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Flieg, kleiner Vogel, flieg
„Ich brauche Hilfe. Ich hab das Gefühl, ich dreh durch, und ich weiß einfach nicht mehr weiter.“
Lydia blickte auf ihren Kaffee hinunter. Sie vermied es, mir in die Augen zu sehen, wich meinem Blick stetig aus. Ich hatte sofort bemerkt, dass es ihr nicht gut ging. Es war knapp über zwei Jahre her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, und ich hätte sie kaum wiedererkannt. Sie war abgemagert und blass. Sah aus wie ein Gespenst.
„Ich hab niemanden mit dem ich reden kann. Du warst der Einzige, der mir eingefallen ist. Sorry.“ Sie rührte in ihrem Kaffee herum. Immer wieder wanderte ihr Blick zur Seite, als würde sie jemanden suchen.
„Kein Problem“, antwortete ich, doch das war eher eine Floskel als ernst gemeint. Ich sah, dass sie ein Problem hatte. Ein ziemlich Großes, wie es schien. „Ich finde es schön dass wir uns wieder mal treffen.“ Noch eine Floskel.
Sie stieß ein kurzes, verächtlich klingendes Lachen aus. Dann schwieg sie.
Ich begann unruhig auf meinem Platz hin und her zu rutschen, das Schweigen machte mich nervös. Ihre SMS von gestern hatte mich überrascht. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass sie noch in meinem Telefonbuch gespeichert war. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich die letzten zwölf Monate nicht mal an Lydia gedacht.
Ich nahm einen Schluck meiner Cola.
„Wie ist es dir denn so ergangen in der letzten Zeit?“, fragte ich, um das unangenehme Schweigen zwischen uns zu unterbrechen, und bereute meine Frage sofort, da die Antwort offensichtlich war.
„Nicht so gut“, flüsterte sie beinahe. Wäre das Café nicht halb leer gewesen, hätte ich sie vermutlich kaum verstanden. „Sieht man das nicht?“
Darauf wollte ich nicht antworten, weil eine Lüge zu offensichtlich gewesen wäre.
Sie nahm einen Schluck ihres Kaffees und zündete sich anschließend eine Zigarette an. Ihre Hand zitterte. Dann blickte sie mir zum ersten Mal direkt in die Augen, und ich erschrak. Zuckte vielleicht sogar zurück. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Schwarze Ringe hatten sich auf der blassen Haut darunter gebildet. Ihr Gesicht wirkte hager und eingefallen, als hätte man eine Maske genommen und über einen nackten Schädel gezogen.
„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen“, sagte sie. „Danach werde ich dich um einen Gefallen bitten. Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir helfen würdest, aber wenn du nicht willst oder nicht kannst, ist das kein Problem. Ist das OK für dich?“
Ich nickte. Will sie mich verarschen?, fragte ich mich. Bislang hatten mich Mädchen meist nur um einen Gefallen gebeten, wenn sie meine Gutmütigkeit ausnutzen wollten.
„Was ist das für eine Geschichte?“, fragte ich sie.
Sie ließ sich viel Zeit für ihre Antwort. Dann atmete sie tief ein und sagte: „Ich habe Angst. Schreckliche Angst. Mir sind im Leben schon viele beschissene Dinge passiert, aber noch nie hatte ich soviel Angst wie jetzt.“
Wieder blickte sie nervös um sich. Sie schien nach jemandem Ausschau zu halten, den sie offensichtlich nicht entdecken konnte.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag mir einfach, wie. Ich helfe dir, wenn ich kann.“ Da war er wieder: Der gute Samariter in mir. Ich konnte keine Bitte ausschlagen, besonders nicht Frauen gegenüber. Vermutlich war das der Grund gewesen, warum sich Lydia an mich gewandt hatte. Ich hoffte nur, sie steckte nicht in allzu großen Schwierigkeiten. Meine größte Sorge war, dass sie sich mit den falschen Typen angelegt hatte. Ich wusste, dass sie schon öfter Schwierigkeiten im Leben gehabt hatte und oft an die falschen Leute geraten war. Zumindest hatte sie mir das andeutungsweise erzählt, als wir vor über zwei Jahren gemeinsam aufs Berufskolleg gegangen waren.
„Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll.“ Sie dachte nach. Als sie dann zu sprechen begann, war ihre Stimme ruhig und gefasst. „Als wir vor zwei Jahren mit der Schule fertig waren, hab ich keinen Ausbildungsplatz gefunden. Hab mich die erste Zeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, aber seit etwa einem Jahr leb ich von Hartz 4. Ich musste aus meiner Wohnung raus und bin vor nem halben Jahr in ne Sozialwohnung gezogen. Am Anfang bin ich dort auch ganz gut klar gekommen, aber dann hat es angefangen.“
Sie nahm erneut einen tiefen Zug ihrer Zigarette. Als sie nicht weiter sprach, fragte ich: „Hat was angefangen?“
Wieder blickte sie mir in die Augen, und bei ihrem durchdringenden Blick spürte ich eine Gänsehaut auf meinen Armen.
„Dass ich geweckt wurde. Jede Nacht wurde ich von diesem kleinen Mädchen geweckt.“
„Anfangs hörte ich sie in der Wohnung über mir. Ich hörte, wie sie durch das Zimmer rannte, das genau über meinem liegt. Manchmal hat es sich angehört, als würde sie Seilhüpfen. Manchmal hab ich ihre Stimme gehört, aber nie verstanden, was sie gesagt hat. Es hat sich angehört, als würde sie mit ihren Puppen spielen und für sie sprechen. Und das mitten in der Nacht.“
Lydia schüttelte den Kopf. „Ich bin immer wieder aufgewacht, hab manchmal das Gefühl gehabt, sie würde die ganze Nacht durch wach sein. Hab mich aber nie bei jemandem beschwert, weil es am Anfang nicht so oft vorkam. Vielleicht ein- oder zweimal die Woche.“
„Kennst du die Leute, die über dir wohnen?“, fragte ich.
