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Flocken zu Wassertropfen

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15.07.2014
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Flocken zu Wassertropfen

Das Weihnachtsfest erschien Tabby wie ein Leuchtfeuer im Kalender, dessen Flammen schon ab Ende November erkennbar waren. Im Januar kühlten seine Strahlen rasch wieder ab. Dunkler Januar, kalter Januar. Dann folgte ein neuer Kreislauf: Frühling, Sommer, Herbst.
Und Winter.
„So ein Mistwetter“, knurrte ihr Mann. Seine Stimme fiel lautlos in ihre Gedanken. Tabby reagierte nicht.
Immerhin, es schneite. Die Straße war bedeckt von Schnee und die Scheibenwischer wischten sekündlich gegen hunderte Flocken an der Frontscheibe.Tabby verlor ihren Blick in den wuselnden Punkten, die im Licht der Scheinwerfer tanzten. Rhythmisch dazu leuchteten die Reflektoren der Straßenbegrenzung.
Im Wagen war es warm und behaglich. Gemächlich rollten sie voran.
Es würde länger dauern, dachte Tabby, aber irgendwann heute Nacht würden sie zu Hause ankommen, dann würde sie in ihr Flanellnachthemd schlüpfen, sich noch eine Wärmflasche machen und ins Bett gehen. Dann ein neuer Morgen und ein neuer Tag. Nacht. Tag. Tag und Nacht.
Tabby kuschelte sich in ihren Kaschmirmantel und seufzte.
„Herrgottnocheins!“, rief Dan und schlug mit voller Wucht auf das Lenkrad. „Sieh dir die Scheiße da draußen doch an!“
Tabby drehte ihr Gesicht zum Fenster und wickelte den Mantel enger um ihren Körper. Vielleicht war es falsch gewesen, Dan heute Abend zu der Feier zu begleiten. Alles, was mit seiner Arbeit zu tun hatte, ließ ihn unkontrolliert werden, aggressiv. Würde sich sein Zorn so steigern, dass er ...
Sie schlug die Augen nieder und biss sich auf die Lippen.
„Ist doch gut so ...“, flüsterte sie leise. Unsicher sah sie zu Dan. Rote Wut schimmerte unter seiner Haut, drohte jederzeit aus ihm herauszuplatzen.
Niemand sonst fuhr diesen Weg durch die Nacht. Es war Dans Idee gewesen, das kleine Anwesen in den Bergen zu kaufen. Ein gemütliches Haus am Abhang, mit einem fantastischen Blick über die Lichter der Stadt. Aber so abgelegen, dass man ohne Auto völlig aufgeschmissen war. Kein Nachbar weit und breit. Dafür ein steiler Pfad, der sich streckenweise fast senkrecht in den Berg hineinfraß, blanke Felsen und hohe, dichte Tannen. Tabby hatte immer Angst, dass sie eines Tages hinunterstürzen würden.
Aber Dan war ein guter Fahrer.
Manchmal fuhr er etwas zu schnell, vielleicht.
Tabby schloss die Augen, neben ihr der Abgrund.
„Scheiße!“, brüllte Dan.
Ein heftiger Ruck erfasste das Fahrzeug, Tabby fühlte ihre Wange an die Fensterscheibe gepresst, während ihr Unterleib in die entgegengesetzte Richtung zog.
Auf einmal war alles still und es bewegte sich nichts mehr.
„Was ist passiert?“, fragte Tabby verwirrt. Dan hing halb über dem Lenkrad, seine Hände im Nacken verschränkt. Er atmete heftig.
„Diese Mistkarre ist in den Graben gefahren!“, zischte er. Es war fast ein Flüstern und Tabby sah die Wut in seinen Adern leuchten, kleine Punkte, die langsam in seinen Kopf stiegen.
„Ist doch nicht schlimm ...“, beschwichtigte sie, lehnte den Kopf zurück an die Scheibe, beobachtete die Wand aus Schneeflocken, die im Scheinwerferlicht des Autos erstrahlten. Sie hatte doch nur ihn.
Dan warf den Motor wieder an, betätigte die Kupplung und versuchte, den Wagen aus dem Graben zu hieven.
Der Motor jaulte, aber die Reifen griffen nicht. Nicht einen Millimeter bewegte sich das Fahrzeug.
Dan bedachte Tabby mit einem Blick, als ob er ihr einen Kinnhaken verpassen wollte.
„Nein“, formten Tabbys Lippen lautos. Sie duckte sich in die Ecke. Er hatte doch nur sie.
Dan schnaufte und riss die Fahrertür auf. Eisiger Wind und tausend Schneeflocken stoben in das Auto hinein, Dan kletterte hinaus und knallte die Tür zu. Die Schneeflocken ließen sich auf den Ledersitzen nieder, glitzerten noch einen Moment und verwandelten sich in Tropfen.Tabby fröstelte. Irgendwo in den dichten Schneewehen erkannte sie die Umrisse von Dans Gestalt, er machte sich an den Vorderreifen zu schaffen.
Der Schnee formte sich am Beifahrerfenster zu einer langsam wachsenden Wand. Tabby nestelte in ihrer Handtasche nach einem Paar Handschuh. Sie wunderte sich darüber, wie schnell die Kälte Besitz vom Innenraum ergriff, so als ob mit Dans Wut auch etwas Wärme das Fahrzeug verlassen hatte. Sie zog ihre Handschuhe an und kramt nach ihrem Mobiltelefon, das sich immer zwischen tausend Kleinigkeiten versteckte.
Lippenstift, Rouge, klatternde Plastikschachteln, Ringe, Ketten und Geldscheine. Wo war das verdammte Handy? Wo waren die wirklich wichtigen Sachen, wenn man sie brauchte?
Tabby zog den Handschuh wieder aus, um mit den Fingern die Formen zu ertasten. Das Licht im Auto funktionierte nicht, Dan hatte den Schlüssel abgezogen und mit hinaus genommen. Deshalb war es auch so kalt. Die Klimaanlage heizte nicht mehr.
Dan, wo war Dan?
Sein Handy war wahrscheinlich in seiner Jackettasche.
Tabby lehnte sich zurück in den Sitz. Durch die Frontscheibe war nichts mehr zu erkennen. Der Schnee hatte alles bedeckt. Mit jeder Flocke wurde es ein bisschen dunkler im Auto.
Fasziniert betrachtete Tabby das geäderte Muster, das sich zäh über die Windschutzscheibe zog. Eine graublauen Masse mit dunkelorangenen Stellen. Der Schnee sackte in sich zusammen, riss an einer anderen Stelle wieder auf. Er bildete stets neue Formen in einem steten Wandel. Und er wurde immer dichter.

