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Fleisch
Die meisten Menschen erinnern sich gerne an die eigene Kindheit zurück.
An die Kinderjahre zurückzudenken, ist wie ein lang verschollenes Poesiealbum wieder in den Händen zu halten und darin voller Wehmut zu blättern.
Man taucht ein in Worte und Bilder voller Zauber, geprägt von Leichtigkeit und Geborgenheit und die frei sind von jeder Art Sorge oder Kummer des Lebens.
Aber Erinnerungen sind bloß Gedankenfetzen eines Ganzen und der Mensch hebt gerne immer wieder nur das Schöne und Erwähnenswerte hervor:
Den sonnigen Tag, den man damit verbrachte, sich die Baumkrone eines Kirschbaumes mit den besten Freunden zu teilen und mit denen man Kirschkerne um die Wette spuckte, wobei man durch die Blätter in die Sonne blinzelte, die wie tausende helle Tagessterne durchs Geäst leuchtete.
Den Tag, an dem der Vater ein einfaches Stück Seil, das er über den Ast eines Baumes schwang, mit Hilfe einer Decke in eine Schaukel verwandelte, mit der man sich dann in unermessliche Höhen schwang.
Oder die Erinnerung an den ersten aus Plastiktüten gebastelten Drachen, der scheinbar Leben annahm und der, von einer unsichtbaren Macht gezogen, höher und höher stieg und man fast erwartete, dass die Wolken ein Maul bilden könnten, um ihn zu verschlingen.
Wahrscheinlich sind viele dieser Dinge in den Gedächtnissen der Menschen irgendwo ähnlich verankert, doch spielt die Geschichte, die hier berichtet werden soll zu einer Zeit, in der eine hell strahlende Sonne zu einem fast vergessenen Relikt verdunkelt war, das in den Geschichtsbüchern der neuen Zeit begonnen hatte, Staub anzusetzen. Der gleiche Staub, der das Lachen der Kinder erstickt hatte, und das nur noch selten durch die Wände der Nachbarn drang.
Franklin Stews Lachen war auch davon betroffen.
Dabei war Franklins Lachen ein herzliches und ansteckendes, er selber jedoch erschrak dabei, war doch dieses Lachen, das zu seinen Ohren durchdrang, nur selten von ihm zu hören.
Auch die Tage, an denen dieses Lachen erklang, waren selten geworden.
Die Wahrheit ist, dass wenn Franklin an seine Kindheit zurückdachte, unweigerlich jener eine Tag wachgerufen wurde, den er nie mehr vergessen würde.
Dieser eine Tag, der sich wie mit einem feurigem Eisen tief in seine Psyche eingebrannt und ihn für den Rest seines Lebens gezeichnet hatte.
Franklins Erinnerung an jenen besagten Tag war auf alle seine Sinne übergegangen und hatte einen unauslöschlichen Platz in seinem Bewusstsein eingenommen, so dass sie ihm des Nachts in so manchem Traum immer wieder aufsuchte und er aus diesen Träumen schreiend und schweißgebadet erwachte.
All diese Träume ließen es nicht zu, dass der junge Franklin Stew irgendein Detail jenes besagten Tages jemals vergessen würde.
Noch viele Jahre später spürte er den beißenden Geruch der feinen Russpartikelchen in der Nase, die stetig wie ein dünner Nebel das Zimmer erfüllten und die Luft tränkten, wodurch im Raum immer ein gewisses Zwielicht herrschte.
Er erinnerte sich an das nicht enden wollende Gezeter seiner Mutter, welches nur durch ihr Weinen unterbrochen werden konnte. Dieses Gezeter war mehr als ein bloßes Aufsagen und ständiges Wiederholen ihres tragischen Schicksals.
Nein, hierbei handelte es sich um ein Singsang, der einem bestimmten Melodiebogen gleich einer Tonleiter folgte und in einem Crescendo zu einem bis ins Mark gehendem Klagelied anschwoll.
An besonders depressiven Tagen kombinierte Susan Stew dies alles damit, dass sie sich die Haare raufte, was dazu führte, dass sie am Hinterkopf schon einige kahle Stellen aufwies und sie nur noch mit einer Kopfbedeckung das Haus verließ.
Aber vor allem erinnerte sich Franklin an die Kälte und an den Hunger in dieser Zeit. Beides ließ Mutter und Sohn auf ihren alten Sessel zusammenkauern, sich eng aneinander klammernd, in dem Versuch wenigstens eines der beiden Drangsale zu verscheuchen.
Dies alles spielte sich in den Jahren nach dem zweiten Urknall ab. So nannte man den großen Börsencrash im Jahre 2072, der die Wirtschaft in sich zusammenfallen ließ wie ein schlecht gebautes Kartenhaus. Die Rezession hatte einer unheilbaren Seuche gleich über den gesamten Globus um sich gegriffen und in Folge eine Nation nach der anderen infiziert.
Gleichzeitig lähmte die Angst vor dem vierten Krieg der Kontinente die Bemühungen, die Folgen des vorangegangenen dritten Krieges wirkungsvoll zu beseitigen.
Die chinesische Weltmacht rüstete weiter auf und war ein neues Bündnis mit den slawischen Völkern eingegangen. Diese Bündnisnation dehnte sich wie ein vollgelaufener See, der nun über die Ufer trat, weit über die Grenzen hinaus, die von der Weltgemeinschaft neu festgelegt worden waren.
Angeführt durch die anglo - amerikanische Allianz wurden Gegenbündnisse und Handelsverträge geschlossen, wodurch sich die außenpolitische Lage weiter anspannte, während gleichzeitig die Währungen plötzlich das Papier nicht mehr Wert waren, auf dem sie gedruckt wurden.
