Floh und das Schweigen
Wir nannten ihn Floh. Eigentlich hieß er ja ganz anders, aber weil seine braunen Locken lang und ungebändigt auf seine Schultern fielen, passte Floh einfach besser. Wir hätten ihn genauso gut auch Stange nennen können, denn Floh war ein sehr schmaler Bursche. Er war derart dünn, dass wir manchmal sagten, man könne auf seinen Rippen Klavier spielen. Besonders lustig war es, wenn ihm der Wind von vorne entgegenblies: Dann wurden seine Fransen hoch in die Luft geworfen, und gleichzeitig schmiegte sich seine weite Hose so eng an seine dünnen Beine, dass sich die Knochen durch den Stoff hindurch abzeichneten – dann war Floh der größte und zugleich dünnste Junge, den wir je gesehen hatten. Wenn wir darüber lachten oder ihn deswegen neckten, meinten wir es aber nicht böse, und Floh wusste das auch. Er stand darüber, wie bei fast allem, was wir taten.
Floh stieß nach den Frühlingsferien, mitten im Schuljahr, zu unserer Klasse hinzu, nachdem sein Vater im Ort eine Anstellung gefunden hatte. Und weil an meinem Pult an jenem Morgen noch ein Platz frei war, kam er mit seiner Schultasche zu mir herüber und setzte sich zaghaft neben mich. So saß er fortan an meiner Seite. Damit allein änderte sich aber noch nicht viel, denn Floh war ein stiller Junge und tat von Anfang an alles, um nicht aufzufallen. Aber gerade das war es, was ihn so besonders machte: Wir waren damals dreizehn oder vierzehn Jahre alt und hatten den Kopf voller närrischer Ideen – Floh nicht. Floh war anders.
Floh lernte viel und stellte oft Fragen, die wir nicht verstanden. Dies schlug sich zwar nicht immer in den Noten nieder, aber die Schule, oder vielmehr das Lernen, machte ihm einfach Spaß. Wahrscheinlich aus diesem Grund mochte Frau Schmidt ihn so sehr, und vielleicht auch, weil er so zerbrechlich schien mit seinem dünnen Körper. Nur wenn es darum ging zu helfen, streifte Floh seine Zurückhaltung ab: Gerne ließ er uns aus seinem Aufgabenheft abschreiben, und hin und wieder flüsterte er uns die richtigen Antworten zu oder übernahm er den Tafeldienst für einen von uns. So war Floh: kein Heiliger, aber einer, der in punkto Vernunft weiter war als wir und doch umsichtig zu uns zurückblickte. Und das Wichtigste:
Floh war mein Freund. Es dauerte zwar eine Weile, bis ich den Zugang zu ihm fand, was aber nicht an ihm lag: Ich brauche immer etwas Zeit, um mich an Neues zu gewöhnen oder sogar darauf zuzugehen. Letzteres ging in diesem Fall schließlich auf Flohs Konto und hatte damit zu tun, dass ich mich einige Tage, nachdem die Schule wieder begonnen hatte, beim Fußballspielen verletzte und für mehrere Wochen auf Krücken angewiesen war. Mag sein, dass Floh es vor allem tat, um mit mir ins Gespräch zu kommen, ich glaube aber, dass er mir einfach einen Gefallen tun wollte. Jedenfalls bot er mir an, mir zur Entlastung meinen Ranzen nach Hause zu tragen. Ich hatte bis dahin gar nicht gewusst, dass sein Heimweg an unserer Straße vorbeiführte, weil ich nach dem Unterricht meistens noch zum Bolzen auf dem Pausenhof geblieben war. So kam es, dass er mich einen halben Sommer lang zur Schule und zurück begleitete und wir, der mädchenhaft feine Floh und ich, Freunde wurden.
Wir verbrachten in jenen Monaten unzählige Stunden miteinander. Bei schönem Wetter machten wir auf dem Heimweg von der Schule oft noch an dem Teich halt, der auf halbem Weg lag. Dann setzten wir uns auf die warmen Steine am Ufer und ließen Kiesel um Kiesel über die Wasseroberfläche hüpfen. Niemand konnte so viele Wellenringe ins Wasser zaubern wie Floh! Manchmal zogen wir aber auch einfach ziellos durch die Gegend, wobei ich anfangs wegen meinem Fuß immer wieder kleine Pausen einlegen musste. Mit der Zeit hatten wir eine Unmenge Plätzchen, an die wir uns zurückziehen konnten: Der Wald eignete sich dazu besonders gut, auch weil es sich im Schatten besser träumen ließ. Dort lagen wir oft nur im kühlen Moos und suchten in den Wolken nach Gesichtern oder zählten die Sonnenstrahlen, die den Weg durch das Blätterwerk bis auf den Waldboden fanden. Wir redeten viel miteinander, aber am meisten mochte ich es, schweigend und mit geschlossenen Augen neben Floh zu liegen oder, wenn wir unterwegs waren, wortlos seinem gelassenen Pfeifen zu lauschen. Ich war nie ein Freund der großen Worte, und Floh lebte mir vor, dass das nichts Schlechtes war.
