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Flip und das ABARZ
I.
Die Sonne linst schräg durch das Blätterdach der Terrasse. Einige Spatzen wohnen dort oben und machen Krach wie ein Käfig voller Wellensittiche. Eine Katze sitzt an der Ecke des mit Steinplatten belegten Bodens. Das Rot der Steine ist bereits in ein zartes Rosa verwandelt worden und einige Platten hat die Wurzel des riesigen Ahornbaumes schon aus der Position gehoben. Das alles ist Flip egal, er räkelt sich wohlig auf seinem mit gelbem Karomuster bespannten Liegestuhl, grinst zufrieden und streckt die Arme mit einem lauten „Öööööh“ nach oben. Die Katze springt entsetzt in das angrenzende Haselnussgesträuch. Flip, der eigentlich Philipp heißt, ist neun Jahre, hat Ferien und fühlt sich einfach pudelwohl.
Plötzlich sieht er sich verwirrt um. Irgend etwas stimmt nicht. Noch immer linst die Sonne durch die Blätter – aber das Licht wirkt fahl und unecht. Noch immer machen die Spatzen Lärm, aber der Ton scheint von weit her zukommen. Die Katze lässt sich nicht mehr blicken und Flip hat ein beängstigendes flaues Gefühl im Magen.
Ungläubig schaut er auf ein Flimmern, das sich plötzlich vor ihm auf der Terrasse ausbreitet. Flip macht ganz kurz die Augen zu, nur um sicher zu gehen, dass er nicht noch schläft. Schnell die Augen wieder auf! Das Flimmern ist immer noch da. Am liebsten würde er um Hilfe rufen. Mal abgesehen davon, dass seine Eltern sowieso nicht zu Hause sind, kann er sich auch weder rühren noch irgendetwas sagen. Er kann nur auf das immer größer werdende Gebilde starren, das ihn langsam einhüllt wie eine Decke. Ein Säuseln betäubt seine Ohren, so stark, als habe er gewaltige Kopfhörer auf. Flip wird klar, dass er Angst hat. Höllische Angst. Aber genau, als er sich dessen bewusst wird, gibt es einen Sog und Flip rutscht wie in den Ausfluss der Badewanne durch dieses Ding hindurch.
II.
Die Stadt sieht aus, als sauge sie das Tageslicht in sich hinein. Immer tiefer in die grauen Mauern mit den kleinen Fenstern, die wie Luken einer riesigen Festung auf die leere Straße glotzen. Sand weht über den Asphalt und erzeugt ein hohes Pfeifen.
Flip steht schlotternd an einer Ecke. Einer von vielen, die ganze Stadt scheint aus diesen Ecken zu bestehen. Er ist alleine in dieser Stadt, höchstwahrscheinlich alleine in dieser Welt. Seine Angst ist innerhalb von Sekunden deprimierender Gewissheit gewichen. Dieses Gefühl hat so etwas vollkommen auswegloses, dass es sich nicht einmal lohnt, dagegen anzukämpfen. Es ist egal, ob er noch einen Schritt nach vorn macht oder einen nach hinten oder ob er sich einfach hinsetzt und wartet, bis er zu Staub zerfällt.
Flip ist nicht fähig einen klaren Gedanken zu fassen. Bis ihm plötzlich, wie ein Blitz aus diesem Zwielichthimmel, eine Erinnerung kommt: Sein Onkel Paul, hatte ihm einmal von einem Taucher erzählt, der sich, mit viel zu wenig Sauerstoff in der Flasche, in dem Bauch eines alten Schiffes verirrt hatte. Jede Sekunde zählte. Ein falscher Weg bedeutete das Aus. Qualvoller Tod. Doch der Taucher hatte sich eine Methode antrainiert. Er nannte sie Abarz: Atmen – Bild bauen – Atmen – Rechnen – Zählen. Zuerst einmal musste man tief einatmen. Flip atmet tief ein. Sauerstoff hat er ja zum Glück genug. Nur, dass der mit Staub versetzt ist. Flip muss husten. Noch einmal. Tief einatmen. Dann Bild bauen: Flip stellt sich vor, er schwebt in einem Helikopter über diese seltsame tote Stadt und hat plötzlich das Gefühl, es gibt irgendein Muster. Nur welches weiß er noch nicht. Nun also Ausatmen. Bei dem Taucher wären jetzt Blubberblasen zu sehen, bei Flip ist es Staub. Er muss schon wieder husten. Jetzt rechnen. Er guckt sich die Häuserwand an und schätzt sie zehn Meter lang hinter sich und zehn Meter seitlich. Vielleicht sind alle Häuser und alle Straßen gleich lang? Zu dumm, dass diese Stadt um ein vielfaches größer ist als ein Schiff. Und er weiß nicht einmal um wie viel. Aber um irgendetwas zu tun, läuft er los – geradeaus – und zählt. Er überquert die Straße. Weil er es so gewohnt ist, schaut er nach links und dann nach rechts und dann wieder nach links. Aber hier ist das wirklich nicht notwendig, hier kommt kein Auto. Auch sonst nichts. Über die Straße zählt er fünf Schritte. Man stellt sich vor, man schaut zurück auf das Haus, an dessen Ecke Flip stand, schaut hinauf an dem Haus, an dem er nun entlang läuft. Aber Flip schaut nicht zurück und schaut nicht hinauf. Er weiß, alles sieht gleich aus und es ist ihm egal. Es ändert nichts. Er hat nur dieses eine Seil an dem er sich festhalten kann: Abarz.