Den Regierenden der Welt ging das Geld aus, Konten wurden eingefroren, der Handel kam praktisch zum Erliegen, und die Menschen wussten weder ein noch aus und waren ohnmächtig vor Furcht und Erwartung der Dinge, die ihnen noch bevorstanden, waren doch die meisten den politischen Machtspielen hilflos ausgeliefert.
Demonstrationen wurden zu unerlaubten Versammlungen erklärt und wurden nötigenfalls mit aller Härte und mit militärischer Gewalt niedergeschlagen, da man sie als öffentlichen Aufruhr bezeichnete, der mit Gefängnis bestraft oder gar Verbannung in die noch ärmeren ländlichen Provinzen mit sich zog, was aber nicht zwangsläufig bedeuten sollte, dass die Stadt unbedingt größere Vorteile mit sich brachte.
Die Regale der wenigen staatlichen Supermärkte waren wie leergefegt. Alles was dem Leben eine gewisse Normalität gab, war aus dem Alltag verschwunden und wurde vergebens gesucht.
Benzin und Heizöl erreichten unvorstellbare Preisdimensionen und die Menschen waren gezwungen, wieder herkömmlich zu heizen, was in der Praxis hieß, alles zu verfeuern, was nicht gerade lebensnotwendig war.
An die Smogwolke, die wie eine gigantische Käseglocke über den Städten hing und den Himmel verdunkelte, hatte man sich schon längst gewohnt.
Von Politik verstand Franklin nicht viel. Ihm war es gleich, wer die Weltbühne dominierte. Sein Denkvermögen reichte gerade dafür aus, um sich auf das tägliche Überleben in der Metropole zu konzentrieren. Aber eines verstand er: Dass dieses durch den Hunger verursachte Loch in seinem Magen ihm und allen, die er kannte, sehr zu schaffen machte und sich stärker erwies als jeder menschliche Feind.
Das Erste, was Franklin auffiel, als Alan Stew wieder mal ergebnislos von seiner Arbeits- und Nahrungssuche heimkehrte, war der enttäuschte und resignierende Blick seiner Mutter gewesen, die in Sekundenbruchteilen das Gesicht ihres Mannes gelesen hatte.
Wieder nichts las sie darin, und Alan bestätigte ihre Ahnung mit einem kurzen Schulterzucken, bevor er mit nach unten verzogenen Mundwinkeln zu dem Haken an der Wand schlurfte, an den er seinen löchrigen Mantel hing.
Diese Szene war zu einem Ritual geworden, das sich wie ein Deja-Vue vor Franklins Augen Tag für Tag abspielte.
Als nächstes zog Alan immer den letzten verbliebenen Stuhl, der noch nicht dem Feuer zum Opfer gefallen war, zu sich ran und ließ sich mit einem knarrenden Geräusch auf ihn nieder. Franklin beobachtete seinen Vater und fragte sich jedes Mal, ob dieses Geräusch nun vom Stuhl oder von seines Vaters porösen Knochen herrührte.
Franklins Blick durchforschte dabei Alans Gesicht. Er versuchte dahinter zu kommen, was für ein Mensch sein Vater war. Zu erfassen, was im Kopf seines Vaters umherging. Doch alle Versuche, hinter diese steinerne Fassade zu blicken, schlugen fehl.
An solchen Tagen empfand Franklin nur bloße Verachtung beim Anblick seines Vaters. Er verachtete ihn wegen der scheinbaren Unfähigkeit für die Seinigen angemessen zu sorgen. Er versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken, sagte sich, dass ein Sohn gegenüber seinen Vater nicht so fühlen dürfe, doch diese Empfindung überlagerte alles andere und drängte sich immer wieder in den Vordergrund.
An solchen Tagen verachtete Franklin auch sich selbst wegen dieser Gefühle, die in ihm aufkamen, meinte er doch in seinem Innersten zu wissen, dass der wahre Grund nicht in Alan Stews Unfähigkeit oder Unwillen zu suchen war. Zumindest war es das, was er gerne über seinen Vater glauben wollte.
Aber für einen Jungen von zwölf Jahren waren Gefühle nun mal schwer zu kontrollieren und zu beherrschen sowieso nicht, was alles nicht gerade leichter machte.
Alan Stew streckte die Beine von sich und versackte auf dem Stuhl, der Blick verlor sich im Nirgendwo, während er mit einer Hand über sein unrasiertes Gesicht fuhr.
„Ich geh morgen zur Tauschbörse“, sagte er mit einer tonlosen Stimme ins Leere. „Vielleicht tut sich ja dort was.“
Niemand antwortete ihm.
Franklin verließ die wärmende Seite seiner Mutter und ging zu dem runden offenen Wäschekorb aus Edelstahl, der in der Mitte des Zimmers stand und ihnen als Feuerofen diente. Jetzt wo der Vater daheim war, konnte er endlich die letzten aus einem Lattenrost gewonnenen Bretter einwerfen, um sie zu verbrennen und sich an dem Feuer zu wärmen.
Franklin war so auf das Feuermachen konzentriert, dass er jäh zusammenzuckte, als seine Mutter plötzlich das Wort ergriff und die Stille brach.
„Aber wir haben keinen einzigen Credito mehr“, warf Susan Stew nach einer endlosen Abwesenheit ein, aus der sie wie aus einem Trancezustand oder wie aus einem fernen Ort unerwartet zurückgekehrt war.
„Was willst Du dort erreichen ohne Creditos?“
Es gab mal eine Zeit, in der Alan und Susan es vermieden, Probleme vor ihrem Jungen zu besprechen. Aber was brachte es, Franklin vor einer Realität zu bewahren, die sich nun mal nicht leugnen ließ und die durch jede Ritze ins Haus kroch, um ihren Geruch zu verbreiten?
Die Tauschbörse war kein fremder Begriff für ihn. Dieser von der Bevölkerung organisierte Markt war das letzte legale Mittel, an Güter zu kommen.
