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Fliederweg

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20.05.2015
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Fliederweg

In meinen Phantasien waren wir sechs Jahre alt geblieben, denn ich hatte sie seit der Vorschule nicht mehr gesehen. Genau genommen war mir nicht mehr als eine einzige Erinnerung an Janine geblieben: Sie hatte mich besucht, vermutlich ein Arrangement unserer Eltern. Sofort fand sie Gefallen an dem großen, violetten Pezziball, und wir verbrachten den Nachmittag im sonnengefluteten Erker des Wohnzimmers, die Eltern weit, weit weg oder sogar außer Haus. Janine war blond und sehr blass, und wenn ich sie mir vorstellte, hörte sie nie auf zu lächeln. Außerdem hatte sie eine Krankheit, von der ich nicht viel mehr wusste, als dass sie davon wunde Stellen unter beiden Augen bekam: zwei kleine, pinke Entzündungen, die mich heimlich Bilder malen ließen, auf denen ich Janine in meinem Hass Gewalt antat, dann wieder großes Mitgefühl in mir erzeugten, wenn Kinder zu so etwas fähig sind. Ich habe nach den Symptomen gegoogelt, leider erfolglos, denn die Ergebnisse waren um einiges ekelhafter als ihre Krankheit, die ihr doch ein gewisses Etwas gab.

Vielleicht war es das Spiel mit dem Gummiball, vielleicht die Abwesenheit meiner Eltern, ich weiß nicht einmal mehr, ob es meine oder Janines Idee war, jedenfalls spielten wir: Du zeigst mir deins, ich zeig dir meins. Sie stieg für mich aus ihrer Latzhose, dann aus dem Schlüpfer, und ich ahnte nicht im geringsten, dass sich der Anblick ihrer zarten Möse im goldenen Nachmittagslicht auf ewig bei mir einbrennen würde. Zunächst war ich zutiefst schockiert und floh aus dem Zimmer, doch ich kehrte zurück, um ihr auch meins zu zeigen. Wir berührten einander nicht, das verstand sich von selbst. Es war nicht das letzte Mal, dass ich dieses Spiel mit einem Mädchen trieb, aber es sollte das letzte Mal sein, dass ich das Mädchen hinterher nicht um meinen Teil der Abmachung prellte.

Eineinhalb Jahrzehnte später, in denen ich zwanghaft versucht hatte, mich selbst mit anderen Mädchen zu betrügen, wurde mir klar, dass ich was ändern musste. Ich googelte Janine Falkner Berlin. Die Suchmaschine hieß anders, aber im Hintergrund rief sie Google über einen Proxy auf, ich wollte weniger Spuren im Netz hinterlassen. Portraits unzähliger Menschen lachten mir entgegen: Schauspielerinnen, Fußballerinnen und natürlich Leute mit Greifvögeln. Wenn sie wie ich Abitur gemacht hatte, fand ich vielleicht eine Namensliste ihres Abijahrgangs, was mir fürs erste genügt hätte. Ich setzte Anführungszeichen um ihren Namen und bekam nur noch siebzehn Bilder, auf dreien war eine Frau abgebildet, sie war schwarz. Was hatte ich mir denn vorgestellt? Es wäre so einfach gewesen, wenn ich die Klassenliste von damals gefunden hätte, aber meine Eltern hatten sie wohl weggeworfen.

Ein paar Tage später googelte ich sie erneut. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung, wo in Steglitz sie damals gewohnt hatte, musste selbst einmal dort gewesen sein, wahrscheinlich auf ihrem Kindergeburtstag, also googelte ich Janine Falkner 12169 Berlin. Auf Seite vier fand ich einen Yelp-Eintrag zu Eisenwaren Robert Falkner, direkt am Steglitzer Damm gelegen, leider ohne Mitarbeiterfotos. Ich hatte keine Ahnung, wie ihr Vater mit Vornamen hieß oder als was er damals gearbeitet hatte, aber ich hätte ihn jederzeit wiedererkannt mit seinem Walrossschnauzer, seiner Glatze und den runden Brillengläsern. Donnerstags geöffnet bis 18 Uhr, mir blieben noch zwei gute Stunden, um meinem Glück auf die Sprünge zu helfen, also fuhr ich mit der S-Bahn nach Steglitz.

Wie ich durch die Straßen meiner Kindheit ging, kam mir alles viel kleiner vor als damals. Auch auf Google Maps wirken Distanzen viel größer als in Wirklichkeit, und so stand ich schneller vor dem Eisenwarenladen, als ich mir gewünscht hätte, um eine plausible Ausrede für meinen Besuch zu erfinden. Kurzerhand trat ich ein, und eine elektrische Türglocke erklang. Der Mann hinterm Tresen schaute von seiner Zeitschrift auf. Mein Herz setzte aus, denn alles stimmte: der Schnauzer, die Glatze, sogar die Brille. Genau wie die Nachbarschaft kam er mir kleiner vor als damals.
»Guten Abend.«
»Juten Abend, wat kann ick für Sie tun?«
Ich schaute mich um, als wüsste ich genau, was ich wollte, und suchte es in den Regalen.
»Ich, öh ... haben Sie Kabelbinder?«
»Nee, dat is’n Eisenwarenjeschäft. Schlauchklemmen hätten wa.«
»Egal. Dann nehm ich zwei Meter Stahldraht, drei Millimeter stark bitte.«
»Nullachfuffzehn, verzinkt oder extra-tension?«
»Extra-tension klingt gut.«
Robert Falkner nickte und schnitt mir den Draht zurecht.