Irgendwann aber würde er tauen und zu Wasser werden, die Vögel würden in den frühen Morgenstunden zwitschern, kurz bevor die Sonne ihre ersten Strahlen über die matschige Landschaft schickte, die die verbliebenen Wehen noch einmal glitzernd zum Schmelzen brachten. Das Schmelzwasser würde sich seinen Weg in die umliegenden Flüsse bahnen, einen weiten Weg zum großen Meer nehmen. Ein Teil des Wasser würde in den Wellen verweilen, ein Teil aber verdunsten und im nächsten Winter als Wolke seine Tropfen in Schnee verwandeln.
In dichten Schnee, der das Auto jetzt komplett bedeckte.
In diesem Moment fand Tabby in ihrer Handtasche eine kleine Kerze und ein paar Streichhölzer. Sie stellte die Kerze auf das Board und zündete sie an. Sie lächelte und wärmte sich an ihrem Licht.
Wenn der Schnee schmolz, würde, nach langer Zeit, das Fahrzeug wieder sichtbar werden, zunächst nur der Teil seines schwarzen Daches, nach und nach die Heckfenster und der Kofferraum. Auch das Auto würde seinen Weg gehen. Zunächst als Gebrauchtwagen bei der Familie Kreiser einige Jahre guten Dienst leisten, dann kaputtgehen, der leistungsfähige Motor via technischer Operation das Fahrzeug einer anderen Familie vor dem sicheren Ende retten. Einzelteile recycled und erneuert, der Rest in die Schrottpresse und von dort ...
Lange Zeit zuvor würden Menschen neben dem Fahrzeug die Überreste eines Mannes finden, in dem Wagen aber die Leiche einer Frau.
Wohin sie gegangen sind?
Wer weiß.