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich hab nie mit ihnen zu tun gehabt. Sind alles Sozialwohnungen dort. Man lebt sein eigenes Leben und kümmert sich nicht um die Nachbarn, so lange die einen in Ruhe lassen.“
Das kam mir sehr bekannt vor. Ich wohnte zwar nicht in einer Sozialwohnung, aber in meinem Haus war das auch nicht anders.
„Jedenfalls ist es immer öfter passiert, dass ich nachts wegen ihr aufgewacht bin. Ich kann mich erinnern, einmal war es echt schlimm. Es hat sich angehört, als würde sie da oben ihr ganzes Zimmer auseinandernehmen, und das mitten in der Nacht. Da bin ich irgendwann aufgestanden, hab mir was angezogen und bin ins Treppenhaus. Ich wollte oben an die Wohnung klopfen und sie bitten, endlich leise zu sein. Ich weiß nicht mehr, es war zwei oder drei Uhr. Mitten in der Nacht. Aber als ich im Treppenhaus draußen war, hab ich nichts mehr gehört. Das ganze Haus war totenstill. Ich hab kurz gewartet, aber es ist mir unheimlich geworden, dann bin ich wieder zurück in meine Wohnung und ins Bett. So gegen fünf bin ich in der Nacht wieder aufgewacht. Ich weiß nicht, ich glaube es war ein Schrei, der mich geweckt hat. Ich bin vor lauter Schreck fast aus dem Bett gefallen.“ Ihr Blick schweifte ab, und sie sah durch mich hindurch. In Gedanken war sie wieder in jener Nacht. „Ich hab sie weinen gehört, Jörg“, fuhr sie fort. „Sie hat fast eine ganze Stunde lang geweint. Da hab ich Angst bekommen und hätte beinahe bei der Polizei angerufen. An Schlaf war nicht mehr zu denken, und ich hab mir vorgenommen, am nächsten Tag mal was bei den Leuten zu sagen. Aber ich wollte warten, bis es hell geworden ist. Ich hab mich im Dunkeln nicht aus dem Bett getraut. Es war echt gruselig. Also bin ich einfach da gelegen, hab sie weinen gehört und gehofft, sie würde endlich damit aufhören. Irgendwann bin ich dann wieder eingeschlafen.“
Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus.
Während sie sprach, hatte ich Gelegenheit, sie etwas genauer anzusehen. Ich hatte sie immer sehr hübsch gefunden. Sie hatte eine schlanke Figur und lange, schwarze Haare. In unserer Klasse war sie dennoch ein Außenseiter gewesen. Sie hatte mit niemandem viel gesprochen und mit Sicherheit keine Freundschaften geknüpft. Ich war der Einzige, mit dem sie sich hin und wieder unterhalten hatte – was vermutlich daran gelegen hatte, dass ich ebenfalls ein Außenseiter gewesen war.
Als ich sie an diesem verregneten Freitagnachmittag im Café betrachtete, fiel es mir schwer, das hübsche Mädchen von damals wiederzuerkennen. Einzig ihr Lippenpiercing war geblieben, beinahe alles andere hatte sich zum Schlechteren verändert. Selbst ihre schönen Haare wirkten zerfranst und ungepflegt.
Sie fuhr fort. „Am nächsten Morgen bin ich dann zu meinem Nachbarn hoch. Ich hab mich erst nicht recht getraut und hätte es beinahe bleiben lassen. Aber so konnte es schließlich nicht weitergehen, also hab ich mir ein Herz gefasst und bin nach oben gegangen. Ich hab keine Ahnung gehabt wer da überhaupt wohnt. Ich hab geklingelt, und ein älterer Herr hat die Tür geöffnet. Hat gefragt, was ich von ihm will. Ich hab gesagt wer ich bin und dass ich die letzten Nächte immer wieder von seiner Tochter geweckt worden bin. 'Das muss ein Irrtum sein', hat er gesagt. Er hätte überhaupt keine Kinder. 'Aber ich hab in Ihrer Wohnung heute Nacht ein Kind weinen gehört', hab ich ihm gesagt. Er meinte, das muss aus einer anderen Wohnung gekommen sein, er lebt hier allein. Er hätte nichts gehört, hat er noch gesagt. Ich kam mir ziemlich dumm vor, aber ich hab ihm geglaubt. Hab gedacht, dass ich vielleicht alles nur geträumt hab.“
Wieder blickte sie unruhig durch das Café. Seufzte.
„Von da an hab ich das Mädchen eigentlich jede Nacht gehört. Das Komische war, dass ich sie immer nur dann gehört hab, wenn ich schon geschlafen hab. Tagsüber hab ich sie nie gehört, immer nur nachts. Einmal war ich abends so müde, dass ich vor dem Fernseher eingeschlafen bin, als es draußen noch hell war. Mein Fenster stand schräg, und ich bin aufgewacht, weil ich sie unten im Hof hab lachen hören. Ich bin sofort ans Fenster gerannt, aber unten war niemand. Es hat mich wahnsinnig gemacht.“
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an.
„Irgendwann hab ich keine zwei Stunden mehr schlafen können, ohne dass sie mich geweckt hätte. Das Schlimme war, es war irgendwann nicht mehr nur in der Wohnung über mir. Irgendwann hab ich sie immer im Treppenhaus gehört. Eines nachts bin ich aufgewacht, weil sie im Treppenhaus gelacht hat. Ich hab gedacht, das muss das ganze Haus hören. Ich bin an die Wohnungstür gerannt und hab raus geschaut, aber das Treppenhaus war leer. Und still. Ich hab laut 'Wer ist da?' gerufen, aber es hat niemand geantwortet.“
Sie schniefte und legte den Kopf in ihre Hand. Sie wirkte ausgelaugt, müde und resigniert. Sie tat mir leid.