»Es gibt nicht mehr viele Läden wie diesen hier«, meinte ich beiläufig.
»Jap, leider ... dat meiste jibt’s heute in Baumärkten. Die könn’s sich leisten, immer ’n paar Fennich bill’jer zu sein, dafür ham’ die Fritzen da von nüscht ’ne Peilung. Wenne Beratung willst, kommste hierher.«
»Der Laden gehört Ihnen?«
»Jehört den Falkners schon seit drei Jenerationen, aber ick werd der letzte sein.«
»Wegen der Baumärkte?«
»Nee, wejen meiner Tochter. Kann’s ihr nich übel nehm’, dasse keen Bock hat, ’nen krepierenden Laden zu übernehmen, aber ick hab nur die eene.«
»Das muss schwierig sein für die Eltern, wenn die Kinder ihre eigenen Ideen entwickeln.«
»Och, ick bin nich unzufrieden ... sie macht Bürokooffrau und kann sich jetz schon ihre eijene Butze leisten.«
»Sie wohnt nicht mehr zu Hause? Schaut sie denn oft vorbei?«
»Je’n Sonntach, is’ne jute Tochter. Kann ick sonst noch wat für Sie tun?«
»Hmm ... ich bräuchte noch was von dem Stahl da.«
»Bringse det mal rüber, ick schneid Ihn’ wat ab.«
Ich zog einen Stahlstab vom Durchmesser einer 20-Cent-Münze aus dem Ständer, er war wie erhofft sehr schwer.
»Wie viel wollnse’n ham’?«
»Vierundzwanzig Zentimeter.«
»Wat hamse eijentlich vor, wenn ick frajen darf?«
»Ich ... ich will eine Gardine aufhängen.«
»Da hätt ick Ihn’ ooch ‘n fertijes System anbieten können.«
»Bloß nicht, ich bastle gerne.«
»Na jut, det will ick unterstützen. Machense ma kurz die Lauscher zu—«
Ich hielt mir die Ohren zu, und er ließ die Standsäge aufkreischen.
»Det macht dann vier-sechsenachzich bidde.«
»Hier, behalten Sie den Rest. Ich mag Ihren Laden.«
»Falkner dankt, ick wünsch Ihn’ frohet Schaffen mit Ihre Jardine!«

Draußen schaute ich auf die Uhr: noch eine Stunde bis Ladenschluss. Ich ging zu Eis-Hennig und bestellte Joghurt und Waldmeister in genau dieser Reihenfolge, damit mein Favorit im Becher unten landete, dann setzte ich mich raus auf den Steglitzer Damm, las meinen Süskind und wartete.

Falkner verließ seinen Laden pünktlich um fünf nach sechs. Er schloss ab, zog das Faltgitter vor die Tür und verriegelte auch dieses, dann stiefelte er los. Ich hoffte, dass er kein Auto hatte, denn dann wär das Warten für die Katz gewesen und ich hätte am nächsten Tag mit dem Motorrad wiederkommen müssen, für das ich nicht einmal einen Führerschein hatte, doch Falkner blieb Fußgänger. Hätte er sich umgedreht, hätte er mich nicht erkannt, denn ich folgte ihm mit gebührendem Abstand und hatte die Sonne im Rücken. Kurz vor Bahnhof Südende betrat er die Sembritzkistraße, und ich ging fortan auf der anderen Straßenseite, wo mich die parkenden Autos besser verbargen. Als wir in den Oehlertring einbogen, hatte ich ein so starkes Déjà-vù, dass ich beinahe aufgeflogen wäre, denn ich ging weiter, obwohl er nach wenigen Schritten vor einer Haustür stehengeblieben war. Das Reihenhaus sah noch genauso aus wie in meinen Erinnerungen, nur etwas kleiner. Falkner schloss auf und verschwand im Treppenhaus, die Tür fiel ins Schloss. Wenn die Klingelschilder richtig angebracht waren, wohnten die Falkners im Hochpaterre, auch das deckte sich mit meinen Erinnerungen. Ich wartete ein paar Minuten lang, dass sich was tat, dass jemand die Gardinen in der Küche teilte und auf mich aufmerksam wurde. Hier konnte ich heute nichts mehr reißen, also fuhr ich nach Hause. Die Abendsonne in der S-Bahn war fast so golden wie damals im Erker. Vielleicht war ich Janine in der Zwischenzeit mehrmals begegnet, ohne es zu merken, denn sie konnte eine erwachsene Frau geworden sein.

Freitag Nacht traf ich mich mit dem Bekannten eines Bekannten in der Hertzallee hinterm Bahnhof Zoo. Ich fragte mich, warum wir uns genau hier treffen mussten, wo die Polizei doch nur ein paar Meter die Straße runter saß, aber das war wohl der Witz an der Sache: je auffälliger, desto unauffälliger. Wir waren beide pünktlich, und ich erkannte ihn sofort, obwohl ich vorher nicht wusste, wie er aussah, denn die Straße war ansonsten wie leergefegt. Er ging nervös auf und ab, trug eine schwarze Lederjacke und auf der Wange ein dürftig-gepflegtes Klischee von Narbe. Ein Bilderbuch-Bandit, aber auch hier galt wohl: je auffälliger, desto unauffälliger, umgekehrt natürlich genauso.

Ich sprach ihn an: »Du heißt nicht zufälligerweise Joe-Joe?«
Er grinste und sagte: »Doch, für dich heiß ich Joe-Joe.«
»Gut. Wie machen wir das?«
Joe-Joe musterte mich von oben bis unten und kam zu dem Ergebnis, dass ich ein harmloser Student der Informatik sein musste und er mich mit links zusammenfalten würde, wenn ich ihm irgendwie dumm käme.
»Ich geb dir den Stoff, du gibst mir die Knete, ich zähl kurz nach, und wir machen uns beide ’nen bunten Abend.«
Natürlich räumte sich Joe-Joe das Recht ein, meine Scheine zu zählen, aber hätte ich mir das Recht eingeräumt, seinen Stoff zu wiegen, hätte er ein Fass aufgemacht. Es gab ohnehin nicht viel zu zählen, denn für sein Päckchen gab ich ihm zwei grüne Scheine.
»Perfekt. Ich hab dir zehn Prozent Bonus reingetan, weil du ‘n Kumpel von Manu bist.«
»Danke. Cool, dass das so kurzfristig geklappt hat.«
Wir schlugen ein, und ich war schon wieder in Richtung Zoo unterwegs, da rief er mir nach: »Ich hoffe, du verkaufst was weiter. Wenn du es testest, nimm höchstens ein Zehntel von dem Päckchen ... wenn du’s noch nie genommen hast, nimm noch weniger.«
Ich hob den Daumen und hoffte, dass ich ihn nie wieder sehen würde.