 
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Servus Artemisia, willkommen hier.
Ich finde, dir ist hier eine wirklich großartige kleine Kurzgeschichte gelungen. Die Skepsis, die ich Debütgeschichten gegenüber naturgemäß habe, war sehr schnell verflogen. Schon nach wenigen Zeilen spürte ich, dass hier eine schreibt, die ihr Handwerk versteht, oder gar ein Naturtalent ist. (Aufgrund deines Nicks gehe ich jetzt einfach mal davon aus, dass du eine Frau bist.)
Ich mochte an dem Text eigentlich alles: Die ungemein sichere, wortgewandte Sprache, die schnörkellos und trotzdem sehr individuell ist, darüber hinaus bildreich bzw. Bilder in meinem Kopf erschaffend, und die sich gleichzeitig an den richtigen Stellen quasi zurücknimmt. Den kreativen, abwechslungsreichen, dabei aber vollkommen unaufgeregten und wirklich angenehm zu lesenden Satzaufbau, die Dramaturgie, das Setting, die Location, na ja, alles halt. Wow, ich komme echt ins Schwärmen.
Überhaupt empfinde ich den Text als wunderbar ausgewogen, du schaffst das genau richtige Maß an Auserzähltem und Unausgesprochenem, auf engstem Raum - und natürlich auch zwischen den Zeilen - gelingt es dir, zwei Charaktere zu erschaffen, ja, im Grunde das aussagekräftige Psychogramm einer Ehe.
Zum philosophischen Aspekt will ich mich jetzt gar nicht äußern, das sollen Schlauere als ich tun, nur so viel: wenn ich Philosophie als den Versuch verstehe, die Welt und die menschliche Existenz - also alles eigentlich - zu deuten, ist dein Text allemal philosophisch.


Aber ich wäre nicht offshore, hätte ich nicht ein paar Verbesserungsvorschläge:

Rote Wut schimmerte unter seiner Haut, drohte [Komma] jederzeit aus ihm herauszuplatzen.
Das Komma vor der Infinitivgruppe macht den Satz auch verständlicher, finde ich, weil sich „jederzeit“ so eindeutig auf „herausplatzen“ bezieht, und nicht auf „drohte“. Was ja einen anderen Sinn ergäbe. Äh, weißt du was ich meine? Egal.

Ein heftiger Ruck erfasste das Fahrzeug,
Ich habe keinen Vorschlag für ein passenderes Verb. Aber dieses gefällt mir hier nicht recht.

beobachtete die Wand aus Schneeflocken, die im Scheinwerferlicht des Autos erstrahlten.
Das Verb bezieht sich (für mein Lesegefühl) auf die Wand (aus Schneeflocken), nicht auf die Schneeflocken, und müsste deshalb im Singular stehen. Oder nicht? Keine Ahnung. Kann man wahrscheinlich so oder so lesen.

Eisiger Wind und tausend Schneeflocken stoben in das Auto hinein, Dan kletterte hinaus und knallte die Tür zu.
Hier ist ja die Kamera quasi noch im Wagen, es müsste also herein heißen. Dan klettert ja auch hinaus und nicht heraus.

klatternde Plastikschachteln,
Das Wort nahm ich einfach zur Kenntnis, kenne es allerdings nicht. Äh, klappernd?

mit dunkelorangenen Stellen.
An sich heißt es orangefarben. Wäre dann natürlich ein recht langes Wort …


Toller Einstand, Artemisia. Macht mich wirklich neugierig auf weitere Sachen von dir.


offshore

 

Dies ist keine Debütgeschichte, und auf die zahlreichen Kommentare zu dem anderen Text hat die Autorin noch keine einzige Zeile geantwortet.

