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Flickerl - Gefahr gebannt (2)
„Warum mögen mich die anderen Tiere auf dem Bauernhof nicht, Mama? Nur weil ich etwas anders aussehe?“, fragte das Kälbchen Flickerl und drehte seinen Kopf so, dass es sein mit winzigen braunen, schwarzen und weißen Punkten gesprenkeltes Fell sehen konnte. Für ein Kalb ein etwas ungewöhnliches Muster.
„Ich weiß es nicht, meine Kleine“, antwortete seine Mutter. „Aber du musst nicht traurig, sondern eher stolz darauf sein, dass du etwas Besonderes bist. Und in Kater Schnurr hast du doch bereits einen Freund gefunden.“
„Das schon, aber die anderen machen stets einen Bogen um mich, wenn ich auf dem Hof herumlaufe“, jammerte Flickerl und Tränen traten in ihre wunderschönen dunklen Augen.
„Ach, das meinst du nur“, versuchte Emma ihr Töchterchen zu beruhigen. „Warte nur ab, sie werden schon merken, was du für ein nettes Mädchen bist.“
Den Worten ihrer Mutter schenkte Flickerl jedoch keinen Glauben, aber sie bohrte nicht weiter und lief hinüber zu ihrem Lieblingsplatz am See.
Schnurr sah dem Kälbchen sehnsüchtig nach.
„Hast du dich etwa von Flickerl bezirzen lassen?“, ertönte neben dem Kater ein lautes Meckern. Ziege Trude war mit ihrem kleinen Sohn Dragon neben ihn getreten.
Bevor Schnurr antworten konnte, landete der Hahn Krikri neben der kleinen Gruppe. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Zu uns passt eigentlich kein so verrückt geflecktes Kälbchen. Trudes Fell ist schneeweiß, ohne jegliche Flecken, und das von Schnurr ist makellos schwarz. Von meiner schillernden Federpracht will ich gar nicht reden.“
„Aber unser Kater Schnurr scheint da wenig Wert darauf zu legen“, stichelte die Ziege erneut und trippelte dann stolz zusammen mit ihrem Sohn zur Weide hinüber, wo sie hinter den Büschen verschwand.
Krikri und Schnurr blieben zurück.
„Meinst du das wirklich ernst, was du gerade gesagt hast?“, fragte der Kater zaghaft den Hahn.
„Ich will keinen Ärger mit Trude. Sie ist halt eine Ziege. Die sind zickig und Trude ganz besonders. Sie mag es nun mal perfekt und ist so stolz auf ihr gepflegtes Fell, ihre schlanke Figur und natürlich vor allem auf Dragon, der ihr ganzes Abbild ist.“
„Kann sie ja auch sein“, räumte Schnurr ein. „Aber trotzdem braucht sie sich nicht so aufzuführen.“
„Du hast ja recht, Schnurr. Manchmal übertreibt sie es mit dem Kokettieren. Aber nun entschuldige mich bitte, ich muss zu meinen Damen, die bestimmt schon ungeduldig auf mich warten. Lass uns ein andermal weiterreden“, sprach Krikri, flog auf und landete wenige Meter entfernt mitten unter seinen Hennen, die ihn gackernd empfingen.
Schnurr schüttelte den Kopf und jagte aus lauter Frust in der Scheune ein paar Mäusen hinterher.
Mutter und Sohn Ziege waren inzwischen am See angekommen. Sofort stellte sich Trude mit gespreizten Beinen ans Ufer und betrachtete ihr Spiegelbild auf dem Wasser.
„Bin ich nicht schön?“, fragte sie laut, drehte sich hin und her und besah sich von allen Seiten. Dabei vergaß sie alles um sich herum und träumte von einer großen Karriere. Sie sah sich in ihrem schneeweißen Fell mit stolz erhobenen Kopf vor großem Publikum auf und ab laufen. Die Menge jubelte ihr zu und Trude bedankte sich mit einem leichten Kopfnicken, bevor sie den ersten Preis des Schönheitswettbewerbes der Tiere entgegennahm.
Dragon hatte sich, während seine Mutter träumend am See stand, gelangweilt einige Meter von ihr entfernt ins hohe Gras gelegt und war eingeschlafen. Dabei hatte das Zicklein nicht bemerkt, dass es beobachtet wurde. Fuchs Reinecke näherte sich auf leisen Pfoten.
„Na, das gibt heute einen leckeren Braten zum Mittagessen.“ Reinecke schmunzelte und leckte sich mit der Zunge übers Maul. Geräuschlos schlich er sich an Dragon heran, der dösend in der warmen Sonne lag und nichts von der herannahenden Gefahr ahnte.