„Ich weiß einfach nicht was ich tun soll, Jörg. Seit nem halben Jahr schlaf ich nachts nicht mehr durch, weil ich sie höre. Ich hab das Gefühl, sie lässt mich immer weniger schlafen. Sobald ich eingeschlafen bin, höre ich sie und wache auf. Entweder redet sie, oder lacht, oder weint oder singt oder macht sonst was. Seit einer Woche ist es richtig übel geworden.“
Sie nahm einen schnellen Zug ihrer Zigarette. „Ich hab sie in meiner Wohnung gehört.“
Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken. „Du meinst in deinem Zimmer?“
„Nein. Nicht im Wohnzimmer. Aber in der Küche. Sie hat geflüstert. Ich hab nicht verstanden was sie gesagt hat, aber ich bin mir sicher, dass es in meiner Küche war.“
„Hast du nachgeschaut?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich sterbe fast vor Angst. Ich liege nur im Bett und halte mir die Ohren zu, aber selbst dann hör ich sie noch. Ich bin am Ende, ich halt das nicht mehr lange aus. Erst war sie in der Wohnung über mir. Dann im Treppenhaus und im Hof. Jetzt in meiner Wohnung." Lydia blickte mich an. "Sie kommt näher, Jörg.“
Ich überlegte, wusste nicht recht, was ich von der Geschichte halten sollte. „Warst du mal bei einem Arzt?“
„Nein, sicher nicht. Was soll der machen, mich in eine Irrenanstalt einweisen?“
Sie zuckte mit den Schultern und beantwortete ihre Frage selbst. „Vermutlich würde er das tun, aber dort würde ich zugrunde gehen. Vielleicht bilde ich mir alles ein, vielleicht auch nicht. Ich selbst glaub nicht dass es eine Einbildung ist. Sonst würde ich mir sowas auch am Tag einbilden. Sonst würde ich sie jetzt hier ...“ sie breitete ihre Arme aus „... irgendwo sehen. Aber ich sehe sie nicht, und ich höre sie auch nicht. Das passiert immer nur, wenn ich schlafe.“
„Und du hast sie noch nie gesehen?“
„Nein, bis jetzt nicht.“
„Und auch nie verstanden, was sie gesagt hat?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich höre sie zwar reden – oder flüstern –, aber was sie sagt, das verstehe ich nicht.“
Sie zog wieder an ihrer Zigarette, schien sich beinahe daran festzuhalten.
„Ich möchte dich jetzt um den Gefallen bitten, Jörg“, sagte sie schließlich. „Ich möchte einfach Gewissheit haben. Ich hab versucht, ihre Geräusche auf Band aufzunehmen, aber ich hör da immer nur Rauschen, wenn ich es abspiele. Manchmal ein lautes Atmen, aber ich glaube, das kommt von mir selbst. Ich möchte einfach nur wissen, ob das eine Einbildung ist, ob ich verrückt geworden bin, oder ob da wirklich jemand ist.“
„Und wie möchtest du sicher gehen?“, fragte ich, doch ich ahnte es bereits.
„Ich möchte, dass du mit mir eine Nacht in meiner Wohnung verbringst. Ich will wissen, ob du sie auch hörst“, antwortete sie.
Ich wollte ablehnen, und beinahe hätte ich es auch getan.
Ich wusste nicht recht, was ich von ihrer Geschichte halten sollte. Es stand für mich außer Frage, dass sie sich das kleine Mädchen – oder zumindest die Geräusche, die es verursachte – nur einbildete. Entweder einbildete oder aber komplett erfunden hatte.
Das war einer der Gründe, warum ich letzten Endes zugesagt habe.
Der andere Grund bestand darin, dass ich beinahe mein komplettes Leben von Frauen ignoriert worden war, wenn sie nicht gerade meine Hausaufgaben hatten abschreiben wollen. Ich fühlte mich daher geschmeichelt, dass eine Frau ausgerechnet mich um den Gefallen bat, mit ihr eine Nacht in ihrer Wohnung zu verbringen. Natürlich wusste ich, dass da nichts laufen würde – aber schon allein der Gedanke daran machte mich ein wenig stolz.
Und schließlich gab es einen dritten Grund: Lydia selbst, wie sie mir gegenüber saß. Sie wirkte schwach und zerbrechlich. Sie sah tatsächlich so aus, als habe sie seit Wochen, vielleicht Monaten, nicht mehr richtig geschlafen. Mein vorherrschendes Gefühl ihr gegenüber war Mitleid, und ich sah, dass es ihr ernst war. Ich wollte ihr helfen. Und es fiel mir ohnehin schwer, eine Bitte abzuschlagen. Nein zu sagen hatte ich nie gelernt.
Also, was sollte schon passieren?
„Ich mache das für eine Nacht“, sagte ich schließlich. „Aber nur unter der Bedingung, dass du danach zu einem Arzt gehst, ganz egal was passiert.“
Sie wirkte erleichtert. „Abgemacht“, antwortete sie.
Wir liefen durch kalten Nieselregen in das Stadtviertel, in dem ihre Wohnung lag. Die städtischen Sozialwohnungen befanden sich in einer eintönigen, trostlos wirkenden Plattenbausiedlung. Wir sprachen nicht viel, und ich hatte das Gefühl, neben einem Gespenst zu gehen.
Als wir an ihrer Haustür ankamen, hielt sie einen Moment inne. „Danke Jörg“, sagte sie. „Danke dass du mir hilfst. Ich weiß das sehr zu schätzen. Ich hätte mich nicht nach zwei Jahren bei dir gemeldet, wenn ich nicht schon ziemlich verzweifelt gewesen wäre. Danke dass du mir hilfst.“
„Kein Problem“, antwortete ich automatisch. Ganz geheuer war mir die Sache noch immer nicht.