III
Flip läuft wie ein Spielzeugroboter mit extra großer Schrittweite. Fünf Schritte plus zehn Schritte – 15. Plus fünf Schritte plus zehn Schritte - 30. Wenn er nicht so eingeigelt wäre von dieser deprimierenden Gewissheit, dass es nichts gab, außer ihm – und jetzt wenigstens auch Abarz – dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass er weder Hunger, noch Durst, noch Müdigkeit spürte.
Aber so läuft Flip einfach weiter – 45, 60, 75. Es ist seine einzige Möglichkeit nicht stehen zu bleiben und gar nichts zu tun. 90, 105, 120. Oder durchzudrehen, obwohl Flip nicht so recht wusste, was das bedeutete. 135, 150, 165.
Abrupt bleibt Flip stehen und starrt gerade aus. Da ist ein Mann. Ein Zauberer. „Das ist ja lächerlich“ will Flips Gehirn gerade rufen, aber dazu kommt es gar nicht. Der Zauberer ist in sekundenschnelle so nah an Flips Nase, dass diese den muffig-staubigen Geruch seines glänzenden blauen Umhangs wahrnehmen kann.
Der Zauberer sagt nichts, sondern steht einfach da, als wartet er auf etwas. Flip ist verzweifelt. Sein Strohhalm, sein Abarz, ist gerade zerbrochen. Er weiß die letzte Zahl nicht mehr und er kommt nicht weiter, denn da steht ja der Zauberer. Ganz langsam, als wäre sein Mund seit Jahren in dieser staubigen Einöde und nie dazu gedacht, überhaupt zu sprechen, formt Flip ein leises „Abarz!“
„Stets zu Diensten. Stets zu Diensten.“ antwortet da der Zauberer schnell. Ein bisschen zu schnell wie Flip fand. Flips Gedanken rasen in seinem Kopf herum. Ganz anders als vorher. Plötzlich sind sie wie Hochgeschwindigkeitszüge, die aus dem trägen Schleim hervorspritzen, den er vorher in seinem Kopf gespürt hatte. Er hatte gesprochen. Er hatte gemerkt, dass der Zauberer zu schnell sprach, ja, er hatte sogar verstanden, was dieser gesagt hatte. ‚Schnell, schnell’, spricht Flip in Gedanken zu sich selbst ‚sag irgendwas.’ Doch er ist nicht schnell genug. Der Zauberer ist plötzlich weg und auf der staubigen Straße tanzt nur wieder der leise Wind und macht die Einöde erneut spürbar. Ich muss „Abarz!“ rufen, schießt es ihm durch den Kopf, aber der Gedanke ist schon wieder vorbeigerast wie ein ICE in voller Fahrt und Flip kann sich nicht mehr an ihn erinnern.
IV
Flip steht immer noch an der selben Stelle. Ihm fröstelt wieder. Die Gedankenzüge werden langsamer und drohen wieder zu Schleim zu werden. Eine graue Masse. So wie alles um Flip herum.
Aber war da nicht wieder ein Säuseln? Flip kommt es bekannt vor, aber er kann sich nicht erinnern woher. Der Ton kommt näher, wie eine schwarze Gewitterwolke. Unheildrohend und doch faszinierend. Er verwandelt sich in eine seltsame Mischung aus Sprache und Musik. Flip steht und lauscht und glotzt. Ins Nichts. Solange bis aus dem Nichts ein bunter Haufen wird. Und aus dem bunten Haufen viele seltsame Gestalten, die hüpfend und tanzend auf ihn zu kommen. Sie haben alle verrückte Kleidung an – Pumphosen, Hosenträger mit Bändern, lustige Hüte und alles in knallbunten Farben. Beim Vorwärtshüpfen spielen sie Instrumente – Trompeten, Becken, Trommeln – und singen dazu oder reden laut durcheinander. Sie sind inzwischen so nah, dass es Flip in den Ohren dröhnt, aber er kann noch immer keinen Schritt machen. Irgendwann sind die Gestalten rings um Flip herum. Sie spielen, hüpfen, rufen und tanzen weiter und ziehen Flip in die Richtung zurück aus der er gekommen war.