Flickerl, die auf ihrem Lieblingsplatz unter einer alten Weide am See lag, entdeckte den Fuchs sofort am gegenüberliegenden Ufer. „Was will Reinecke denn hier? Trude ist doch viel zu groß, um Beute für ihn zu sein“, dachte das Kälbchen. Aus einer Ahnung heraus, erhob es sich aber und starrte zu dem hohen Gras hinüber, das sich an einigen Stellen bewegte.
Flickerl reckte ihren Hals und stellte sich auf die Hufspitzen. Da erspähte sie das kleine Zicklein friedlich in der Sonne schlummernd. „Der kleine Dragon ist ganz allein. Wo ist Trude?“
Das Kälbchen sah sich um. Trude stand immer noch träumend am Ufer und hatte ihren kleinen Sohn völlig vergessen.
„Trude, Trude!“, rief Flickerl aufgeregt. Doch die Ziege rührte sich nicht. „Trude, Dragon ist in Gefahr!“ Wieder zeigte die Mutterziege keine Reaktion.
„Ich muss dem Zicklein helfen. Wenn es der Fuchs angreift, dann ist es verloren“, dachte Flickerl und lief auf ihren staksigen Beinen durch das dichte Gebüsch entlang dem See. Keinen Moment ließ sie dabei den Fuchs aus den Augen. Näher und näher schlich er an das Ziegenjunge heran. Noch hatte er das Kälbchen nicht bemerkt, zu sehr war er darauf bedacht, seine Beute nicht zu erschrecken. Nur noch wenige Meter und er hatte Dragon erreicht. Flickerl bemühte sich schneller zu werden, wäre beinahe über einen querliegenden Ast gestolpert, konnte sich aber noch fangen und lief weiter. Fast hatte sie das Zicklein erreicht, als Reinecke zum Sprung ansetzte.
„Verschwinde, Reinecke!“, rief Flickerl laut. „Lass Dragon in Ruhe!“
Vor lauter Schreck verfehlte Reinecke seine Beute, fauchte und warf Flickerl einen wütenden Blick zu. „Das wirst du noch bereuen!“, zischte er und verschwand im hohen Gras.
Durch das laute Rufen war Dragon wach geworden und sah gerade noch, wie der Fuchs mit hängendem buschigen Schwanz davonlief.
„Du hast mir wohl gerade das Leben gerettet“, bedankte sich Dragon.
Außer Atem trabte Trude heran. „Was geht hier vor?“, meckerte sie und sah erstaunt, wie sich ihr Sohn zitternd an den fleckigen Körper des Kälbchens drückte.
„Vielleicht hättest du besser auf deinen Nachwuchs aufpassen sollen“, wagte Flickerl die Ziege zu kritisieren.
„Du willst mir sagen, was ich zu tun habe?“
„Mama, beruhige dich. Flickerl hat mich vor Reinecke gerettet. Er wollte mich fressen.“
„Ach, Papperlapapp. Ich wäre schon noch rechtzeitig gekommen. Und du“, Trude wandte sich an das Kälbchen, „du wage es nie wieder mich zu kritisieren, sonst wirst du mich kennenlernen!“ Dann trippelte die Ziege hoch erhobenen Hauptes davon.
Dragon zögerte noch. „Tut mir leid, Flickerl. Ich weiß nicht, was in Mama gefahren ist. Vielen Dank für deine Rettung“, flüsterte er, so dass es seine Mutter nicht hören konnte. Diese rief ihm ungeduldig über die Schulter hinweg zu: „Jetzt komm endlich, mein Kleiner.“
Das kleine Zicklein warf Flickerl noch einen entschuldigenden Blick zu und sprang dann Trude hinterher.
„So eine Gemeinheit“, krächzte Saatkrähe Blanko. Sie hatte das ganze von ihrem Aussichtsplatz auf dem Weidenbaum verfolgt. „Dumm gelaufen, liebes Kälbchen. Aber diese hochnäsige Ziege wird schon noch über ihre eigenen Hufe stolpern. Warte es nur ab.“ Dann flog der schwarze Vogel mit einem lauten Gekreisch über den See.
Flickerl sah ihm nach und machte sich dann auf den Weg zurück zum Hof. Sie hatte keine Lust mehr, die warmen Sonnenstrahlen zu genießen, sondern wollte sich nur noch im dunklen Stall verkriechen. Statt mit ihrem mutigen Eingreifen neue Freunde gefunden zu haben, hatte sie sich Fuchs Reinecke und auch Trude zu Feinden gemacht. Wie sollte das Kälbchen nur sein weiteres Dasein auf dem Hof meistern? Allein mit ihrem Freund Kater Schnurr würde das wohl sehr schwer werden. Aber man sollte die Hoffnung nie aufgeben. Vielleicht würde doch irgendwann alles gut werden.