Diese Güter konnten gegen Naturalien, Immobilien, Sachgegenstände oder gegen gewisse Dienstleistungen eingetauscht werden. Besaß einer nicht das gewünschte Tauschmittel, wurden Creditos, selbst gemachte Bons mit einem Wasserzeichen, ausgehändigt, die auch auf anderen Tauschbörsen ihre Gültigkeit behielten. Besaß man keinen Credito mehr und hatte man gleichzeitig nichts mehr, was man zum Tausch hätte anbieten können, steckte man bis Unterkante Oberlippe tief in der Scheiße, und jeder wusste, dass man nicht ewig die Luft anhalten könne.
In ähnlichen Situationen hatte Alan Stew immer für ein, zwei Tage und für ein paar Creditos Handlangerjobs durchgeführt, aber in den letzten drei Monaten konnte ihn keiner für irgendwas gebrauchen.
Zusätzlich zu seiner misslichen Lage waren falsche Creditos im Umlauf gebracht worden, was die Leute nur noch mehr verunsicherte, da den Tauschbörsen die Existenzgrundlage dadurch entzogen wurde.
Die Reserven der Stews waren in dieser Spanne geschmolzen wie Schnee in der Mittagssonne.
„Benjamin ist krank. Ich muss mit ihm zum Arzt, Alan. Aber vor allen Dingen brauche ich Nahrung für ihn. Er wird immer schwächer... er ist schon ganz gelb im Gesicht... er...“
Susan begann zu stammeln. Das war immer das erste Anzeichen für einen Weinkrampf. Und so war es dann auch.
Alan und Franklin ließen die Frau weinen, es berührte sie nicht mehr so sehr wie zu Anfang, als diese Attacken begannen. Wenn Franklin auch nicht ganz nach seinem Vater kam, so hatten sie doch wenigstens eines gemein:
Ihr Herz hatte sich unmerklich und unwillkürlich im Laufe der Zeit verhärtet und sie emotionslos gemacht. Franklin schaute nur kurz zu seiner Mutter auf, bevor er sich wieder dem Feuer zuwandte. Alan holte aus seiner Brusttasche ein abgegriffenes Kartenspiel hervor und begann eine Passion zu legen, wobei er sich gedanklich in seiner ganz privaten Welt verlor.
Benjamin indes, der in seinem Käfig geschlafen hatte, erwachte nun und stimmte in das Weinen der Mutter mit ein, als ob er ihre Worte bestätigen und ihnen dadurch mehr Nachdruck verleihen wollte. Aber auch das Weinen des dreijährigen Nachwuchses vermochte es nicht, durch die harte Oberfläche seiner Familienmitglieder zu dringen.
"Jetzt hör schon auf zu plärren. Ich kann dein ständiges Geplärre nicht mehr hören. Das Kind ist auch schon völlig unruhig. Merkst Du nicht, dass Du alle damit verrückt machst? Meinst Du, dass sich durch dein ständiges Rumgeheule unsere Lage verbessert? Jeden verfluchten Tag dasselbe mit Dir. Je-den Tag. Langsam steht es mir bis hier", brach es aus Alan Stew aus, der sich bei seiner letzten Bemerkung die Hand, die das Kartenspiel fasste, an den Adamsapfel hielt, der beim Reden aufgeregt auf- und abhüpfte.
Natürlich bewirkte sein Zornausbruch genau das Gegenteil, sodass Susan nur noch heftiger weinte.
Alan wandte sich resignierend und kopfschüttelnd wieder seinen Karten zu und er schien sich fast beruhigt zu haben, als er plötzlich auch noch seinen Sohn anfuhr.
"Was ist jetzt mit dem vermaledeiten Feuer? Muss ich denn wirklich alles immer selber machen, damit was klappt?"
Just in diesem Moment fingen die Bretter Feuer und Alan beließ es bei einem strafenden Blick, dem Franklin nichts entgegen zu setzen wagte und sich wehrlos ergab. In dieser Stimmung hielt er es für besser, seinen Vater nicht noch unnötig zu reizen. Schließlich waren die Striemen auf dem Rücken, die Alans Gürtel als Folge seines letzten Wutausbruches zurückgelassen hatte, noch nicht ganz verheilt und somit Franklin noch gut in Erinnerung.
Mittlerweile war draußen die Sonne untergegangen und das Feuer tauchte den Raum in ein gelbrotes Licht und erzeugte bedrohliche Schatten, die im Zimmer umherhuschten, während es gleichzeitig die Gesichter in Fratzen verwandelte, die nichts menschliches mehr an sich zu haben schienen.
Franklin ängstigte sich sehr nach Einbruch der Dunkelheit. Es waren die Schatten, die ihm am meisten Angst machten. Doch hätte er es niemals gewagt, dies einem seiner Freunde oder gar seinem Vater anzuvertrauen. Eine Schwäche zuzugeben, war gleichsam die Schneide des Damoklesschwertes zu schärfen, das über einen schwebte.
Nein, in dieser Welt war es besser, eine vermeintliche Schwäche zu verbergen. Schwäche war etwas, was bei Bekannt werden gnadenlos ausgenutzt werden würde und auf der Straße einem sogar das Leben kosten konnte, wenn man an die Falschen geriete.
Nachdem Susans Tränen versiegt waren, nahmen dann die Dinge auch an diesen Abend ihren üblichen Verlauf. Wenigstens vorerst.
Alan widmete sich weiter seinen Karten und zündete sich dabei einen Stummel einer filterlosen SMOKIE an, die zu Franklins Erstaunen immer vorhanden waren.
Franklin hockte am wärmenden Feuer und beobachtete von dieser Stelle seine Mutter, die zur Küchenzeile geschwankt war.
Susan öffnete einen Unterschrank, entnahm ihn einen verbeulten Topf aus Weißblech, füllte Wasser hinein, welches sie in einer Regentonne sammelten und hängte dann den Topf übers Feuer. Das kochende Wasser wurde anschließend auf vier Teller verteilt.