Im McDonalds hielt ich es bis Mitternacht aus, dann war mir der Geruch von ranzigem Fett und schwitzenden Menschen so zuwider, dass ich raus an die frische Luft musste. Draußen der archetypische Gestank von Pisse, also zog es mich in Richtung Tiergarten und zum Landwehrkanal, vorbei am Kamelgehege, den Rindern und dem Streichelzoo. Weil Spätfrühling war, lümmelten überall Penner, gröhlten und zankten über halbe Zigaretten und andere Lappalien, aber keiner scherte sich um mich. Auf der anderen Seite der Schleuse verflüchtigten sich die Ungerüche von Fauna und Fäkalien allmählich, übrig blieb der satte Frühlingsduft, der mich hergeführt hatte. Meine Nase ist nicht die beste, aber eine Komponente konnte ich unter all den anderen identifizieren, jederzeit und überall: Flieder. Mein Lieblingsaroma und sogar meine Lieblingsfarbe. Ich setzte mich auf die Lehne einer Bank, denn wer wusste schon, was zuletzt auf der Sitzfläche gesessen oder gelegen hatte.

»Ey, haste Pfand für mich?«
Der Penner, der mich aus meinem Fliedertraum riss, trug vier Ikea-Tüten voller Flaschen und schielte mich so glasig an, dass er sie nur selbst geleert haben konnte. Sein Gestank war moderat.
»Garantiert«, meinte ich und öffnete meine Tasche. »Oh ja, einiges! Komm mal her.«
Er stellte die Tüten auf den Kiesweg und torkelte zu mir rüber. Was ich ihm gab, war etwa doppelt so schwer wie eine leere Bierflasche, ich gab es ihm schnell und meines eigenen Körpers bewusst. Ich beugte mich zu ihm hinunter und vergewisserte mich, dass er atmete. Er schnarchte sogar, also wünschte ich ihm gute Nacht und fuhr nach Hause.

Den Sonnabend verbrachte ich in der Laube meiner Eltern, denn das Wetter hielt an, und ich musste dafür sorgen, dass alles an Ort und Stelle war. Die Kleingartenkolonie Sonnenbad lag unweit nördlich vom Haus der Falkners, man hätte hinlaufen können, aber was hätte es mir gebracht? So lag ich nur im Liegestuhl auf der Terrasse, sah den Hummeln bei ihrem emsigen Treiben zu und dachte an Janine. Früher war ich oft zum Kiffen hergekommen, aber seit ich nichts mehr fühlte, kam ich nur noch her, um von Janine zu träumen. Es gefiel mir, den Garten der Natur zu überlassen, und obwohl mich Rasenmäherlärm oder Grillgeruch aus den Nachbargärten oft eines besseren belehrten, mochte ich inmitten meines wilden, farbenprächtigen Gestrüpps manchmal denken, dass wir der letzte Mensch und die letzte Kleingartenlaube auf Erden waren. Weil es sich nicht lohnte, nach Hause zu fahren, blieb ich für die Nacht.

Am Sonntag stand ich früh auf, wusch mich und ging zum Haus der Falkners. Ich fand ein ideales Plätzchen: einen Streusalzcontainer, keine fünfzig Meter vom Eingang entfernt, ließ mich im Schneidersitz darauf nieder und schlug meinen Süskind auf. Nach dem fünften Mal Lesen hatte ich aufgehört mitzuzählen, doch je häufiger ich es verschlang, desto weniger reizten mich die anderen Bücher. Ich las es jeden Tag, auch vormittags unter der Woche, weil ich wegen der Vollwaisenrente nicht arbeiten musste, und war mittlerweile sicher, dass ich mehr über das Buch wusste als Süskind selbst. Von Zeit zu Zeit blickte ich auf und hielt Ausschau nach Passenten, aber ich kam gut voran und war schon halb durch, als ich sie gegen drei Uhr endlich sah. Sie kam vom Steglitzer Damm.

Dass es Janine war, wusste ich erst, als sie im richtigen Haus verschwunden war, und so war mir nicht viel mehr an ihr aufgefallen als ein schwarzes Top, eine dunkelblaue Jeans und ein blonder Pferdeschwanz. Zwei Minuten später wurde der Vorhang in der Küche aufgezogen, aber mein Blickwinkel ließ nicht zu, dass ich die Personen dahinter sah, und näher traute ich mich nicht ran. Was sie wohl denken würden, wenn ich jetzt einfach klingelte? Nein, das war nicht ich. Stattdessen zwang ich mich, mein Buch zu lesen, aber ich hatte die Wörter zu oft aufgesogen, als dass sie nun hängen blieben. Ständig schweiften meine Gedanken ab und durch das Küchenfenster der Familie Falkner, bis ich es schließlich ganz und gar aufgab und das Buch zuklappte. War sie dick geworden? Prollig, dämlich, fies? In der Vorschule wurden alle Kinder in einen Topf geschmissen, die Spreu erst später vom Weizen getrennt, nach der vierten oder sogar sechsten Klasse. Sie konnte nicht fies sein, wenn sie ihre Eltern jeden Sonntag besuchte, denn ich war nicht sicher, ob ich es getan hätte. Obwohl es ein milder Frühlingstag war, begann ich zu zittern. Noch war es nicht zu spät, ich hätte nach Hause fahren können oder zurück in die Laube, aber ich blieb und allmählich kam ich wieder zur Ruhe.

Drei Stunden später kam sie raus und schlug die Richtung zum Steglitzer Damm ein. Ich steckte meinen Süskind ein und eilte ihr nach, aber sie war nicht besonders schnell, und bald ging ich direkt hinter ihr. Ein bisschen dicklich war sie, aber alles noch im Rahmen, und ihr Gang war sehr weiblich. Ich setzte zum Überholen an. Hallo schöne Frau, kann man dich kennenlernen? Bist du häufiger hier? Ich hab einen Kleingarten ganz in der Nähe, lass uns doch hingehen, ich werd dich sehr glücklich machen. Und dann, kurz vor unserem gemeinsamen Höhepunkt, würde ich mich zu erkennen geben, damit sie von unser Bestimmung erfuhr.