„Du bist wirklich meine letzte Hoffnung.“ Sie sah mich an. „Außer dir habe ich niemanden. Es klingt traurig und vielleicht auch seltsam, aber du bist der Einzige, der mir noch geblieben ist.“
Ihre Wohnung war nicht besonders groß. Es gab einen kleinen Eingangsbereich, ein Badezimmer, eine Küche und ein Wohnzimmer, das gleichzeitig als Schlafzimmer diente. In der Ecke stand ein ungemachtes Bett. Überhaupt war es nicht sauber in der Wohnung. Überall lagen Zeitschriften, Bücher, Kleidungsstücke oder sonstige Kleinigkeiten herum. Die Luft wirkte schal und abgestanden.
„Willkommen in meinem Reich“, sagte Lydia. „Mach es dir bequem.“ Sie deutete auf eine kleine Couch, auf der maximal zwei Personen Platz hatten. Sie war zu klein, um darauf zu schlafen.
Ich erinnere mich nicht mehr sehr deutlich an unser Gespräch in ihrer Wohnung. Ich glaube, zu Beginn haben wir nur über irgendwelche belanglosen Dinge geplaudert. Irgendwann sagte Lydia, sie wolle warten bis sie müde sei. „Das ist der Plan“, sagte sie. „Ich lege mich ins Bett und du sitzt neben mir auf dem Sofa. Versuch bitte, wach zu bleiben. Warte bis ich schlafe und aufwache. Und dann sehen wir ja, was ist.“
Irgendwann fiel mir ein Foto auf einem Regal auf, das vier Leute zeigte. Dem Anschein nach ein Ehepaar mit zwei kleine Mädchen. Eines davon war Lydia, doch auf dem Bild war sie kaum älter als zwölf. „Ist das deine Familie?“, fragte ich.
„Ja“, antwortete sie. „Meine Eltern und meine Schwester. Jacqueline.“
Das Foto war offensichtlich bei einem Fotografen gemacht worden. Ihr Vater war ein großer Mann, der streng in die Kamera blickte. Seine dunklen Augen und die dichten Augenbrauen schienen den Großteil seines Gesichts einzunehmen. Die Mutter war eine untersetzte Frau, die auf dem Bild lächelte. Es wirkte gezwungen und unecht. Lydia und Jacqueline blickten ohne zu lächeln in die Kamera.
Es war das traurigste Familienbild, das ich jemals gesehen hatte. Hier blickte mich eine Familie an, die alles andere als glücklich war. Vielmehr hatten sie wohl versucht, durch solch ein professionell gemachtes Foto den Eindruck einer glücklichen Familie zu erwecken. Doch ihr Unglück, ihre Traurigkeit waren beinahe zu spüren. Das Bild verströmte diese Gefühle wie den Gestank von fauligem Fleisch. Ich sah mich um. Es war das einzige Foto in der gesamten Wohnung.
„Wie geht es deiner Familie?“
„Nicht so gut.“ Lydias Stimme klang leise und unsicher. „Mein Vater und meine Schwester sind tot.“
Diese Aussage traf mich wie ein Faustschlag in die Magengrube. Ich war erschüttert. „Was? Warum das denn?“
„Lange Geschichte“, antwortete Lydia. „Die Kurzfassung ist, mein Vater hat sich tot gesoffen. Kein großer Verlust, für niemanden. Er war ein übler Schläger, der unsere Familie über Jahre hinweg tyrannisiert hat. Ich denke auch, dass er meine Schwester auf dem Gewissen hat.“
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. „Du meinst dein Vater hat deine Schwester ermordet?“
Lydia schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Ich weiß nicht genau wie sie gestorben ist. Es war ein Unfall, das hat man mir zumindest gesagt. Ist in der Badewanne ausgerutscht, ohnmächtig geworden und ertrunken. Ich hab zu der Zeit nicht daheim gewohnt. Bin abgehauen, als ich vierzehn war. Jacqueline war meine kleine Schwester, und sie ist gerade mal zehn Jahre alt geworden.“ Lydias Stimme zitterte. Sie war den Tränen nahe. Es war nicht meine Absicht gewesen, ausgerechnet jetzt diese schrecklichen Erinnerungen in ihr zu wecken, doch scheinbar wollte sie es erzählen. Vielleicht musste es einfach raus. Du bist der Einzige, der mir noch geblieben ist. Das hatte sie zu mir gesagt.
„Ich wäre gern für sie da gewesen, aber ich hab es selbst nicht mehr ausgehalten. Es war die Hölle. Mein Vater ist jeden Abend betrunken nach Hause gekommen und hat einen Riesenkrach gemacht. Er hatte ständig Wutanfälle, hat Stühle durch die Wohnung geworfen, herumgebrüllt oder unsere Mutter verprügelt.“ Jetzt lief eine einzelne Träne Lydias Wange hinunter, doch sie schien das kaum zu bemerken. „Ich bin dann immer in Jacquelines Zimmer gegangen, weil ich wusste, wie groß ihre Angst war. Ich hab sie umarmt, sie an mich gedrückt. Sie war damals vielleicht sechs oder acht Jahre alt. Wir haben geweint und gehofft, dass sich unser Vater beruhigen würde. Wir hatten ständig Angst, dass er zu uns ins Zimmer kommt, aber uns hat er nie angerührt.“
Ich hätte Lydia jetzt gern in den Arm genommen, sie an mich gedrückt wie sie es vor vielen Jahren bei ihrer kleinen Schwester gemacht hatte, doch ich traute mich nicht.
„Ich hab Jacqueline immer einen Spruch gesagt, der sie beruhigen sollte. Ich hab mich für sie verantwortlich gefühlt, weißt du. Ich hab immer zu ihr gesagt: 'Dein Mund ist ein Schnabel, spitz und klein – überall hast du Federn, weich und fein. Deine Arme sind Flügel, groß wie ein Zelt – breite sie aus und erkunde die Welt. Du bist ein so wunderschönes Tier – hab keine Angst, denn du bist nicht hier. Flieg, kleiner Vogel, flieg.' Dann hab ich in meine Handfläche gepustet, als würde dort eine Feder liegen. Das war das Zeichen, dass Jacqueline die Augen schließen und sich vorstellen sollte, irgendwo hin zu fliegen. Egal wohin, Hauptsache weit weg. Weit weg von diesem widerlichen Kerl, der unser Vater war.“
Es brach mir fast das Herz, diese Geschichte zu hören. Sie war wesentlich schrecklicher als die Geschichte, die sie mir im Café erzählt hatte, da dies wirklich geschehen und nicht nur ihre Einbildung war.
„Irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten und beschlossen, abzuhauen. Ich bin eines Abends zu Jacqueline ins Zimmer und hab mich verabschiedet. Sie hat geweint und gemeint, ich müsste bei ihr bleiben. 'Wer soll jetzt auf mich aufpassen?', hat sie mich gefragt. Ich hab ihr gesagt, dass sie auch ohne mich klar kommt. Da hat sie noch mehr geweint und mich angefleht, bei ihr zu bleiben. Da hab ich wirklich gezögert, bin aber doch gegangen. Als ich weg bin, hat Jacqueline immer noch geweint. Ich dürfte sie nicht allein lassen, hat sie immer wieder gesagt. Aber ich hab es getan. Hab sie allein gelassen bei unserem irren Vater, und ein halbes Jahr später war sie tot.“
„Mein Gott, das ist ja schrecklich.“
Lydia schluckte. „Es klingt vielleicht seltsam ... aber ich glaube, was sie mir eigentlich zu sagen versucht hat, war, dass sie ohne mich nicht fliegen konnte. Was wird aus uns, wenn uns die Menschen, die uns Halt geben sollten, einfach im Stich lassen? Was wird aus uns, wenn wir direkt in den Abgrund stürzen?“
Jetzt begann Lydia richtig zu weinen, und ihre Stimme brach. „Ich hab mir das nie wirklich verziehen, dass ich sie allein gelassen hab. Aber ich habs selbst nicht mehr ausgehalten dort. Ich musste gehen, und ich konnte sie ja nicht mitnehmen, oder?“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte laut. Ich wusste zwar, dass sie keine einfache Kindheit gehabt hatte – sie hatte früher immer wieder Andeutungen gemacht – doch dass es eine solche Hölle gewesen war hätte ich nie für möglich gehalten.
Ich wollte sie immer noch umarmen, doch sie gab mir keine Gelegenheit. Sie rannte ins Badezimmer, und ich hörte sie hinter der verschlossenen Tür laut weinen.
Wieder blickte ich auf das Foto, das Lydias einzige Erinnerung an ihre Familie war. Auf dem Bild war Jacqueline vielleicht sieben.
Auf einmal hatte ich ein Bild vor Augen: Lydia, wie sie während der Beerdigung vor dem offenen Grab ihrer Schwester steht, und ihr eine Blüte auf den Sarg wirft. Ihr einen letzten Gruß mitgibt.
Flieg, kleiner Vogel, flieg.
Ich habe nie erfahren, ob sich diese Szene wirklich so zugetragen hat, aber ich bin mir sicher, es war so.
Es war etwa zehn Uhr, als sich Lydia in ihr Bett legte.
Ich hatte auf der Couch daneben Platz genommen. Ihre Augen waren rot und verquollen. Sie wirkte müder denn je.
„Ich werde jetzt versuchen zu schlafen“, sagte sie mit trockener Stimme. „Bitte versuch wach zu bleiben. Ich denke nicht, dass es lange dauert. In der letzten Zeit hab ich nie länger als eine Stunde am Stück geschlafen. Du kannst dir ein Licht anlassen und durch irgendeine Zeitschrift blättern wenn du willst.“
„Ist gut“, antwortete ich. „Ich hoffe, du kannst durchschlafen.“ Ich hätte ihr gern noch etwas Tröstliches gesagt, doch mir fiel nichts Passendes ein.
„Das hoffe ich auch. Seit Monaten schon“, war ihre Antwort darauf.
Sie blickte an die Decke, die Augen noch immer offen. Ich nahm eine der Zeitschriften, die auf ihrem Couchtisch lagen und blätterte darin herum. Es war nichts, das mich wirklich interessierte.
Irgendwo in der Wohnung hörte ich leise eine Uhr ticken. Straßengeräusche drangen gedämpft durch die verschlossenen Fenster.
Lydia drehte sich zur Seite, mit dem Gesicht weg von mir. Sie atmete ruhig und gleichmäßig.
In Gedanken ging ich ihre Geschichte noch einmal durch. Ich wunderte mich, dass sich mein Abend in den wenigen Stunden, seit ich sie im Café getroffen hatte, so seltsam entwickelt hatte. In der Regel verlief mein Leben ruhig, gleichmäßig. Eigentlich sogar langweilig.
Ich hörte im Treppenhaus eine Tür zufallen. Irgendwo lief leise ein Fernseher.
Mein Blick wanderte auf das Bild ihrer Familie. Ich stellte mir vor, wie Jacqueline in der Badewanne ausrutschte und qualvoll ertrank. Wie sich das Wasser um sie herum langsam rot verfärbte. Es war ein Unfall, das hat man mir zumindest gesagt. Bedeutete das, dass Lydia daran zweifelte? Was dachte sie? Welche Vorstellung quälte sie? Dass ihr Vater ihre Schwester umgebracht hatte? Ich glaubte das nicht, weil ich mir etwas so Schreckliches nicht vorstellen wollte, doch was konnte ich schon über ihre Familie sagen?
Die Geräusche um mich herum schienen lauter zu werden, wie Hintergrundgeräusche das immer tun, wenn man auf nichts anderes mehr achtet.
Lydias Atmen.
Das Ticken der Uhr.
Der Fernseher in einer der anderen Wohnungen.
Ich war nicht sicher, ob Lydia bereits schlief. Ich fragte mich, ob ich die ganze Nacht auf dieser Couch würde verbringen müssen.
Es verging eine halbe Stunde, dann eine Stunde. Nichts geschah. Irgendwann machte ich das Licht aus, lehnte mich auf der Couch zurück. Spürte, wie ich müde wurde.