Susan und Franklin nahmen auf ausrangiertem Obstkisten Platz und gesellten sich somit zu Alan an den Tisch.
Ein Tütchen gekörnte Brühe machte daraufhin die Runde und Alan achtete penibel darauf, dass jeder sich nur einen gestrichenen Teelöffel daraus nahm, wobei er mit drei gehäuften Teelöffeln die Ausnahme bildete.
Ein kraftloser Mann würde nie einen Job finden, war seine Erklärung und die anderen, bräuchten gar nicht so zu gucken. Liebend gern würde er mit ihnen tauschen, dann bräuchte er sich nicht mehr die Hacken ablaufen und hätte nicht tagein tagaus lauter Klinken zu putzen.
Susan und Franklin akzeptierten es still. Was blieb ihnen auch anderes übrig?
Wortlos schlürfte jeder an seinem geschmacksverstärkten Wasser, den Blick starr auf den Teller gerichtet und von besseren Zeiten träumend, als ein Rascheln die Stille brach und sie aufhorchen ließ.
Erstaunt und erschrocken zugleich blickten sie einander an. Ihre Mienen verrieten, dass jeder von ihnen es gehört hatte, doch jetzt lauschten sie alle nur wieder der Stille.
Doch dann war es wieder da. Raschel-raschel.
Es kam eindeutig aus der Ecke, wo das Brennholz zusammen mit den alten Zeitungen gelagert war. Als das Geraschel wieder zu hören war, begann ein altes Motorsportmagazin, sich passend zum Geräusch zu bewegen.
Raschel-raschel ertönte es erneut. Der Stapel Zeitungen kam mehr und mehr in Bewegung und die oberste Lage rutschte schließlich fächerartig zur Seite.
Alan nahm den Schürhaken von der Feuerstelle, fasste ihn mit beiden Händen und näherte sich schlagbereit der raschelnden Stelle in der Ecke zu.
Langsam nahm er einen Fuß vor dem anderen. Raschel-raschel. Mit jedem Schritt gewann das Geräusch an Lautstärke hinzu. Unter diesem Stapel verbarg sich eindeutig etwas Lebendiges.
"Alan, was ist...?"
"Halt deinen Mund Weib!"
"Vater..."
"Jetzt haltet doch mal beide die Klappe!"
Alan machte den Arm lang und stupste mit der Spitze des Hakens einige Male in den Stapel, wobei er ihn weiter auseinanderpflügte.
Das Rascheln verstummte unmittelbar darauf und nichts schien sich mehr zu rühren. Alan schaute fragend zurück und seine Muskeln wollten sich gerade entspannen, als plötzlich ein Schatten durch das geschichtete Holz sprang und sein Herz vor Schreck für eine Sekunde aussetzen ließ.
Susan und Franklin schreiten laut auf, als sie erkannten, was sich in ihr Heim verirrt hatte:
Eine riesige, wenn auch recht abgetakelte Kanalratte huschte durch das Zimmer, sprang auf den Sessel und erklomm die Rückenlehne, von wo sie, genauso verängstigt wie die übrigen im Raum, Ausschau hielt.
Im Licht des Feuers schimmerte das raue Fell, das einige nasse Strähnen aufwies, glänzend auf.
Scheinbar war die Ratte, auf der Suche nach etwas Fressbarem, durch das Abwasserrohr entlang gekrochen und durch die Toilette in die Wohnung gelangt. Jetzt sah sie sich umzingelt durch die Stews, die einen Halbkreis um den Sessel bildeten. Kaltes Entsetzen spiegelte sich auf ihren Gesichtern und ließ sie zu Säulen erstarren, während sie gleichzeitig wie gebannt in die dunklen Knopfaugen des Eindringlings blickten, der sich auf seine Hinterbeine gestellt hatte.
Es war Alan, der dieses Entsetzen zuerst abschüttelte. Sein Überlebensinstinkt hatte, ohne dass er sich dessen richtig bewusst war, einen Schalter in ihm umgelegt und die Situation gedreht.
Nein, diese Ratte war kein Parasit, den es sofort zu beseitigen galt. Diese Ratte, die auf der Suche nach Nahrung zu den Stews gestoßen war, hatte nicht daran gedacht, dass sie selber ein Glied einer langen Nahrungskette war. Ihr Pech bestand nun darin, dass sie am falschen Ende dieser Kette stand. So waren nun mal die Spielregeln in dieser Welt. Und sie alle hatten sich, an diese Regeln zu halten.
"Franklin, hol mir das Beil von der Wand, aber beweg dich ganz langsam, hörst Du? Wir wollen doch unser Abendessen nicht verscheuchen!"
Franklin fuhr erschrocken zusammen.
Alans Worte ließen ihn erschauern. Nicht weil der Gedanke eine Ratte zu essen, ihn anekeln würde, sondern weil es in ihm die Erinnerung an seinen Kater Lucky wachrief.
Es geht nicht anders, wenn wir überleben wollen, hatte Alan ihm gesagt. Sieh mal, es ist nur ein Tier. Wir hingegen sind Menschen. Ich weiß, dass Du an ihm hängst. Aber sieh es mal so. Lucky ist ein Held, der sich für uns opfert. Ein richtiger Held, verstehst Du? Franklin verstand, hatte aber trotzdem geweint. Aber alles Weinen hatte nichts genutzt.
Alan hatte Lucky mit einer Eisenstange eins übergezogen, doch das Leben des Katers war erst nach dem dritten Schlag aus ihm gefahren.
Alan hatte seinem Sohn davon erzählt, wie er früher mit Opa dasselbe mit den Karnickeln getan hätte, die Großvater Stew in einem Stall hinterm Haus züchtete.