Sie trug eine Brille und blickte stur geradeaus, ich musste mehrere Meter neben ihr laufen und sie direkt anstarren, bis sie mir ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie erkannte mich nicht, ihr Blick war geradezu unfreundlich, ich aber legte all mein Leiden in mein Lächeln und fragte: »Hey, bist du nicht Janine? Janine Falkner?«
»Ja?«, fragte sie zurück, ohne stehenzubleiben.
»Ich glaube, wir waren in einer Vorschulklasse.«
Endlich hielt sie an, wir mussten ja eigentlich in die andere Richtung, und suchte mein Gesicht nach charakteristischen Merkmalen ab. Ich konnte regelrecht spüren, wie ihre Gedanken durch die Fragmente der Klassenliste ratterten, die sie behalten hatte. Sie war nur mäßig hübsch, zu meinem Missfallen auch stark geschminkt, die Entzündungen unter den Augen übermalt oder längst verheilt. Gleichzeitig hatte sie einen Hauch von Reife an sich, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Das sechsjährige Mädchen war lange, lange verpuppt und neu geschlüpft.

»Flo? Florian Krug?«
»Bingo.« Mein Lächeln war echt. Hätte sie mich nicht erkannt, wären wir vielleicht doch noch getrennter Wege gegangen.
»Das ist ja der Hammer!«, lachte sie und schlang die Arme um mich. Ich mochte ihr Parfum nicht, es roch billig, synthetisch und vor allem gewöhnlich. Ich hatte es schon tausende Male in der Bahn auszublenden versucht.
»Was machst du hier, Flo? Wohnst du noch in der Gegend?«
»Leider nicht, ich bin zu meiner Tante nach Lichterfelde gezogen. Hab hier einen Kumpel besucht, dich gesehen, mich erinnert, dass du hier mal wohntest, und eins und eins zusammengezählt.«
»Du musst ja echt ein phänomenales Gedächtnis haben. Ich wohn hier übrigens auch nicht mehr, war nur zum Essen bei meinen Eltern. Wohnen deine noch hier?«
»Meine Eltern sind tot.«
»Oh. Das tut mir leid. Du musst nicht drüber reden, wenn du nicht willst, aber wollen wir kurz zu Eis-Hennig? Ich muss eh in die Richtung und würde dich einladen.«
»Klar«, meinte ich.

Ich bestellte Joghurt und Heidelbeere, wie immer meine Lieblingssorte nach unten und obendrauf eine Sorte, die ich selten nahm. Sie wollte dasselbe haben, und wir setzten uns raus. Wir sprachen nicht über meine Eltern sondern über uns selbst, vor allem welche Schulen wir in der Zwischenzeit besucht und was für Fächer wir gemocht hatten, aber immer wenn sie einen Blick auf ihr iPhone warf, spürte ich, dass das nicht das Wahre war und mir die Zeit durch die Finger rann. Ich fragte: »Buffst du?«
»Du meinst Gras? Naja, manchmal.«
»Ich würd jetzt wirklich gerne einen rauchen.«
Sie schaute sich auf dem Gehsteig um und zuckte mit den Schultern.
»Mach doch einfach.«
»Das Problem ist, dass ich mein Zeug in der Gartenlaube meiner Eltern gelagert hab.«
»Tja, Pech gehabt.«
»Die liegt in der Kolonie Sonnenbad, also echt nicht weit von hier. Kommst du mit?«
»Ich weiß nicht, eigentlich bin ich heute noch verabredet. Können wir das nicht ein andern Mal machen? Ich geb dir meine Nummer.«
Schon hielt sie wieder ihr iPhone in der Hand.
»Ich flieg morgen nach Taiwan«, log ich. »Für ein Jahr. Deshalb muss ich auch diesen Joint rauchen, in Taiwan steht darauf locker Todesstrafe. Wir können die S-Bahn bis Priesterweg nehmen.«
»Hmm ... na gut. Was machst du in Taiwan?«
Auf unserem Weg zum Bahnhof Südende log ich ihr das Blaue vom Himmel herunter.

Als ich das Gartentor aufschloss, spürte ich erste Bedenken ihrerseits, aber Janine folgte mir bedingungslos und beließ es bei einem: »Hier müsste mal jemand den Rasen mähen ... und die Hecken schneiden. Du bist nicht oft hier, oder?«
»Absolut richtig«, log ich.
Dass sie meinen Garten nicht mochte, passte zu ihr. Ich schloss die Laube auf, und wir traten ein. Drinnen war sie so sehr damit beschäftigt, die winzige Stube zu inspizieren, dass ihr gar nicht auffiel, wie ich das Vorhängeschloss auf der Innenseite anbrachte. Es war heiß, roch nach Schaumstoff und Pressspan, und über der abgewetzten Couch tanzten Fusseln in einem schmalen Streifen Abendsonne. Ich zog eine Schublade aus dem Kochschränkchen und nahm mein Gras heraus. Janine fragte: »Wollen wir wieder rausgehen?«
»Lieber nicht, ich will nicht, dass die Nachbarn wissen, dass ich kiffe.«

Sie sah mir schweigend zu, während ich in Windeseile einen Joint rollte und ihn ansteckte. Sie nahm ihn zögerlich, zog kaum und wollte ihn auch kein zweites Mal. Es war offensichtlich, dass sie sich nicht mehr wohl fühlte. Ich drückte den Joint in den Ascher und meinte: »Ich geh kurz was holen, okay?«
»Was denn?«
»Wirst du gleich sehen.«
Ich ging in den Flur und tastete mit den Fingern über das Regalbrett über der Garderobe. Das kurze Stück Stahl, das ich bei ihrem Vater gekauft hatte, war noch genau dort, wo ich es gestern deponiert hatte.