Ich hatte nicht vor, einzuschlafen. Schließlich hatte ich Lydia versprochen, es nicht zu tun. Ich wollte einfach nur meine Augen schließen und mich ausruhen, dabei weiterhin auf ihr Atmen und das Ticken der Uhr hören.
Dann schlief ich ein, ohne es zu merken.
Als mich jemand an der Schulter packte und schüttelte, wachte ich auf.
Um ein Haar hätte ich geschrien. Ein Gespenst hatte sich über mich gebeugt und riss an meinem Körper. Ich erkannte nur undeutliche Schemen und Umrisse, war vollkommen orientierungslos.
„Jörg, wach auf“. Ich erkannte ihre Stimme. Es war kein Gespenst, es war Lydia, und mir fiel wieder ein, wo ich mich befand. Und aus welchem Grund. Ich schreckte hoch.
„Lydia, alles in Ordnung?“
Sie hatte ihre Hände immer noch in meine Schultern gekrallt, doch sie riss nicht mehr daran. Sie kniete neben mir auf dem Sofa und atmete sehr schwer, keuchte beinahe. Ich konnte nur die Umrisse ihres Kopfes und ihrer Haare sehen, das Gesicht selbst lag im Dunkeln. Beinahe sah es so aus, als sei da überhaupt kein Gesicht. Als sei an dieser Stelle nur ein schwarzes, undurchdringliches Loch. Doch ich hörte sie keuchen. Sie machte mir Angst, und ich war sofort hellwach.
„Lydia, was ist -“.
„Sei still“, fuhr sie mich an. Ihre Stimme klang aggressiv, panisch. „Hörst du sie?“, fragte sie mich.
Ich hörte nur ihr angestrengtes Keuchen, spürte ihren heißen Atem auf meinem Gesicht. Langsam sanken ihre Hände von meinen Schultern, und die schemenhafte Gestalt vor mir verlor ihren Schrecken. Ich versuchte zu schlucken, doch mein Mund war zu trocken.
Ich lauschte in das Dunkel ihrer Wohnung. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Das Ticken war immer noch da, doch der Fernseher, den ich kurz vor dem Einschlafen gehört hatte, war wohl ausgeschaltet worden.
„Nein“, antwortete ich, „ich höre nichts. Was ist da?“
„Hörst du sie denn nicht?“, flüsterte Lydia, doch es klang gequält, so als konnte sie sich nur mit Mühe davor zurückhalten, mir die Worte ins Gesicht zu schreien.
Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich blickte angestrengt in ihrer Wohnung umher, als könnten meine Augen in der Schwärze etwas wahrnehmen, das meinen Ohren verborgen blieb.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nichts hören. Da ist nichts.“
Lydia antwortete nicht.
„Hast du sie wieder gehört? Bist du davon aufgewacht?“
Ihre einzige Antwort bestand aus ihrem Keuchen. Ihrer Körperhaltung konnte ich entnehmen, dass sie ebenfalls in die dunkle Wohnung lauschte.
„Wann hast du sie denn gehört?“, fragte ich.
Auch wenn ich ihre Augen nicht sehen konnte, spürte ich, wie sich mich anblickte. Tonlos antwortete sie: „Ich höre sie jetzt. Jetzt in diesem Moment. Sie ist in der Küche. Sie spricht leise vor sich hin. Hörst du das nicht?“
Eiskalte Schauer liefen meinen Rücken hinunter, und ich spürte, wie sich die Härchen an meinen Armen aufrichteten. Langsam nahm ich die Umrisse ihrer Möbel wahr.
„Hey du machst mir echt Angst. Da ist nichts in der Küche.“
„Doch, sie ist da. Sie ist in meiner Wohnung und lässt mich nicht mehr schlafen. Ich hab solche Angst, dass sie in dieses Zimmer kommt, Jörg. Ich hab solche Angst.“
Die hatte ich inzwischen auch. Die gesamte Szene wirkte zu grotesk, um wirklich zu sein. Träume ich das nur?, fragte ich mich. Ist das ein Traum?
Ich richtete mich auf, beugte mich zur Seite und knipste eine kleine Nachttischlampe an. Endlich konnte ich Lydias Gesicht wieder sehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ein dünner Schweißfilm hatte sich über ihr Gesicht gelegt.
„Sie macht mich wahnsinnig. Bitte sag mir, dass du das auch hörst, Jörg. Da ist ein kleines Mädchen in meiner Küche, und sie redet leise vor sich hin. Sag mir dass du das hörst.“
Meine Hand zitterte unkontrolliert, und auf einmal war mir sehr kalt.
„Lydia, bitte beruhige dich erstmal. Komm, steh auf, lauf ein bisschen durch die Gegend. Du bildest dir das ein.“
„Ich will, dass du nachschauen gehst. Geh in die Küche und sieh nach, wer da ist.“
In mir keimte der Verdacht auf, das sei alles nur ein Spiel. Was sollte jetzt passieren? Versteckte sich da jemand in der Küche, um mich zu erschrecken?
Ich stand auf. „Also schön, ich schaue nach. Versuch du dich einfach zu beruhigen. Ich kann dir versichern, dass da niemand ist.“
Meine Stimme klang fest, doch ich war innerlich aufgewühlt, wenn nicht verängstigt. Ich wünschte mir, ich hätte Lydia den Gefallen an diesem Abend verweigert und wäre nach Hause anstatt in ihre Wohnung gegangen.
Ich ging langsam durch das Wohnzimmer in Richtung Eingangsbereich. Rechts davon war die Tür zur Küche.
Das Ticken der Uhr war hier lauter, doch ich konnte niemanden reden hören. Ich drehte mich kurz um und sah Lydia auf ihrem Sofa sitzen, in sich zusammengesunken und vollkommen verängstigt. Sie wirkte wie ein gejagtes Tier, das sich bewusst war, dass es die Jagd verloren hatte und nun darauf wartete, von seinem Jäger erlegt zu werden.