Zusammen mit Großvater Stew hätte er den toten Kaninchen das Fell über beide Ohren ziehen müssen, welches sich mit einem ähnlichen Geräusch vom Fleisch löste, wie jenes, dass beim Abziehen geklebter Teppiche zu hören ist.
Abgezogen würde Lucky so aussehen wie ein Kaninchen.
Und später hatte Alan zu Franklin gesagt, dass Lucky auch so geschmeckt hätte. Wie ein Kaninchen.
Fleisch ist Fleisch ist Fleisch, mein Sohn. Und wir müssen nun mal essen, wenn wir leben möchten.
Fleisch ist Fleisch ist Fleisch.
Diese Worte spukten nun erneut durch Franklins Kopf, während er für seinen Vater das Beil von der Wand nahm, an der es stumm an einem Nagel hing.
„Gib es mir rüber, Frankie. Ganz sachte. Erschreck die Ratte nicht. Das gibt heute noch ein Festbraten.“
Franklin reichte vorsichtig seinem Vater das Beil, ließ aber die Ratte keine Sekunde aus den Augen. Er musste zugeben, dass auch er sich wünschte, dass sein Vater die Ratte erledigte. Er spürte, wie etwas in ihm mit einer ungeheuren Gier nach der Ratte verlangte.
Dieser lange Schwanz, das nasse schmutzige Fell, diese kleinen Augen, die im Feuerschein aufblitzten. All dies sah er nicht.
Er dachte nur ans Essen. Dieses Loch in ihm musste endlich gestopft werden und er roch schon förmlich das gebratene Fleisch.
Medaillons übergossen mit einer Pilzsoße, Fleisch mit gebackenen Kartoffeln und Zwiebeln, Braten mit einer Extraportion Kroketten.
Und wenn er all diese Gerichte schon nicht haben konnte, so wolle er sich wenigstens damit zufrieden geben, die Ratte an einem Spieß überm Feuer zu rösten.
Jahre später sollte Franklin eine Geschichte lesen, in der jemand eine Redewendung gebrauchte, in der es hieß, dass man in Terpentin gebratene Hunde essen würde. Er hätte an diesem Abend in Terpentin gebratene Ratte gegessen.
Aber dazu sollte es nicht kommen.
Alan näherte sich vorsichtig der Ratte, die unverändert vom Sessel aus das Szenario betrachtete. Franklin hatte sich zwischenzeitlich mit einem Hammer und einem Eimer bewaffnet und schlich von der anderen Seite des Zimmers auf die Ratte zu, so wie es ihm Alan angewiesen hatte.
Beide machten nur kurze, kleine Schritte, um sofort in ihrer Bewegung zu erstarren, wenn es schien, dass die Ratte Anstalten machte, weg zu springen.
Schließlich war Alan so nah dran, dass er sie mit einem möglichen Hieb erreichen konnte.
„Okay, mein Junge. Halt dich bereit. Wenn ich sie nicht erwische, musst Du versuchen, ihr mit dem Hammer beizukommen. Sie darf uns nicht entwischen!“
Franklins Hände schwitzten. Sein Blick wechselte von seinem Vater zur Ratte und zurück. Er hielt sich bereit. Er war sich sicher, dass sie sie kriegen würden.
Was war schon eine dumme, vom Instinkt getriebene Ratte im Vergleich mit ihnen - dem denkenden Menschengeschlecht?
Alan leckte sich nervös über die Lippen. Dann stürzte er mit einer raschen Bewegung nach vorne. Das Beil sauste durch die Luft wie bei einem Zirkelschlag. Alan war schnell, doch die Ratte war ein Tick schneller.
Das Beil spaltete die Lehne an der Stelle, auf der einen Moment zuvor noch die Ratte gehockt hatte.
Franklin warf sich hinter ihr her und versuchte sie mit dem Eimer zu kriegen, doch er klatschte der Länge nach hin, landete auf seinen Bauch und verfehlte sie ebenso.
Alan zog das Beil blitzschnell aus der Lehne und vollzog eine rasche Drehung auf dem Absatz, rutschte aus, stürzte, kam aber mit einem Reflex sofort wieder auf die Beine und hetzte der Ratte hinterher, die schon das andere Ende des Raumes erreicht hatte, dort aber mit der nächsten Wand konfrontiert wurde.
Susan sprang mit einem spitzen Schrei und mit einem Satz auf den Tisch, als die Ratte auf sie zusteuerte.
Benjamin begann wieder in seinem Käfig zu weinen, konnte er doch den ganzen Aufruhr und den entstandenen Krach nicht richtig einordnen. Natürlich minderte sein Weinen die Lautstärke der Geräuschkulisse nicht im Geringsten.
Indes ahnte Franklin, wohin die Ratte sich als nächstes aufmachen würde und schnitt ihr den Weg ab. Die Ratte machte sofort kehrt und versuchte auf einem anderen Weg zu entkommen, bemerkte aber gerade noch rechtzeitig Alan, der ihr auch diesen Fluchtweg blockierte.
Schließlich blieb ihr nur noch eine Ecke, in die sie sich zurückziehen konnte.
Alan und Franklin näherten sich ihr siegessicher, übersahen aber eine wichtige Tatsache: Die Ratte hatte nicht die geringste Lust als Ende irgendeiner Nahrungskette, von der sie nichts wusste oder verstand, auf dem Teller dieser Menschen zu landen.
Und so tat sie, was nun mal in die Enge gedrängte Ratten von Natur aus tun:
Sie ging in die Gegenoffensive über!
Der Sprung der Ratte überraschte beide und ließ aus Franklins Kehle einen kläglichen, erstickten Schrei entweichen.
Alan schrie nicht, reagierte nur und versuchte das Tier in der Luft zu spalten, doch auch dieser Versuch missglückte. Das Beil zerschnitt lediglich die Luft zwischen ihnen und verfehlte den Kopf der Ratte um ein gehöriges Stück.