»Janine? Erinnerst du dich an ein Spiel, das wir damals gespielt haben?«
Sie schüttelte den Kopf und meinte: »Ich glaube, ich möchte jetzt gehen.«
»Du zeigst mir deins und ich zeig dir meins?«
Janine sprang auf und ging zur Tür. »Ich hab einen Freund, Flo! Viel Spaß in Taiwan!«
Natürlich hatte sie nicht mit dem Vorhängeschloss gerechnet. Ich wog den Stahl in meiner Hand, wie ich es getan hatte, bevor ich dem Penner gute Nacht gewünscht hatte, fand den Schwerpunkt, spürte sein Gewicht und seine Charakteristik.
»Lass mich raus, du Arschloch! Bitte! Flo! Flo?! Nein! NEIN!«

Ich legte sie auf den Fliesentisch vor der Couch. Der Penner hatte nicht geblutet, aber vielleicht hatte er einen härteren Schädel als Janine, denn an ihrer Schläfe bildete sich ein feines Rinnsal und tropfte auf die Fliesen, doch sie atmete. Ich sog ihren Duft ein und verzog das Gesicht. Gewöhnlich, künstlich, billig. Kurzerhand schloss ich die Tür wieder auf, erntete draußen im Garten allen Flieder und breitete ihn überall in der Laube und auf Janine aus. Die Farbe stand ihr, genau wie der Duft, und wie ich sie untenrum entkleidete, fand ich das Mädchen aus meinen Träumen wieder. Natürlich zeigte ich ihr meins, nachdem ich mir ihres genau angeschaut hatte, aber es erfüllte mich nicht, und ich begann zu weinen, während ich es tat, bis ich endgültig abbrechen musste. Was war schiefgelaufen?

Ich nahm Joe-Joes Päckchen aus der Schublade, riss es auf und häufte alles auf einen Esslöffel, den ich über einem Teelicht erwärmte. Die Drahtschlinge lag unangerührt auf der Garderobe. Robert Falkner hatte nicht verdient, dass seine gewöhnliche Tochter auf einem geschmacklosen Fliesentisch verblutete, wenn auch mit der schönsten aller Blüten dekoriert, aber ich konnte ihr ohnehin nicht mehr helfen. Also nahm ich mit der freien Hand mein Handy und drückte vier Tasten.
»Hier spricht die Polizei, wie können wir Ihnen helfen?«
»Ein Mädchen ... sie ist bewusstlos und blutet am Kopf.«
»Wo?«
»Kleingartenkolonie Sonnenbad, Fliederweg Nummer zehn.«
»Und Sie sind?«
»Jean-Baptiste Grenouille.«
Ich legte auf.

Das flüssige Heroin füllte ich in eine Spritze. Kurz bevor ich mir einen Schuss goldener als die untergehende Abendsonne setzte, nahm ich eine Fliederblüte von Janines Bauch und roch an ihr, versuchte ihre Farbe wertzuschätzen. Kleine schwarze Punkte saßen auf dem Stängel: Blattläuse. Sie störten mich nicht, denn das Leben fand seinen eigenen Weg in meinem wilden, farbenprächtigen Garten. Gute Nacht, Janine. Die Polizei kam entweder zu spät oder nie.

 

Moin imperfektionist,

ich spare mir mal jeden Namensgag, der mir gerade einfällt und steige direkt in die Kritik ein. ;)

In meinen Phantasien waren wir sechs Jahre alt geblieben, denn ich hatte sie seit der Vorschule nicht mehr gesehen. Genau genommen war mir nicht mehr als eine einzige Erinnerung an Janine geblieben: Sie hatte mich besucht, vermutlich hatten unsere Eltern es arrangiert. Sofort hatte sie Gefallen an dem großen, violetten Pezziball gefunden, und wir hatten den Nachmittag im sonnengefluteten Erker des Wohnzimmers verbracht, die Eltern weit, weit weg oder sogar außer Haus.
Gleich wenn man sich den ersten Teilabschnitt anschaut, strotzt der Text vor wiederkehrenden Formen wie "hatte" oder Partizipien "ge-sowieso". Das liest sich dahingehend auch echt nicht schön und viele Leser werden wohl gleich die Lust verlieren.

ihre Krankheit, die ihr doch ein gewisses Etwas gegeben hat.
Hier zum Beispiel ist eine Stelle, bei der man solche Formen sehr einfach vermeiden kann: Präteritum hätte es hier auch getan.

Die Suchmaschine hieß anders, aber im Hintergrund rief sie Google über einen Proxy auf, ich wollte weniger Spuren im Netz hinterlassen.
Sätze wie diese kann ich nur unter "unnütze Fakten" abspeichern. Das hilft weder deiner Geschichte noch mir als Leser, ob es nun Google ist oder nicht. Generell googlet dein Prota recht viel.

Beim Gespräch mit dem Steglitzer Eisenwarenhändler mit anschließendem Gang zur Eisdiele habe ich mir überlegt, ob dein Text nicht viel lieber ein Roman sein wollte. Die Länge ist definitiv über ne Short Story drüber und auch die Detailliertheit mMn unwichtiger Situationen ist uncharakteristisch.
Nichts ist verwerflich an einer Kurzprosa, dennoch rutsche ich jetzt schon in so ne "Komm zum Punkt!"-Haltung ab.

Der ständige Wechsel von Situationen, den man übrigens auch super hätte raffen können, um einen besseren Spannungsbogen zu erzeugen, erklärt sich durch den Twist am Ende. Auch die Erwähnung von Süskind und ihrem Parfüm, aber da frage ich mich nun: Wenn er ihren Geruch eben nicht mag, was hat sie dann für einen Wert für ihn? Das macht überhaupt keinen Sinn, weil das Geniale an "das Parfüm" ja war, dass er die Frauen eben nicht kannte und nur ihren Duft anziehend fand.
Zurück zum Spannungsbogen: Obwohl sich die gesamte Handlung ja später auflöst und diese zuvor unnötig erscheinenden Szenen einen Sinn bekommen, muss mir jeder Absatz irgendwas erzählen, irgendwas geben, was mich am Ball bleiben lässt.
Ich hab ein bisschen was übersprungen und auch nur weitergelesen, weil ich beim Zitieren zufällig das Wort "Heroin" unten gelesen hab und mich daraufhin fragte, an welchem Punkt die Geschichte denn so eskaliert.
Dann war ich etwas enttäuscht, weil ich das Motiv nicht verstanden habe. Scheinbar grundlos lockt er seine Jugendliebe ins Verderben, gibt ihr ne tödliche Dosis Heroin und verabschiedet sich dann. Wo ist da die Leidenschaft von Grenouille oder irgendeine Zweckmäßigkeit wenigstens? Das hättest du mir in den Absätzen davor schreiben können. Das interessiert mich, anders als welches Eis er sich bestellt.