Ich betrat den Eingangsbereich.
Drehte mich zur verschlossenen Küchentür.
Griff an die Türklinke.
Ich war auf alles gefasst. Jeder Muskel, jede Sehne meines Körpers war zum Zerreißen angespannt. Meine Sinne schienen auf einmal überempfindlich. Ich nahm jedes Detail der schwach beleuchteten Tür wahr, hörte das Ticken der Uhr so laut, als befände sie sich direkt in meinem Kopf.
Ohne es wirklich zu wollen, sah ich, wie sich meine Hand auf dem Türgriff langsam senkte. Die Tür schwang auf.
Die Küche war dunkel und still. Ich tastete mit der Hand rechts an der Wand entlang, bis ich auf den Lichtschalter stieß.
Das Licht flackerte zweimal, bevor es brannte.
Ich sah sie beim ersten Flackern.
Sie stand in der Mitte der Küche, und sie blickte mir direkt ins Gesicht. Ihre Haut hatte sich blau verfärbt und war aufgedunsen. Schwarzes nasses Haar hing ihr ins Gesicht, doch es verdeckte nicht die toten Augen, deren Blick mich durchbohrte. Ihr Mund war zu einer Fratze verzerrt und formte Worte, die ich für einen kurzen Moment zwar hörte, doch nicht verstand. Sie schien nicht mit mir zu sprechen, sondern mit sich selbst. Auf ihrer Stirn sah ich einen schwarzen Klumpen, der an geronnenes Blut erinnerte.
Dies allein hätte bereits gereicht, um mir die nächsten Wochen Alpträume zu bescheren. Doch das Schlimmste war nicht ihr Körper, der schon lange tot war. Es waren auch nicht die leise und monoton gesprochenen Worte, deren Rhythmus an einen bösen Fluch erinnerte. Das Schlimmste war der Ausdruck in ihrem Gesicht. Eine unglaubliche Wut sprang mich aus ihren schwarzen Augen und dem verzerrten Mund an. Ihr Körper war tot, doch der Zorn in ihren Augen war lebendig und sprühte wie Funken daraus hervor.
Ich erkannte sie sofort. Sie war kaum älter als auf dem Foto. Sie stand vor mir in einem weißen Kleid, das nass um ihren Körper schlotterte. Sie hatte ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt, und an ihren verkrampften und mit blauen Flecken übersäumten Armen standen die Venen deutlich hervor. Es war Jacqueline, Lydias kleine Schwester. Die von ihr vor vielen Jahren im Stich gelassen worden und dann in einer Badewanne auf grausame Art ums Leben gekommen war.
Alles an ihrem Körper wirkte unendlich wütend.
Es war dieser Zorn, der sie noch am Leben hielt.
Beim zweiten Flackern war sie verschwunden. Ich taumelte zurück, wäre beinahe gestürzt, wenn ich mich nicht am Türrahmen festgehalten hätte. Jetzt brannte das Licht in der Küche, und sie war leer. Leer und still.
„Was ist da?“, brüllte Lydia vom Sofa aus. „Jörg, was ist da?“
Ich blickte nochmal in die Küche. Jacqueline war verschwunden.
„Nichts“, stammelte ich, doch ich spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich würde mich nicht mehr lange zusammenreißen können, das fühlte ich. Ich musste hier raus. „Wie ich gesagt habe, da ist nichts.“ Meine Stimme klang dünn und strafte meine Worte lügen.
Lydia stand auf. „Das ist doch nicht wahr. Du hast doch was gesehen. Sag mir, wer ist da in meiner Küche?“
Ich drehte mich zu Lydia um. Eben noch war mir kalt gewesen, nun spürte ich, wie ich zu schwitzen begann. Die Luft wurde unerträglich warm, und der Drang, diese Wohnung zu verlassen, wurde übermächtig.
„Da war nichts. Hör zu, ich muss jetzt gehen. Ich habe dir den Gefallen getan, und da war nichts.“
Sie ging durchs Wohnzimmer, kam auf mich zu. Ich sah die Ähnlichkeit zwischen ihrem Gesicht und dem aufgequollenen, verfärbten Gesicht des kleinen Mädchens, das eben in ihrer Küche gestanden hatte. Vielleicht auch jetzt noch dort stand.
Ich muss hier raus. Muss unbedingt hier raus.
„Bitte, Lydia, geh einfach zum Arzt.“ Ich drehte mich zur Wohnungstür um. Die Panik hatte nun beinahe meinen kompletten Körper ergriffen.
Lydia packte mich erneut an den Schultern, doch diesmal war ihr Griff schwach, beinahe flehend. „Jörg bitte, du musst mir helfen. Lass mich jetzt nicht alleine. Ich hab doch sonst niemanden.“ Ihre Stimme klang verzweifelt, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch ich registrierte das kaum. Ein dünner Nebelschleier legte sich vor meine Augen, und ich nahm ihre Worte nur noch undeutlich wahr.
Raus hier, nichts wie raus.
Ich schob Lydia beiseite, und sie sank zu Boden. Ich öffnete die Wohnungstür. „Ich muss jetzt gehen. Bitte, lass mich jetzt gehen. Wir sehen uns, ich melde mich.“
Dann drehte ich mich um und hastete das Treppenhaus hinunter. Ich hörte, wie sie mir nachrief. „Bitte Jörg, lass mich nicht allein. Lass mich hier nicht allein.“
Doch das tat ich. Ich stürmte aus dem Haus, sog im Freien die kühle Luft ein und rannte in die Nacht. Ich weiß nicht mehr genau, wohin. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie lange. Ich weiß nicht mal mehr, ob ich währenddessen geschrien habe. Vielleicht tat ich es.
Dieser Abend liegt nun schon mehr als vier Jahre zurück und war das letzte Mal, dass ich Lydia lebend gesehen habe.
