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Flickerl - Außergewöhnlicher Zuwachs (1)
„Emma hat ihr Kälbchen bekommen!“, krähte Hahn Krikri laut von seinem erhöhten Platz auf dem Mist herunter. „Aber irgendetwas stimmt da nicht“, fügte er leiser hinzu.
„Wie meinst du das?“, fragte Kater Schnurr, der, durch den Lärm neugierig geworden, aus der Scheune herausgeflitzt kam.
„Na ja, der Bauer hat so seltsam dreingeschaut, als er eben aus dem Stall gekommen ist“, klärte Krikri seinen Freund auf und flog zu ihm auf den Boden hinunter.
„Schauen wir doch einfach nach“, schlug Ziege Trude vor, die das Grasen auf der Wiese eingestellt hatte und zu den beiden herübertrippelte. Eifrig mümmelte sie noch an einem harten Grashalm herum, der ihr zum Teil aus dem Maul heraushing.
„Lass mich das machen“, erbot sich Schnurr. „Ich kann mich auf leisen Pfoten anschleichen und nachschauen, wie es Mutter und Kind geht.“ Mit schnellen Sprüngen lief er sogleich über den Hof und drückte vorsichtig mit der Schnauze die angelehnte Tür auf. Ein leises Quietschen ließ Emma herumfahren. „Was willst du hier, Kater Schnurr?“
„Ich möchte nur schauen, ob es dir und deinem Kälbchen gut geht.“ Schnurr schlich langsam näher.
„Es geht uns gut“, antwortete die Kuh ungehalten und drehte sich so, dass Schnurr die Sicht auf das Neugeborene versperrt wurde. „Und jetzt gönne uns etwas Ruhe und verschwinde.“ Ungeduldig schlug Emmas Schwanz hin und her.
Kater Schnurr wollten keinen Ärger und zog enttäuscht von dannen.
„Und, was hast du gesehen?“, empfingen ihn seine Freunde.
„Nix“, antwortete er. „Emma hat sich schützend vor ihr Kleines gestellt und ich konnte kein Fitzelchen von dem Kälbchen sehen.“
„Das ist komisch“, meinte Trude. „Sonst werden die Kleinen immer stolz herumgezeigt und die Mütter freuen sich über jedes Lob, das die Kinder bekommt.“
„Ich sag ja, da stimmt etwas nicht“, krähte der Hahn wissend. „Ob das Kälbchen vielleicht keine Beine hat oder ihm zwei Köpfe gewachsen sind?“ Krikri sah in die Runde und schüttelte schaudernd sein schimmerndes Gefieder.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, meckerte die schneeweiße Ziege Trude.
„Irgendwann muss Emma uns ja ihr Kind zeigen. Immer können die beiden nicht im Stall bleiben. Warten wir halt noch ein Weilchen“, entschied Krikri und flog hinüber zu seinen Hennen, die eifrig pickend umherrannten.
Auch der Kater trollte sich wieder. Nur Trude wagte noch einmal einen Versuch und trippelte in Richtung Stall. Als sie das Tor mit der Schnauze aufstieß, quietschte dieses laut. Sofort stellte sich Kuh Emma schützend vor das Kleine. Leise vor sich hin meckernd gab die Ziege auf und ging ebenfalls ihres Weges.
Und es dauerte nicht lange, als der Bauer Mutter Emma und ihren Nachwuchs aus dem Stall auf die saftige Wiese führte.
Schnurr, Trude und Krikri staunten nicht schlecht, als das Kälbchen mit seinen langen Beinen auf den Hof stakste. Munter besah sich das Kleine die Welt. Besonders freute es sich über das Begrüßungskomitee, und wollte gerade auf die drei zulaufen, als es deren erstaunten Gesichter sah und zögerte.
Nachdem sich die drei Zuschauer von ihrem Schock erholt hatten, begann der Hahn laut zu krähen und konnte gar nicht mehr aufhören. Auch die Ziege fiel mit einem lauten Meckern ein. Nur der Kater drehte seinen Kopf einmal nach links und dann wieder nach rechts, so, als könnte er nicht recht abschätzen, ob ihm gefiel, was er zu sehen bekam.