Wäre Franklin jedoch auch nur einen Schritt näher bei seinem Vater gewesen, hätte es wohl für ihn bedeutet, Abschied von seiner Nase zu nehmen.
Davon bekam Franklin aber nichts mit, weil seine Augen die ganze Zeit über die Ratte fixiert hatten, die ihren Sprung mit einer Landung auf Franklins Brust abgeschlossen hatte. Franklin schrie erneut, während die Ratte sich durch Franklins T-Shirt krallte, um schneller über den Hügel zu gelangen, den die Schulter des Jungen bildete.
Dies alles geschah in Bruchstücken von Sekunden, und nur die hinterlassenen blutigen Kratzer auf Franklins Brust und Hals zeugten von ihrem Aufeinandertreffen. Im nächsten Moment war die Ratte durch das gebrochene Fensterglas enteilt, das Alan schon vor Wochen mit einer Folie abdecken wollte, aber dessen Erledigung er immer weiter vor sich her geschoben hatte.
Diese Nachlässigkeit lief ihm nun kalt den Rücken runter, während er beobachtete, wie die Ratte über ein Vordach und einer Feuerleiter, ihren Weg zurück in die Freiheit fand (Zwei Tage später sollte sie an einem vergifteten Köder, der ihre Organe auflöste, und an den dadurch hervorgerufenen inneren Blutungen qualvoll sterben; doch davon wusste weder Alan, noch Franklin, und am wenigsten wusste die Ratte davon und da es an den weiteren Verlauf des Abends jetzt nichts mehr ändern würde, sei es hier auch nur nebenbei erwähnt).
Die geglückte Flucht der Ratte hatte eine unendliche Stille ausgelöst, die durch das Zimmer expandierte und jeden Laut schluckte, den es hergab.
Alan und Franklin blickten weiter wie erstarrt durch das Fenster. Die kalte Luft machte sich auf ihren geröteten Wangen bemerkbar und ihr Atem hinterließ seine Spuren auf der Fensterscheibe.
Franklin schaute besorgt zu seinem Vater auf. Er war sich nicht sicher, ob er für das Entwischen der Ratte verantwortlich gemacht werden würde. Er rechnete schon fast damit, dass sein Vater einen seiner Wutanfälle bekommen, den Gürtel aus den Schlaufen seiner Hose ziehen würde und ihn damit peitschend durch die Wohnung treiben könnte, während er ihn gleichzeitig als Missgeburt und Volltrottel bezeichnete.
Doch Alans Miene blieb einfach regungslos. Er steuerte mit übertrieben langsam wirkenden Bewegungen auf dem umgefallenen Stuhl zu, stellte ihn wieder auf die Beine und schob ihn unter den Tisch. Dann wanderte er zur Wand und hing das Beil wieder an seinen Platz.
Er schien so sehr darauf bedacht zu sein, alles wiederherzustellen, als ob er wünschte, ihre erlittene Niederlage auf diese Weise so wieder aus ihrem Bewusstsein und aus dem Tagesverlauf radieren zu können. Doch streng genommen wusste er, dass er dazu nicht in der Lage wäre.
Susan tat indes, was sie am Besten konnte. Sie heulte und wusste dabei nicht einmal, warum sie es tat. Die bloße Gewohnheit, in aller Regelmäßigkeit ihren Augen Tränen entweichen zu lassen, trieb sie scheinbar dazu.
Franklin hielt sich immer noch im Hintergrund, weil er dem scheinbaren Frieden misstraute und er weiter erwartete, dass sein Vater sich mit zornentbranntem Gesicht auf ihn stürzen würde. Doch seine Befürchtungen verflüchtigten sich und gingen in Rauch auf.
Auch sein kleiner Bruder Benjamin hatte sich in der Zwischenzeit in den Schlaf geweint gehabt und lag wie eine vergessene Spielzeugpuppe mucksmäuschenstill in seinem Käfig.
Als Franklin bemerkte, dass das Feuer langsam kleiner wurde und es dadurch immer schummeriger im Zimmer wurde, legte er schnell und unaufgefordert noch einige Bretter nach. Er zögerte einen Augenblick, als er ein Stuhlbein vom Stapel nahm. Woher sollte er wissen, ob sich nicht noch eine Ratte dahinter verbarg? Aber als sein Blick außer den Holzscheiten und den Zeitungen nur Schmutz und Staub erhaschte, verflog auch dieser Gedanke.
Gierig verschlang das Restfeuer die neue Nahrung, was es unmittelbar wieder wachsen ließ, sodass es im Zimmer wieder etwas aufhellte.
Franklin blieb in der Nähe des Feuers und ließ die Ereignisse des Abends an seinem inneren Auge wieder und wieder vorbeiziehen. In seinen Gedanken spielten viele -wenns- und -vielleichts- eine Rolle und was blieb, war die bittere Erkenntnis, nichts mehr ändern zu können.
Franklin wusste nicht, wie lange er in dieser Stellung am Feuer ausgeharrt hatte, aber es musste sich um eine geraume Zeit gehandelt haben, da als er seinen Blick wieder durch den Raum schweifen ließ, er feststellte, dass seine Eltern diesen verlassen hatten.
Franklin schaute zu dem Vorhang, der als behelfsmäßige Abtrennung zum Schlafbereich der Eltern diente. Er war zugezogen.
Man hatte ihn einfach sich selbst überlassen. Er war allein. Doch eigentlich nicht ganz. Franklin sah hinüber zum Käfig, in dem Benjamin schlief.
Er schlenderte zu ihm hin, lehnte sich ans Gestell und beobachte den Schlaf des Bruders. Wie friedlich er wirkte. Und so zufrieden. Noch war er zu klein, um etwas von dem zu registrieren, was um ihn herum geschah.