Okay, Fazit: Ich möchte deutlich machen, dass ich definitiv Potenzial bei dir sehe, denn auch wenn du teilweise Wortwiederholungen drinnen hast, ist dein Schreibstil eine gute Grundlage für lesenswerte Geschichten. Aber der Fokus der Geschichte ist in meinen Augen ziemlich verfehlt. Du nimmst alles mit rein, was mich an Informationen gar nicht oder nur als kurze Erklärung interessiert und schilderst es in scheinbar epischer Breite. Dafür lässt du das Tatmotiv raus und den Einblick in die Psyche eines Mörders, was die Geschichte stark und auf eine faszinierende Art und Weise brutal gemacht hätte.
So habe ich nichts gefühlt außer meine schnell aufsteigende Ungeduld.

Und nochmal extra dazugesagt: ich wollte so ehrlich und direkt wie möglich sein, um dir die Chance zu geben, daraus zu lernen. Ist nichts Böses und soll dich nicht abschrecken.
Liebe Grüße,

Jana

 
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Hi Jana Retlow,

cool, so schnell hatte ich gar nicht mit einer Antwort gerechnet! Danke erstmal, dass du dir die Zeit gegeben hast.

Dass das Plusquamperfekt am Anfang etwas hölzern wirkt, hab ich mir fast gedacht. Ich wollte damit deutlich machen, dass diese eine Szene eben deutlich vor den anderen passiert ist, andererseits ist das vielleicht unnötig, da er ja auch von seinen Phantasien spricht. Hatte bloß gedacht, dass mir der Leser verzeiht, wenn es sich nach einem Absatz wieder gibt. Das Perfekt bei der Krankheit geht dann natürlich auch nicht.

Proxy würd ich gerne drinnen lassen, weil es eine erste Andeutung darauf ist, dass unser Prot eine gewisse Vorsicht walten lässt. Er will nicht, dass Google seine Daten hat, sieht aber gleichzeitig ein, dass Google ein hervorragendes Tool für Stalker ist. Ähnlich: Dich interessiert nicht, welches Eis er bestellt. Gleichzeitig gibt es Aufschluss darüber, dass er pedantisch ist, was viele Psychopathen gemeinsam haben.

Wir sind bei 3600 Wörtern, das ist "länglich", aber ich werd immer kürzer, und eines Tages werd ich auch eine richtige Kurzgeschichte hinbekommen. Schreib tatsächlich meistens nur an meinen Schubladenromanen, daher vielleicht der langsame Einstieg.

Zu Süskind und dem Perfum: Die Parallele, dass er ihren Duft nicht mag, hast du ja schon gefunden. Er ist eben ein Anti-Anti-Held: Hat keine so feine Nase wie Jean-Baptiste, hält sich dennoch für sensibel. Er schafft es nicht, ihren Geruch wertzuschätzen, und muss ihr stattdessen seinen eigenen Geruch (Flieder) aufzwingen. Ich wollte keinen zweiten Grenouille erschaffen, lediglich einen, der sich von diesem hat inspirieren lassen, jedoch niemals an ihn herankommen würde. Daher auch das totale Versagen am Ende. Dass sich Mörder von Büchern haben inspirieren lassen, hört man ja oft, mir fällt grad der Mörder von John Lennon und der Fänger im Roggen ein.

gibt ihr ne tödliche Dosis Heroin
Moment mal! Er gibt sich selbst den goldenen Schuss. Für sie ruft er die Polizei, damit sie eine Chance bekommt. War das etwa nicht deutlich?

Dass ich wenig Einblick in sein Tatmotiv gebe, stimmt absolut. Hab mir fast gedacht, dass das kritisiert wird. In meinen eigenen Worten wäre es etwa so: Typ mit schwerer Kindheit (Eltern sterben) hält fest an einem Relikt aus der Zeit, wo alles noch in Ordnung war, die sich in Janine manifestiert. Je mehr er sich absondert (verwilderter Kleingarten), desto präsenter wird ihm dieses Bild. Am Ende zerbricht er daran, dass sie ganz anders ist, als er sie sich vorgestellt hatte. Nun hat er damit unterbewusst gerechnet (Heroin für einen Selbstmord besorgt), sich gleichzeitig aber die Option offen gelassen, dass er sie ermorden (Drahtschlinge) und fliehen könnte. Hätte ich sein Motiv noch deutlicher gemacht, wäre es vielleicht unplausibler geworden.

Ich hoffe, ich hab mich jetzt nicht zu sehr rausreden wollen. Wenn sich noch eine zweite Stimme über das PPQ am Anfang beschwert, werde ich es ohne mit der Wimper zu zucken ändern.

Liebe Grüße und nochmal danke für die Zeit
imperfektionist (welchen Namensgag? ach so! :D)

EDIT: Habe den Anfang jetzt doch geändert, hast mich überzeugt.

 
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Hi maria.meerhaba,

auch dir vielen Dank für deine schnelle Rückmeldung!

Ich habe immer wieder versucht, Geschichten von dir zu lesen
Nanaaa, so viele hab ich ja gar nicht gemacht. Eingestellt.

In meinem Hass?
Klingt zu stark, allerdings soll sich das "wenn Kinder zu sowas fähig sind" nicht nur auf das Mitgefühl, sondern auch auf den Hass beziehen. Ich behaupte mal, dass sie es nicht sind, also ist auch der Hass gar nicht echt. Ich hab früher wirklich schlimme Bilder gezeichnet mit Menschen, die ich angeblich "hasste".

Ich weiß nicht einmal genau, was für eine Besessenheit das ist
Dass da eine sexuelle Komponente mitspielt, will ich gar nicht dementieren. Dennoch, nur weil ich als Autor nicht von den ganzen Schwänzen und Muschis schreiben will, heißt das ja nicht, dass er nicht trotzdem dran denkt. Vielleicht müssen wir da noch einen gesunden Mittelweg finden. :shy:

Die Türglocke seh ich absolut ein. Natürlich schert die keinen. Änder ich.