Das Kälbchen war ganz aufgeregt, als es endlich die Freiheit der Wiese spürte und machte vor lauter Freude riesige Bocksprünge.
„Wenigstens benimmt es sich wie ein Kalb“, meckerte Trude und verschwand hinter der Hausecke, als sie wegen des Lärms vom Bauern mit einem bösen Blick bedacht wurde. Auch Krikri flog hinüber zu seinem Hühnervolk, um ihm die Neuigkeit zu überbringen. Nur Kater Schnurr schlich sich auf leisen Sohlen auf die Wiese. Er wollte dieses seltsame Wesen noch eine Zeitlang beobachten.
Emma führte ihre Tochter auf der Weide zu den saftigsten Pflanzen. Zaghaft rupfte die Kleine die Blättchen ab, kaute aber lustlos auf ihnen herum.
„Was hast du denn, meine Kleine?“, fragte die Mutter erstaunt. „Schmecken dir die herrlichen Kräuter nicht?“
„Das ist es nicht, Mami“, antwortete das Kälbchen und schaute traurig drein. „Warum haben die anderen Tiere auf dem Hof denn so gelacht?“
Die Mutter schaut erschrocken auf. „Na ja“, druckste sie ein bisschen herum. „Du … du schaust halt anders aus, als Kälbchen eigentlich aussehen müssten.“
„Warum? Ich habe vier Beine, nur einen Kopf. Ohren, die alles hören, ein Maul, mit dem ich fressen kann. Auch ein Schwanz fehlt mir nicht. Was ist es dann? Was hat sie so sehr zum Lachen gebracht?“
„Dein Fell, meine Kleine. Genauer gesagt, die Flecken auf deinem Fell, die normalerweise nur großflächig in den Farben schwarz-weiß oder braun-weiß vorhanden sein dürfen. Du aber hast von jeder Farbe etwas. Deine Flecken sind winzig klein und von schwarzer, weißer und brauner Farbe. Und das haben die anderen Tiere wohl so lustig gefunden.“
„Aber nur wegen meines ungewöhnlichen Aussehens können sie mich doch nicht einfach auslachen.“ Tränen standen der Kleinen in den Augen. Langsam trottete das Kälbchen über die Wiese hinüber zu einem kleinen See. Durstig beugte es sich über die glatte Wasseroberfläche. Da blickte ihm ein Tier entgegen, dessen Fell mit vielen Fleckchen übersät war. Erschrocken zuckte das Kälbchen zurück. Dann reckte es noch einmal seinen Hals übers Wasser.
„Ob sie mein Äußeres nur lustig fanden und deshalb gelacht haben? So, wie ich aussehe, könnte ich glatt als ein Flickenteppich auf vier Beinen gelten.“ Die Kleine schmunzelte verstohlen.
Plötzlich raschelte es neben dem Kälbchen im hohen Gras. Es drehte den Kopf und sah Kater Schnurr am Ufer auftauchen.
„Es tut mir leid, dass vorhin alle über dich gelacht haben“, entschuldigte sich Schnurr. Dann verzog der Kater grinsend sein Gesicht. „Aber selbst du hast eben über dein Spiegelbild gelächelt.“
„Ja, das stimmt. Aber es ist ein Unterschied, ob ich selbst über mich lache, oder ob ich von anderen ausgelacht werde.“
„Das stimmt, da muss ich dir recht geben, Flickerl.“
Erstaunt hob das Kälbchen den Kopf. „Wie hast du mich eben genannt?“
„Wie? Ach so, ja, Flickerl. Weil dein Fell aussieht, wie ein Flickerlteppich auf vier Beinen.“
„Genau das gleiche habe ich vorhin bei meinem Anblick auch gedacht. Komm, laufen wir zu meiner Mami hinüber und erzählen ihr, dass du mir gerade einen Namen gegeben hast. Sie wird sich schon Sorgen machen, wo ich so lange bleibe.“
Schnurrend blickte der Kater zu dem Kälbchen hoch. „Dann sind wir jetzt Freunde?“ Als Flickerl glücklich nickte, ging er mit stolz erhobenen Schwanz neben seiner neuen Freundin auf den Hof zurück.