Glücklicherweise bräuchte er sich noch nicht an solche Abende zurückerinnern, ging es Franklin durch den Kopf. Benjamin war kein Wunschkind gewesen. Das hatte Franklin bei einer der Streitereien seiner Eltern aufgeschnappt. Seitdem hatte er sich oft gefragt, ob er je ein solches Wunschkind gewesen sei.
Dabei kam ihm immer das Bild in den Sinn, das er mit diesen Gedanken verband: Es zeigte seinen betrunkenen Vater, der über seiner Mutter lag, die ihn inständig darum bat, aufzuhören, weil es ihr wehtat. Aber sein Vater schnaufte und schnaubte nur seinen übel riechenden Whiskeyatem durch Mund und Nase und ignorierte den Wunsch seiner Ehefrau.
In Franklins Vorstellung war es die Nacht seiner Erzeugung. Obwohl dieser Gedanke ihn zuvor schon oft gequält hatte, machte es ihm jetzt besonders traurig.
Tränen füllten seine Augen und er streckte den Arm aus, um seinen Bruder über die Wange zu streicheln, in der Hoffnung, dass ihn dies ein wenig ablenken würde.
Er wünschte, dass sich Benjamin solche Fragen nie stellen müsse.
Da stand er nun und streichelte seinen Bruder durchs blonde Haar und der Abend flimmerte immer wieder wie eine Nachtübertragung wiederholt vor seinem inneren Auge auf. Die Ratte, die ihn just in dem Moment ansprang, in dem er es am Wenigsten erwartet hatte. Das Beil seines Vaters, das wieder und wieder durch die Luft sauste und wieder die Ratte, die durchs kaputte Fenster entkam.
Alle diese Gedanken spielten sich in einer Endlosschleife ab und Franklin bekam gar nicht mehr mit, wie die Müdigkeit ihn übermannte und ihn mitnahm ins Land der Träume. In dieser Nacht sollte er zum ersten Mal den Traum durchleben, der ihn von da an bis ins Erwachsenenalter verfolgen sollte.
In diesen Traum war die Ratte wieder aus dem Schatten der Holzscheite gesprungen. Die Ratte in seinem Traum war jedoch doppelt so groß und fauchte bedrohlich, wobei sie große, rasiermesserscharfe, spitze Zähne demonstrierte. Und in ihren schwarzen Augen spiegelte sich das Licht des Feuers wider, welches flackernd ihre Pupillen ausfüllte.
Dann wurde plötzlich wie in einem Theaterstück der Vorhang aufgezogen und Alan sprang wie ein verrückt gewordener Derwisch umher, gab ein paranoides Lachen von sich und schwang das überdimensionale Beil.
Alans unkoordinierte Bewegungen lenkten Franklins Aufmerksamkeit auf die Tatsache hin, dass sein Vater an Strippen hing und wie eine Marionette gelenkt wurde. Sein Blick fiel zurück auf die Ratte, und auch sie war jetzt mit Strippen versehen. Schließlich fiel ihm auf, dass auch er an diesen Strippen festgemacht war, deren Enden sich mit Angelhaken durch seine Haut bohrten.
Dann wurde an diesen Strippen gezogen und die groteske Jagd nach der Ratte begann von vorn. Alles lief wieder genauso ab, wie er es erlebt hatte.
Die Ratte wurde wieder in die Enge gedrängt. Die Schatten, die das Feuer an die Wand projizierte, waren beängstigend groß und erfüllten Franklins Herz mit Furcht, als mit einen Mal, das Feuer zu flackern begann und auszugehen drohte.
Nein, nein. Geh nicht aus, hatte Franklin gefleht, doch dann wurde es stockdunkel.
Kälte machte sich breit, während Franklin dem verrückten Lachen seines Vaters lauschte, der ihn aufforderte sich bereit zu halten.
"Bist Du soweit mein Sohn? Es darf uns nicht entwischen. Das gibt ein Festbraten! Halt dich bereit, gleich ist es soweit. Gleich!"
Plötzlich schoss aus der Feuerstelle eine Stichflamme zur Decke empor, als ob der Edelstahlbehälter in den Rachen eines Drachen mutiert wäre.
Gelbrotes Licht erhellte den Raum.
"Es ist soweit. Es ist soweit", jaulte Alan auf und schwang wie ein Dirigent sein Beil.
Das helle Licht blendete Franklin im ersten Augenblick, dann gewöhnten sich seine Augen daran.
Er hörte hinter sich die Ratte fauchen und mit ihren Krallen scharren, doch als er sich im Schein des Feuers erneut nach ihr umsah, gefror ihm sein Blut in den Venen.
Die Ratte war verschwunden und an ihrer Stelle war sein Bruder getreten, der, nur mit einer Stoffwindel bekleidet, am Boden niederkauerte und verteidigend zischte. Benjamins Augen waren zu Schlitzen verengt und seine Oberlippe war von Barthaaren geziert, wie sie bei Nagetieren üblich sind. Auch war sein Rücken mit einem Fell überzogen, das jetzt in einem Kamm hochstand.
"Frankie-Boy, mein Sohn. Lass es nicht wieder entwischen. Hörst Du? Das gibt ein Festessen, mein Junge. Fleisch, mein Sohn. Denke daran. Fleisch ist Fleisch ist Fleisch!"
Dies war der Moment, in dem Franklin anfing, in seinem Traum zu schreien.
Und dieser Schrei sollte in den darauf folgenden Jahren immer der Augenblick bleiben, der ihn von seinem Traum trennte und ihn zurückkehren ließ.
Als er schweißgebadet erwachte, lag er immer noch auf dem kalten Boden neben dem Käfig. Doch sofort fielen ihm mehrere Dinge gleichzeitig auf:
Es war Tag, das Feuer war ausgegangen, seine Mutter saß in ihrem Sessel und heulte und der Käfig, in dem sein Bruder Benjamin stets lag, war leer.