Etwa vier Wochen nach jenem Erlebnis ist sie aus einem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock gesprungen und war sofort tot. Ich erfuhr eher durch Zufall davon und spielte mit dem Gedanken, zur Beerdigung zu gehen. Ich ließ es dann aber doch bleiben. Ich war zu schockiert.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum wir uns nach jenem verhängnisvollen Abend nicht noch einmal getroffen haben. Der Grund ist, ich konnte das nicht. Sie schrieb noch ein paar SMS und versuchte einige Male, mich anzurufen, doch ich ignorierte sie. Ich hatte ihr nichts mehr zu sagen. Für mich war die Sache klar: Sie war durchgedreht und brauchte Hilfe. Das hatte ich ihr gesagt. Geh zum Arzt, waren mit meine letzten Worte an sie gewesen. Ich hatte keine Lust darauf, dass ihr Wahnsinn auf mich übersprang. Ich hatte in ihrer Küche eine schreckliche Einbildung gehabt, die ich ihr und ihren Horrorgeschichten zu verdanken hatte. Wer weiß, was als Nächstes gekommen wäre?
Ich hatte nicht vor, sie ewig zu ignorieren. Ich habe damals vermutet, sie würde sich von alleine wieder beruhigen. Würde wieder zur Vernunft kommen. Sich vielleicht sogar bei mir entschuldigen. Eines Tages kam noch eine letzte SMS von ihr, die nur aus fünf Worten bestand: „Sie ist jetzt fast da.“ Ich wußte nicht, was ich darauf hätte antworten sollen. Ich war zu durcheinander, um richtig reagieren zu können. Und zwei Tage später hörte ich dann, dass sie aus dem Fenster gesprungen war.
Auf der einen Seite war ich sehr schockiert, auf der anderen Seite zeigte es mir aber auch, wie weit ihr Wahnsinn schon fortgeschritten war.
Ich erinnere mich an einen Traum, den ich zu dieser Zeit hatte. Darin saß ich wieder auf ihrer Couch mitten in der Nacht. Sie lag im Bett neben mir, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, und starrte mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Küche. In meinem Traum konnte ich auch das Flüstern von dort hören. Es wurde immer lauter. „Sie ist jetzt fast da“, sagte Lydia in meinem Traum. Dann sah ich, wie ihre Schwester aus der Küche trat und ins Wohnzimmer kam. Sah wieder den Zorn in ihrem toten Gesicht. Ich drehte mich zu Lydia um und schrie immer wieder: „Flieg, kleiner Vogel. Flieg, kleiner Vogel. Flieg.“ Da stand sie auf, rannte zum Fenster und sprang hinaus. Und ich wachte auf.
Es war das einzige Mal, dass ich von Lydia träumte. Irgendwann legte sich auch mein Schockzustand, und ich bereute, ihr nicht beigestanden zu haben. Aber auch das Bedauern verging, und es kam der Tag, an dem ich nicht mehr an sie denken musste.
Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle?
Weil es mir heute so geht wie ihr damals. Vor etwa zwei Monaten ging es los. Ich wachte nachts auf, weil ich ständig eine Frau in der Wohnung über mir hörte. Normalerweise höre ich dort oben niemanden, doch in der Nacht war das anders. Ich hörte immer nur diese Frau sprechen und vermutete daher, sie würde die ganze Nacht telefonieren. Eines Tages sprach ich meinen Hausverwalter darauf an, der aber nur meinte, die Wohnung würde leer stehen.
Da musste ich wieder an Lydia und ihre Geschichte denken. Irgendwie war sie aus einer der hinteren Ecken meines Unterbewußtseins gekrochen und hatte sich in meinem Verstand festgesetzt. Ich wachte immer öfters nachts auf, und immer wieder hörte ich diese Frau.
Aber ich glaube nicht an Gespenster. So ein Unsinn.
Nur an das schlechte Gewissen, das offenbar nicht vergessen will. Es tut mir wirklich leid, dass ich sie im Stich gelassen habe. Vielleicht ist das jetzt die Strafe dafür.
Wissen Sie, wie sich der Körper verändert, wenn man nachts nicht mehr schlafen kann? Wie sich der Geist verändert? Man bildet sich die wildesten Dinge ein. Man wird unkonzentriert und ist leicht gereizt.
Immer wieder erinnere ich mich an diese Einbildung aus Lydias Küche.
Diese unglaubliche Wut. Warum war sie so wütend gewesen?
Und immer wieder diese Stimme, die mich nicht schlafen lässt. Manchmal lacht sie einfach nur, stundenlang.
Tagsüber weiß ich, dass das alles nur Einbildung ist. Nachts, wenn ich wachgehalten werde, bin ich mir da allerdings nicht mehr so sicher.
Ich wünschte, ich hätte ihr geholfen. Ich wünsche mir das so sehr. So sehr, wie ich mir wünsche, dass diese Stimme verschwindet.
Lass mich hier nicht allein, hatte sie mir im Treppenhaus noch nachgerufen.
Was wird aus uns, wenn wir direkt in den Abgrund stürzen?
Vor vier Tagen hörte ich sie das erste Mal an meinem Balkonfenster kratzen. Ich habe nachgesehen, aber da war nichts. Wenn ich aber nicht hinschaue, hört es sich so an, als wolle jemand in meine Wohnung. Einbildung. Alles Einbildung.
Großer Gott, ich hoffe, dass sie wieder verschwindet.
Hätte ich ihr nur geholfen.
Am Wochenende kommt meine Schwester zu Besuch. Sie kommt mit dem Flugzeug und wird ein paar Tage bleiben. Bei mir übernachten.
Ich war immer ein Außenseiter, habe ich das schon erwähnt?
Meine Schwester ist die Einzige, mit der ich über alles sprechen kann. Die Einzige, die mir geblieben ist.
Ich bin gespannt, ob sie das Kratzen in der Nacht auch hört. Sie wird mir bestätigen, dass ich mir das nur einbilde.
Vielleicht werde ich sie trotzdem bitten, schnell nachzusehen.
Nur um sicher zu gehen.