinden seiner Eltern erfahren hatte, wusste er von ihm. Eines Nachts, als ein wütender Sturm die Bewohner in Ihre Häuser trieb, wollten seine Eltern noch in den Wald, um ihre Schafe zu retten. Dabei wurden sie von großen Wölfen angegriffen und in den Wald verschleppt.
Plötzlich erfüllte ein tobendes Fauchen die Stille und ließ Jonathan panisch aufschrecken. Versteinert stand er da und traute sich kaum zu glauben, was er da hörte. Lautes Brüllen und Knurren trieb seinen Herzschlag in die Höhe. Es war so grotesk, dass er für einen Moment lang an seinem Verstand zweifelte. Ein schrilles Gejaule riss Jonathan aus seiner Starre. Es war keine Einbildung. Wenige Meter vor der Hütte wütete ein Kampf, dessen Geräusche Jonathan erzittern ließen. Panisch suchte er ein Versteck. Aber wohin? Die Hütte besaß nur einen einzigen Raum und dieser war nicht sonderlich gut gesichert. Das Kerzenlicht flackerte und verlor an Helligkeit. Schatten schienen mit dem Licht um die Vorherrschaft zu ringen. Plötzlich ertönte ein lauter Schlag gegen die Türe. Und ein zweiter direkt dahinter. Das Holz begann zu knacken und Staub wirbelte auf. Wer oder was wütete dort draußen vor der Hütte?
Jonathan ließ keine Zeit mehr verstreichen und versteckte sich unter dem Bett. Das war der einzige Schutz, der einzige Zufluchtsort, der ihm einfiel. Sein Herz pochte und stellte seine Adern auf eine Zerreißprobe. Sein Atem stockte nun nicht mehr. Er hechelte jetzt wie verrückt und war in Panik. Plötzlich zerbarst die Türe und was Jonathan dort sah, hätte er nicht zu träumen gewagt. Ein riesiger, dunkelgrauer Wolf mit spitzen Ohren, langen Klauen und einer blutverschmierten Schnauze fiel in das Zimmer. Jonathan konnte einen angstverzerrten Schrei nicht unterdrücken. Er kroch ein Stück weiter unter das Bett und Tränen schossen über sein Gesicht.
Der Anblick dieser haarigen Bestie war schlimmer als alles, was Jonathan je gesehen hatte. Er kauerte sich zusammen und flehte, dass der Wolf ihn nicht entdeckte. In jener Sekunde schritt ein zweiter, braunhaariger Wolf durch die Türe und schnüffelte mit seiner langen, an den Lefzen aufgerissenen, Schnauze im Zimmer. Blut tropfte dabei auf den Boden. Sein Kopf neigte sich in Richtung Bett und zwei blutrünstige Augen erblickten den Jungen. Der Anblick war so surreal, dass Jonathan zu schreien begann.
„Opa!? Hilfe!!“, brüllte der Junge aus Leibeskräften. Der hellbraune Wolf reagierte nicht sofort. Er fixierte den Jungen mit seinen blutunterlaufenen Augen und knurrte, während sich triefender Speichel zu dem Blut seiner Schnauze mischte. Der hellbraune Wolf kam Jonathan auf seltsame Weise bekannt vor. Er konnte in diesem Moment keine Zuordnung treffen aber er wusste, dieses Wesen schon einmal gesehen zu haben. Doch es sah jetzt weitaus bestialischer aus. Hungriger. Gieriger. Es starrte Jonathan an und leckte sich über seine haarige Schnauze. Gerade als der Wolf einen Schritt näher kam und das Bett wegschob, schrie Jonathan wie vom Teufel besessen. In jenem Moment attackierte ihn der andere Wolf von der Seite und riss ihm mit seinen langen, waffenähnlichen Zähnen ein Stück Fleisch aus seinem Nacken. Dabei brüllte er auf fürchterliche Weise, dass Jonathan aus Angst seinen eigenen Schrei sofort verschluckte. Der graue Wolf setzte sofort nach und riss mit seinen dolchförmigen Klauen tiefe Wunden in die Magengegend seines Widersachers und schmiss ihn durch die hölzerne Wand der Hütte. Kurz darauf sah er Jonathan für einen kurzen Moment an und es schien, als hätte er Tränen in den Augen. Da begriff Jonathan. Die Geschichten. Sie waren nicht nur einfach irgendwelche, alten Hirngespinste seines Großvaters. Sie waren wahr. Alle. Er selbst war einer der Wölfe, die seit Jahrtausenden die Geschichten an Lagerfeuern füllten. Deswegen wollten seine Eltern nicht, dass Großvater zu viel Kontakt mit Jonathan hatte. Sie wussten, was sein Großvater war. Ein Werwolf. Sein Großvater war nicht wirklich krank. Der Fluch setzte ihm zu. In einem tiefen, rauen Ton sprach der Wolf in gebrochen Worten:
„Lauf weg. Schnell.“
In dem Moment sprang der andere Wolf seinem Großvater an die Kehle und es ereignete sich ein erbitterter Kampf. Jonathan hatte zu große Angst sich zu bewegen aber er wusste, dass es hier keinen Ausweg gab. Er musste weg. Also wischte er sich seine Tränen aus dem Gesicht und rannte so schnell er konnte. Ohne klares Ziel oder seinen Großvater noch ein letztes Mal zu sehen. Ohne den Hintergrund jemals erfahren zu haben. Ohne zu wissen, wie der Kampf ausging oder wer der andere Wolf war.
Einige Jahre später lebte Jonathan in der Nähe einer kleinen Burg und fragte sich oft, wieso ihm sein Großvater nicht einfach die Wahrheit verraten hatte. Und ob er wohl wusste, wer seine Eltern getötet hatte. Oder ob sie gar noch lebten, wenn auch nicht als Menschen? Ja, vielleicht sogar, ob er sich deshalb weit außerhalb des Dorfes mit Jonathan in einer Hütte niedergelassen hatte und dachte, dort seien sie in Sicherheit.