Sein Deckchen und das Kissen, das noch seinen Abdruck enthielt, lagen darin, aber Benjamin war fort.
Plötzlich ertönte Alans raue Stimme.
"Dein Bruder ist tot, Franklin. Er ist letzte Nacht gestorben, während Du schliefst."
Franklins Vater war aus dem Nichts unbemerkt neben ihm aufgetaucht. Franklin fühlte sich, als ob jemand einen Eimer Eiswasser über ihn ausgeschüttet hätte. Mit einem Schlag war ihm die Benommenheit des Schlafes genommen und er war wach.
"Was soll das bedeuten? Tot... aber gestern Abend war er doch..."
"Er war zu schwach. Es ist besser so für ihn."
"Was soll das heißen, es ist besser so... Wovon redest Du? Wo ist er... wo ist Benjamin?"
"Franklin, reiß Dich zusammen. Er ist tot. Ich habe ihn heute Morgen, als es noch dunkel war, beerdigt. Da wir uns kein Begräbnis leisten können, habe ich ihn begraben. Einer muss es ja tun. Gewöhne Dich schon mal daran. Du bist kein kleiner Junge mehr. So sieht die Welt da draußen nun mal aus. Sie hat eine hässliche Fratze und lacht Dir ins Gesicht. Du bist auf dich allein gestellt. Je eher Du diese Lektion lernst, umso besser ist es für Dich. Das ist die Realität, der Du ins Auge sehen musst. Dein Bruder war zu klein und zu schwach, um in dieser Welt eine echte Chance zu haben. Vielleicht schaffst Du es ja."
"Aber... aber..."
Tausend Gedanken spielten in Franklins Kopf auf einmal verrückt. Er konnte keinen davon richtig fassen. Was war nur geschehen? Dazwischen war doch nur eine einzige Nacht vergangen und jetzt sollte Benjamin einfach tot sein?
Auf einmal drängte sich sein Traum wieder in sein Bewusstsein und ein entsetzlicher Verdacht setzte sich in seinem Herz fest. Aber das konnte nun doch wirklich nicht der Wahrheit entsprechen. Nein, an einer solch grauenvollen Wahrheit wollte er nicht glauben.
Fleisch ist Fleisch ist Fleisch, ertönte es in seinem Kopf.
Schockiert betrachtete er seinen Vater, versuchte seine Gedanken zu lesen. Eine solch grauenhafte Tat konnte auch er nicht begehen, oder vielleicht doch?
"Ich will zu seinem Grab", sagte Franklin mit trockener Zunge.
"Du weißt, dass das nicht geht. Auf illegale Beisetzung steht Verbannung. Wir haben auch so schon genug am Hals, auch ohne die Sucher auf uns Aufmerksam zu machen", entgegnete Alan.
Susan wurde von einem neuen Weinkrampf geschüttelt. Franklin Mutter sollte von nun an mehr denn je solche Attacken bekommen, die erst zwei Jahre später aufhörten, als sie selber starb.
Vielleicht hätte Franklin nachhaken müssen, seinen Verdacht weiter nachkommen sollen, Fragen stellen und auf Antworten bestehen müssen, aber er entschloss sich dazu, dieses Kapitel zu schließen und einem einfacheren Wunschdenken nachzugeben.
Die Jahre zogen ins Land.
Sein Vater hatte noch einige Jahre länger gelebt als seine Mutter und Franklin hatte ihn bis zu seinem Tode gepflegt. Das wäre ein Sohn schließlich seinem Vater schuldig, sagte er sich. Doch selbst als er am Sterbebett noch einmal die Gelegenheit dazu haben sollte, die Wahrheit zu erfahren, zog er es vor zu schweigen. Warum eigentlich? Um nicht diese Last auf sich zu nehmen? Aus Angst vor der Wahrheit?
Nun war Franklin selbst ein alter Mann geworden.
Irgendwann, Franklin wusste nicht warum und weshalb, ging es mit der Wirtschaft wieder Bergauf.
Der neugewonnene Frieden zwischen den Mächten brachte den Menschen wieder Arbeit, alles wurde wieder aufgebaut und die Schrecken der Vergangenheit wurden in den Geschichtsunterrichten der Schulen verarbeitet.
Und auch Franklin wäre wahrscheinlich als einer der letzten Zeitzeugen schließlich gestorben und keiner hätte irgendwann mehr Interesse an dieser Epoche gehegt.
Doch eine eifrige und wissbegierige Journalistin wühlte alles noch einmal auf.
Was als historischer Bericht über eines der schwersten Zeiten seit Menschengedenken gedacht war, sollte sich zur einer noch größeren und unerwarteten Tragödie entwickeln. Auf der Suche nach Zeitzeugen war diese eifrige Journalistin auf einige Ungereimtheiten in den Geschlechtsregistern gestoßen, denen sie weiter nachging. Dabei raus kamen unzählige Familien, deren Clanmitglieder plötzlich und scheinbar grundlos nicht mehr in den Stammbüchern geführt wurden.
Wie sich weiter herausstellte, waren viele von diesen tatsächlich an den äußerst harten Bedingungen gestorben, doch so viele andere Fälle wiesen keine offiziellen Totenscheine auf und waren auch sonst nicht dokumentiert, was auch für diese Zeit sehr sonderbar war.
Nach langer Suche stieß diese Journalistin schließlich auf Leute, die sich erinnerten und ihrem Gewissen Erleichterung verschafften.
Nach drei Jahren intensiver Recherche brachte sie ihr Buch heraus, welches den Titel trug: "DIE URKNALL-KANNIBALEN"
Als Franklin siebzig Jahre nach jener Nacht, in der er und sein Vater die Ratte gejagt hatten, dieses Buch las, gab es ihm die Antworten auf die Fragen, die er sich immer gestellt hatte, aber nie zu beantworten gewagt hatte.
Er legte das Buch beiseite und begann bitterlich zu weinen.