Ist es wirklich notwendig, dass er so einen unlesbaren Dialekt hat?
Ja! Das ist Berlinerisch und soll bezeugen, dass Falkner schon lange im Business ist. Eigentlich ist es ganz einfach, du musst nur die "ick" durch "ich" austauschen und die "j" durch "g". Habe auch überlegt, der Geschichte den Tag Mundart zu geben, jedoch vermutet, damit noch mehr Leser von vornherein abzustoßen. Es ist ja auch nur eine kurze Passage verglichen mit dem Gesamtumfang. Außerdem spricht unser Protagonist astreines Hochdeutsch, weshalb sich die Sprecher gut voneinander unterscheiden lassen und ich auf jegliche "sagte ich" und "fragte Falkner" verzichten kann.

Was hätte sie denn sonst geworden sein können?
Er weiß es und will es nicht wahrhaben. Er ist in gewisser Weise dazu in der Lage, sich selbst zu betrügen, aber sein Glaube ist nicht unerschütterlich.

dass seine Eltern tot sind
Ja, von ihrer Seite aus nicht ganz plausibel. Ich ärger und freu mich zugleich, dass mir Dinge wie dieses schon durch den Kopf gegangen sind, ich jedoch erst eure Kritik brauche, um das auch auf dem Papier richtig zu machen.

Comic wird korrigiert.

Die Spannung ist da ...
Freut mich!

... aber deine Figur bleibt ein namenloser Niemand, der böse zu sein versucht und kläglich daran scheitert ...
Ja! Genau so einen wollte ich machen.

... weil sein Autor ihm nicht den Platz räumt, den er braucht, um sich zu entfalten.
Aber doch nicht so! :D

Außerdem geht alles aalglatt.
Das hab ich hier neulich schon unter einer anderen Geschichte gesehen, und es stimmt. Die einzige Komplikation, die er auf 3600 Wörtern Länge erfährt, ist die, dass er Janine doch nicht so toll findet wie gedacht. Ich fürchte, ich hab Komplikationen unterschlagen, um nicht noch länger zu werden. Hatte von Anfang an diesen roten Faden im Kopf, den in sechs Stunden niedergeschrieben und mir gar keinen Kopf mehr darüber gemacht, was alles schiefgehen könnte. Werd ich hier nicht mehr ändern können, mir auf jeden Fall aber für die nächste Geschichte zu Herzen nehmen. Die wird dann auch mehr Muschis und Trockenrasuren enthalten. Ich weiß eben nicht, wie weit ich hier im Forum gehen kann, und hab mich, nachdem schonmal was von mir wegen Sex und Gewalt nach Sekunden gelöscht wurde, etwas zurückgehalten. Vielleicht äußert sich das in der fehlenden Besessenheit, die du angesprochen hast.

Danke für die Zeit des Lesens und Kommentierens :)
imperfektionist

 

Hej imperfektionist,

also ick als Balina Jöre hab mir jut untahalt'n jefühlt und mich sehr über den korrekten Dialekt gefreut.

Die Erzählung des Protagonisten hat von Anfang an einen melancholisch-seltsamen Ton und ich erwartete kein gutes Ende, schon gar kein happy ending. Du hast kleine Zeichen eingestreut (man mag mir Unkorrektheiten nachsehen, reines subjektives Lesen), wie Informatikstudent, stundenlanges Lesen und Verharren mit dem selben Buch in Dauerschleife, Kontaktarmut, Verwahrlosung (in der Laube), Vollwaisenrente. Das und natürlich die Tatsache, dass er über ein Jahrzehnt nach dem naiven Kinderspiel mordphantasien hatte, die sich mit einer Gewaltphantasie zu Beginn andeuten könnte, waren dann ja nur folgerichtig. Ich habe es auch durchaus so gelesen. Dass der Arme dann seinen Selbstmord mit einplante ... sad story.

Dennoch, und es mag durchaus an meinem persönlichen Empfinden liegen, blieb der ganze Plot schwebend. Oder eben zu offensichtlich. Bin mir da noch nicht ganz einig.
Vielleicht, ganz vielleicht, hätte es mir gut gefallen, wenn er so ganz plötzlich mittendrin, z.B. als Janine nach jahrelangen Phantasien Leibhaftig vor ihm steht, realisisiert, was er für ein freak war und er sie gelangweilt und angewidert ziehen lassen würde. Man weiß es nicht.

Dass er so wenig emphatisch handelt, obwohl er mit Papa Falkner schon etwas in die Richtung empfindet, ist ja durchaus möglich. Hat er am Ende auch etwas mit dem Tod seiner Eltern zu tun. Na, geht mich ja nix an.

Schade ist aber schon, dass mir zu meinem kompletten Genuss irgendetwas gefehlt hat. An deiner erzählerischen Fähigkeit und der Stimmung lag es nicht.

Ein Leseeindruck und freundlicher Gruß, Kanji

 

Hi Kanji,

vielen Dank für dein Feedback! Freut mich total, dass dir die eingestreuten Zeichen nicht entgangen sind, hätte ich selbst nicht besser raussuchen können. (Informatikstudent bleibt allerdings eine Einschätzung Joe-Joes, zu der unser Protagonist nicht explizit Stellung nimmt ... wollte auf das Klischee hinaus, dass man Informatikstudenten schmale Oberärmchen nachsagt. Und natürlich, dass es nicht unbedingt die Muskeln sind, die gemeingefährlich werden.)

Schwebend, offensichtlich ... ich glaube, ich weiß auch, was du damit meinst. Das ganze ist aus einer Laune heraus entstanden, vielleicht hätte ich mir vorher mehr Gedanken machen sollen, was der Leser aus der Geschichte mitnehmen möchte. Hätte ich den Protagonisten selbst mehr gemocht, wäre dein Vorschlag mit dem einsichtigen Freak eine sehr gute Lösung gewesen! Irgendwie wollte ich ihn dann aber loswerden und alles den Bach runtergehen lassen.