 

Hallo Artemisia

Ehrlich gesagt war mir die geschilderte Handlung keine Bereicherung, da ich von einer Geschichte minimal ein Geschehen erwarte, das mehr ist als nur eine Abfolge von Ereignissen mit einer fraglichen Pointe.
Der Leser erfährt hier einzig, dass ein Auto in einer Winternacht in der Abgeschiedenheit stecken bleibt und die Frau in ihrer Handtasche eine Kerze findet, die sie anzündet. Ihre Gedanken drehen sich hierbei darum, dass eines Tages mit der Schneeschmelze das Auto wieder zu sehen sein wird. Dann eine kurze Wende in der Textfolge, was mit dem Auto passieren könnte und rückblickend ein abstraktes Anhängsel, dass sie zu Tode kamen.
Das Absurde, welches sich hier präsentiert, zeugt nicht von literarischem Gehalt, der den Leser durch den Aberwitz des Geschehens aufmerken lässt. Solches zeigt sich etwa in Stücken von Ionesco, Beckett, Camus, Sartre etc. Dort erzeugt Absurdes beim Leser echte Verblüffung, eine andere Sichtweise auf normales Geschehen, eine Verschiebung der Wahrnehmung oder eine denkerische Kapriole.

Unglücklich finde ich auch die Figurenzeichnung von Tabby, die ich erst für ein Kind hielt. Sie zeigt durchgehend eine unreife Denk- und Verhaltensweise. Dan, ihr Mann, hat einzig eine Statistenrolle inne, sein cholerisches Temperament als einziges Indiz. In einer solchen Situation könnten beide Personen über sich hinauswachsen, was dem Stoff eine Reifung zur Geschichte hin gäbe.

Als Stichwort wähltest Du Philosophisches, was sich einzig in den religiösen Anstrichen des ersten Absatzes und den beiden letzten Sätzen spiegelt, jedoch völlig unzulänglich. Wäre stattdessen das Stichwort Weihnachten gesetzt, würde ich vorschlagen, die Handlung in reale Gegebenheiten zu setzen, eine Ausweglosigkeit zu skizzieren und ein Drama unter diesem Stern aufleben lassen.

Das Ungelenke ist verzeihlich, doch solltest Du daran arbeiten, indem Du den vorliegenden Text neu bearbeitest. Was Dir auch helfen könnte, ist, andere Geschichten hier zu kommentieren, da dies eine Auseinandersetzung erfordert. Dies hilft Dir dann wiederum zu erkennen, mit welchen Stilmitteln und Formen sich eine gelingende Geschichte bildet. Ebenso ist es angezeigt auf Kommentare einzutreten, diesen Dialog wahrzunehmen, wenn Dir nicht einzig an narzisstischer Selbstbefriedigung im Schreiben liegt.

Also ich bin gespannt, was Du daraus machst. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo!

Danke für euer Feedback. Sehr kontrovers. Herr Offshore, ich freue mich über die positive Bewertung. Hinein ... ja, so sollte es wohl besser heißen. Auch das mit der Wand/den Schneeflocken - Relativsatz und Verb; ein guter Hinweis.
Danke.

Herr Anakreon,
ein Camus oder anderer bin ich nicht. - Dir hat die Geschichte aus verschiedenen Gründen nicht gefallen, okay. Allerdings der philosophische (bzw. religiöse, wie Du richtig erkannt hast) Aspekt, ein kleiner Einwand, wird doch hoffentlich deutlicher als nur in den von Dir benannten Sätzen!
Stichwort Reinkarnation.

Danke für eure Zeit!

 

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