Genau das war es, was er nicht wollte und wie ein Lavafluss regt sich der Widerstand in ihm, ganz unten, irgendwo unter der Bauchdecke, um dann plötzlich mit einem lauten, alles übertönenden „Abarz!“ an die Oberfläche zu brechen.
Dann ist es still. Die Gestalten lassen ihre Instrumente ruhen, hören mit dem Tanzen auf und starren schweigend in Flips Richtung. „Ich möchte wieder nach Hause!“ sagt Flip so nachdrücklich wie er kann und das war im Moment wohl nicht sehr nachdrücklich, denn die Gestalten gucken sich alle fragend an und schauen dann wieder zu ihm. ‚Irgendwas muss dieses Abarz hier zu bedeuten haben. Hatte das der Taucher aus Onkel Pauls Geschichte gewusst? War er vielleicht auch hier gewesen zum Luft schnappen?’ Auch wenn es sandige, staubige Luft war, man konnte immerhin atmen.
V
‚Ich muss es noch einmal versuchen.’ kommt es Flip in den Sinn. „Abarz!“ tönt es aus seiner staubigen Kehle, lauter und fordernder als er es je für möglich gehalten hätte.
Auf einmal sieht Flip die bunten Gestalten raunend zur Seite rücken, dann löst sich aus dem Schatten des Hauses schräg gegenüber die Gestalt des Zauberers.
Er schreitet langsam auf Flip zu, um dann plötzlich wieder direkt vor Flips Nase zu stehen. „Stets zu Diensten. Stets zu Diensten.“ hört Flip ihn wieder viel zu schnell reden. Und dann – obwohl sich Flip nichts so sehr wünscht, wie von hier weg zu kommen – übermannt ihn doch die Neugier: „Wo bin ich?“.
Die Frage kommt ganz unvermutet aus ihm heraus.
„Hilflos! Hilflos!“ – „Verzweiflung! Verzweiflung!“ Flip versteht nicht. Was wollte der Zauberer ihm sagen? Die Wörter erinnern ihn an seine Mutter... als er vor ein paar Jahren im Krankenhaus lag – er hatte das inzwischen fast vergessen gehabt – hatte er gehört wie seine Mutter leise, aber eindringlich auf jemanden einredete, während sie dachte, er schliefe fest. Nun fiel ihm auch wieder ein, warum er überhaupt ins Krankenhaus gekommen war – er war ins Eis eingebrochen. Hatte man ihm erzählt. Er wusste das nicht mehr, er konnte sich nicht einmal an das Frühstück an jenem Tag erinnern.
Plötzlich wird es Flip eiskalt. Ihm ist übel.
„Ich will nach Hause!“ schreit Flip dem Zauberer entgegen, als stehe dieser immer noch an dem Haus schräg gegenüber. Der Zauberer beugt sich herunter, so dass sein Mund Flips Ohr berührt und flüstert: „Abarz!“ Flip versteht. Er atmet tief ein. Diesmal schafft er es ohne Husten. Dann macht er sich ein Bild – nicht von dieser grauen Stadt, nicht vom Krankenhaus, nein, von seinem Zuhause. Von der Terrasse mit den hellrosa Steinen, vom Blätterdach mit den lärmenden Spatzen und von Pinkie, seiner Katze, wie sie wieder in der Ecke sitzt und sich die Pfötchen leckt. Dann atmet er aus und fängt an zu rechnen: ‚Wie lange war es her, seit er ins Eis gebrochen war? Es müssen schon drei Jahre sein. Das sind dann drei mal 365 Tage.’ Flip schließt die Augen um sich besser zu konzentrieren ‚...macht 1110 minus 15, sind 1095 Tage.’ Flip macht die Augen wieder auf.
Er liegt wieder im gelb-karierten Liegestuhl. Die Spatzen schilpen lautstark über seinem Kopf. Pinkie schläft wohlig zusammengerollt unter dem Haselnussstrauch. Nur um zu beenden, was er angefangen hat, zählt Flip tapfer bis 1095. Er hat es geschafft! Etwas mühsam steht er auf und klopft sich den Staub von der Hose. Er fühlt sich ausgelaugt und müde, aber gleichzeitig stark und mutig wie nie zuvor.