Die Todesursache der Eltern wollte ich bewusst offenlassen. Die plötzliche Empathie gegenüber Papa Falkner könnte man auch auf den Verlust der eigenen Eltern zurückführen. Dass dieser Verlust so oder so eine führende Rolle in Flos Fehlentwicklung spielt, scheint ja rübergekommen zu sein, mehr wollte ich auch gar nicht in die Wissenschaft der Psychologie eintauchen. Später vielleicht. :)

Schön, das mit der erzählerischen Fähigkeit und der Stimmung fass ich jetzt mal als Kompliment auf. Ist mir ja viel wichtiger als die einzelne Geschichte. Auch toll, dass du als Balina Jöre am Dialekt nichts auszusetzen hast. Ich hoffe, du konntest dir gute Bilder von den Orten machen, außer dem Eisenwarenladen war ja alles echt.

Liebe Grüße
imperfektionist

 

Hallo imperfektionist,
ich fand deine Geschichte spannend und wollte auch unbedingt wissen, wie sie endet. Eine Straffung des Textes, das Weglassen von Nebensächlichkeiten hätte aber, meiner Meinung nach, die Spannung noch erhöht.
Ich konnte allerdings die Hauptfigur nicht so richtig greifen oder vor mir sehen. Das Beschreiben von Eigenheiten oder Marotten ist ja immer eine ganz gute Methode, einer Figur Profil zu geben. Du machst das z.B. an der Stelle, wo du sagst, dass Flo sein Lieblingseis immer unten im Becher haben möchte. Von solchen Besonderheiten hätte ich gern mehr gelesen.
Im ersten Absatz schreibst du von dem Hass der Hauptfigur. Ich habe nicht verstanden, wo der her kommt.
Mit Dialekt in Texten habe ich oft Schwierigkeiten, dein Dialog im Eisenwarenladen hat mir allerdings ganz gut gefallen.
Aber eine Sache noch, du schreibst, dass der Flieder der satte Sommerduft sei. Mit dem Fliederduft assoziiere ich Frühling, satten Frühling im Mai, Flieder in Berlin oft schon eher, aber eben nicht Sommer.
Das war mein Stimmungsbild.
Schöne Grüße aus dem heute schon etwas herbstlichen Berlin
Federmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Federmaus,

danke auch für deinen Leseeindruck!

Ich glaube, ich weiß jetzt, wie ihr eure Geschichten immer so kurz bekommt: Straffen. Hatte gehofft, dass man mir die Abschweifungen gerade noch so durchgehen lassen würde, aber klar, straffen kann man immer. Gerade bei Kurzgeschichten, mit denen ich auch nach zwei Jahren hier im Forum noch auf Kriegsfuß stehe.

Den Hass hatte ich schon in meiner Antwort an maria.meerhaba erklären wollen. Das Wort ist überzogen, was sogar unser Protagonist und Erzähler irgendwie merkt.

Ich habe auch Schwierigkeiten mit anderen Dialekten und hatte gehofft, dass die Berliner hier in der Überzahl sind. Bis jetzt sind sie das tatsächlich! Aber ich nehm mal trotzdem den Tag Mundart wieder rein.

Das mit dem Sommerduft ist ein verdammt wichtiger Einwand! Oh Gott, wie mach ich das denn jetzt? Ich weiß gar nicht, ob die Penner im Frühling da auch schon rumhängen ... ich schau mal eben, wie sich die Geschichte in den Spätfrühling verlegen lässt.

Viele Grüße zurück aus dem (gottseidank langsam etwas) herbstlichen Berlin
imperfektionist

EDIT: Sommer jetzt überall durch Spätfrühling ersetzt. Ich hoffe, ich hab nichts übersehen. Danke nochmal.

 

imperfektionist

ick sach' nur Eis-Hennig ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

imperfektionist schrieb:
Ich habe auch Schwierigkeiten mit anderen Dialekten und hatte gehofft, dass die Berliner hier in der Überzahl sind. Bis jetzt sind sie das tatsächlich! Aber ich nehm mal trotzdem den Tag Mundart wieder rein.

Das mit der Kategorisierung des Textes als „Mundart“ würde ich mir an deiner Stelle noch mal gut überlegen, imperfektionist. Nicht nur, weil diese Rubrik von den meisten Lesern mit sträflicher Verachtung gestraft wird (sofern sie nicht eine Geschichte entdecken, in der sie ihren eigenen Dialekt erkennen), sondern weil in deiner Geschichte gerademal … keine Ahnung … 0,2%? 0,3%? aller Wörter im Berliner Idiom geschrieben sind. Und wäre ich ein Leser, der gezielt nach Mundarttexten sucht (ja, die soll’s auch geben), käme ich mir angesichts dieses Missverhältnisses zwischen Hochsprache und Mundart gelinde gesagt etwas verarscht vor.
Und dass die Berliner ick statt ich und jenau statt genau sagen, gehört meiner Einschätzung nach sowieso zum allgemeinen Bildungskanon im deutschsprachigen Sprachraum. Insofern kann ich mir nicht vorstellen, dass die paar wenigen Dialogzeilen von irgendjemand nicht verstanden werden. Das hab sogar ich (als Wiener! :Pfeif:) geschafft.


Ach ja, und es gibt jede Menge Fliederarten, die Sommerblüher sind. :D
(Und nein, ich bin kein Gärtner.)


offshore

 

Hi ernst offshore,

genau diesen Kommentar hab ich gebraucht, damit die Bedeutung besagter Kategorisierung für mich endlich Sinn ergibt. Hab ihn wieder rausgenommen (schon zum zweiten Mal heute... :D). Dass Leute den Tag benutzen, um gezielt nach Mundarten zu suchen, war mir nicht klar. Ich dachte, das wäre eher ein Warnschild nach dem Motto: »Achtung, dieser Text kann Spuren von Mundart enthalten.«
Ich denke auch, dass es schlimmere Dialekte als Balina Schnauze gibt. Hab übrigens bewusst die »-er« nicht zu »-a« gemacht und auf Berliner Vokabular verzichtet (was nicht heißen soll, dass ich's nicht könnte).

es gibt jede Menge Fliederarten, die Sommerblütler sind
Ich merk schon, das nächste Mal, wenn ich mich mit Botanik befasse, sollte ich mehr recherchieren, vielleicht ab und zu auch mal rausgehen. Fühle mich allerdings jetzt wohler im Frühlings-Setting und werd dabei bleiben.

Danke für die Erkenntnisse
imperfektionist

 

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