Aber der Sommer brachte mir noch mehr Glück: Ich küsste zum ersten Mal ein Mädchen. Pe, die in der Nachbarschaft wohnte und die ich schon seit der ersten oder zweiten Klasse still verehrt hatte, überraschte mich damit nach dem Geburtstagsfest einer Freundin von uns zweien. Es war Anfang August und ein besonders heißer Abend, und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb wir einen Umweg durch den Wald gingen. Die Stille des abgelegenen Weges beflügelte mich, denn ich mochte noch gar nicht nach Hause gehen. Stattdessen wollte ich unbedingt etwas Persönliches mit ihr teilen – das Plätzchen, wo ich mich so gerne mit Floh zusammen aufhielt: das steinige Ufer des Teiches. Wir mussten unendlich lange dort gesessen haben, als Pe ihren Arm schüchtern um mich legte, und etwas später dachte ich, mein Herz würde zerspringen: So stark pochte es, als ich ihre gespitzten Lippen auf meinen spürte. Ich weiß noch genau, dass ich in jener Nacht auf einem tränennassen Kissen einschlafen musste.
Natürlich erzählte ich Floh davon. Er strahlte zwar, als er es erfuhr, und er sagte auch, dass er sich für mich freue, im nachhinein glaube ich aber, dass meine Liebe zu Pe daran Schuld war, dass die Freundschaft zwischen uns abkühlte. Natürlich: Ich musste meine Freizeit nun zwischen zwei geliebten Menschen aufteilen – aber was hätte ich tun sollen? Floh und ich waren über die Sommermonate ein verschworenes Paar geworden, das sich von den anderen absonderte und fast jede freie Minute miteinander verbracht hatte. Und nun war da Pe, das Mädchen, das ich liebte. Floh machte es mir nicht einfach, denn ich merkte genau, dass er sich vernachlässigt fühlte. Aber so wenig, wie man sagen kann "Ich mag Obst mehr als Schachspielen", genauso wenig lassen sich zwei Menschen, die man liebt, miteinander vergleichen. Floh, der sonst immer so besonnen war, wollte das nicht verstehen.
Floh wandte sich also in seiner Eifersucht von mir ab, und so unternahmen wir für lange Zeit nichts mehr zusammen. Zwischen den wenigen Worten, die wir zueinander sprachen, ließ er mich spüren, dass er sich verraten fühlte. Floh wollte alles oder nichts, und ich versuchte, Pe und ihn in meinem Kopf zu trennen. Aber immer wenn ich mit Floh unterwegs war, dachte ich auch an mein Mädchen, und wenn ich mich mit Pe traf, lastete Flohs unausgesprochener Vorwurf auf mir. Obwohl ich doppelten Grund zur Freude gehabt hätte, fühlte ich mich nie richtig glücklich: für einige Augenblicke vielleicht, aber dann schlug die Stimmung immer wieder um. Wahrscheinlich hätte ich über meinen Schatten springen und Floh zur Rede stellen sollen, aber ich konnte nicht. Ich, der Schüchterne, war zu feige, der feine Floh zu verletzt – wir beide schafften es nicht.
So ging es weiter, bis an einem Oktobernachmittag Floh keuchend bei uns im Türrahmen stand und nach mir verlangte. Es muß ihm sehr wichtig gewesen sein, zu mir zu kommen, denn er hatte sein selten benutztes Rennrad dabei. Es bedurfte keiner langen Reden, um zu wissen, was er im Schild führte. Keine Ahnung, was damals in Floh gefahren war, was er mit seiner Verletztheit angestellt hatte, aber das spielte in jenem Moment auch keine Rolle. Erleichtert schwang ich mich auf mein Rad, und zusammen fuhren wir wortlos in der Umgebung herum. Da war es plötzlich wieder, dieses innige Schweigen! Ich spürte eine derart große Freude in mir, dass ich nichts sagen wollte. Was folgte, war das schönste Kieselhüpfen, das ich je gesehen habe, und ein Abend, der sich mir in Hirn und Herz einbrannte. Als schließlich die Dämmerung über uns hereinbrach, setzten wir uns wieder auf die nun etwas kühleren Steine und redeten uns den Mund fusselig über das, was wir uns nach so langer Zeit zu sagen hatten. Beim Abschied vor unserer Haustüre versprach Floh mir, mich am nächsten Morgen auf seinem Schulweg wieder abzuholen. Und ich musste ihm versprechen, ihm dann meine Pe vorzustellen: Er wollte sie unbedingt kennenlernen.
Ich wage noch immer kaum zu träumen, wie es wohl weitergegangen wäre. Vielleicht wären wir fortan zu dritt am Teich gesessen, möglich, dass ich seinen dünnen Körper mit Pfannkuchen, die er so mochte, auf Vordermann gebracht hätte, hoffentlich wären wir miteinander auch einmal eine Strecke geradelt, die man nicht an einem einzigen Tag zurücklegen konnte, und ganz sicher hätte ich weiterhin am liebsten seinem sorglosen Pfeifen gelauscht. Aber Floh wird nicht mehr mit Kieseln spielen, nicht mehr essen, nicht mehr in die Pedalen seines Rennrades treten, keine Melodie mehr pfeifen.
Es ist nicht bekannt, ob ihm für diesen gottverdammten Moment seine langen Fransen die Sicht versperrt hatten, ob ihm ein Insekt ins Auge geflogen oder ob der Fahrer von der untergehenden Sonne geblendet worden war. Fest steht, dass Floh noch am Abend unserer Versöhnung vor dem Auto starb, das ihm den Weg abgeschnitten hatte, und dass ich nicht dort war, um ihm Mut zu machen. Auch wenn ich nichts anderes hätte tun können, als ihm in wortloser Betroffenheit die zarte Hand zu halten, die er zweimal so entschlossen nach mir ausgestreckt hatte.
[ 24.05.2002, 18:04: Beitrag editiert von: Timm ]