Fleisch
Fleisch
"Und sei lieb in der Schule, ja?", rief Mama dem achtjährigen Günter hinterher und drückte ihm die Frühstücksbox in die Hand, die, wie jeden Morgen, eine Scheibe Brot mit frischem Salat und eine Banane enthielt.
"Ja, bin ich!", antwortete der kleine Junge, drückte Mama noch einen Kuss auf die Wange verließ das Haus in Richtung Schule.
Die ersten beiden Schulstunden, Deutsch und Mathe, waren schnell vorbei. Als es zur Pause klingelte, zerrte Günters bester Freund, Benjamin, aufgeregt an seinem Ärmel.
"Komm Günter, ich hab was ganz Tolles!", sagte er und zog Günter hektisch hinter die Wohnung des Hausmeisters, wo sie von allen anderen auf dem Schulhof ungesehen waren.
"Sieh mal, Günter!", sagte Benjamin aufgeregt und holte eine Frühstücksbox aus seiner Schultasche.
"Was ist da drin?", fragte Günter.
"Das wirst du gleich sehen", antwortete Benjamin und öffnete die Frühstocksbox. Zum Vorschein kamen zwei dicke, fette Bockwürste. "Nimm dir eine!", sagte er.
"Ich weiß nicht", meinte Günter, "du weißt doch, dass ich kein Fleisch essen darf. Mama und Papa werden sonst böse."
"Aber die sind doch nicht hier, oder? Jetzt nimm schon!" Benjamin nahm eines der Würstchen aus der Box und streckte es Günter entgegen. Dieser nahm sie mit vor Aufregung zitternden Fingern entgegen. Benjamin nahm auch seine Wurst in die Hand, biss kräftig hinein und kaute fleißig.
"Beif reim!", sagte er mit vollem Mund und deutete auf die Wurst in Günters Hand. Günter war nicht wohl bei der Sache. Noch nie bekam er Fleisch zu essen. Tiere müssen qualvoll dafür sterben, sagten Mama und Papa, aber der Geruch der Wurst war sehr verlockend.
Einen Moment zögerte er noch, dann biss auch er hinein. Eine Explosion aus Geschmack und Genuss explodierte in seinem Mund und sofort biss er erneut hinein. Als die Pause zuende war, hatte er die ganze Wurst aufgegessen und noch nie in seinem Leben hatte ihm etwas so gut geschmeckt.
Endlich wurde es 1 Uhr und die Schule war aus. Günter nahm seine Schultasche, verabschiedete sich von Benjamin, und lief nach Hause. Als er in die Straße einbog, in der er wohnte, bemerkte er etwas Ungewöhnliches: Normalerweise wartete Mama immer an der Haustüre auf ihn, wenn er nach Hause kam, doch heute war die Türe zu.
Günter klopfte ... nichts. Dann klingelte er ... wieder nichts. War Mama etwa nicht zuhause? Ging es ihr nicht gut? Er öffnete das Gartentor, lief durch den Garten und durch die offene Terrassentüre hinein ins Haus.
"Mama?", rief er laut, doch es kam keine Antwort. Günter lauschte, und tatsächlich hörte er etwas aus der Küche ... ein leises Schluchzen. Er öffnete die Küchentüre und sah seine Mutter am Tisch sitzen, den Kopf nach vorn gebeugt und das Gesicht in den Handflächen vergraben, weinend.
"Was ist los, Mama?", fragte Günter.
"Raus", flüsterte Mama leise.
Günter gehorchte auf's Wort. Irgendetwas lag in Mamas Tonfall, das keinen Widerspruch duldete. Er schloss die Küchentüre hinter sich, ging in sein Zimmer und so verging die Zeit.
Erst eine Stunde ...
... dann zwei und drei ...
Doch die ganze Zeit über war nur Mamas leises Schluchzen zu hören. Dann klimperte ein Schlüssel in der Haustüre. Endlich war Papa wieder da.
"Hallo Papa!", rief Günter und lief zur Haustüre.
"Hallo Günterchen", antwortete dieser und streichelte ihm eilig über den Kopf. Er stellte seine Aktentasche ins Büro, legte seine Jacke über den Stuhl und schaute sich um.
"Wo ist denn Mama?", fragte er.
"In der Küche", antwortet Günter, "sie weint schon die ganze Zeit."
Papa machte ein überraschtes Gesicht und öffnete die Küchentüre.
"Was ist denn, Gisela?", fragte er hinein. Mama sagte etwas, heiser, flüsternd. Günter verstand kein Wort. Papa ging in die Küche hinein und schloss die Türe hinter sich.
Dann brach Mama hinter der geschlossenen Türe in lautes Weinen aus und erzählte etwas, das Günter nicht verstand, da sie zwar laut, aber auch sehr undeutlich sprach. Papa sagte auch etwas, sehr leise, dann wurde es still.
Eine weitere halbe Stunde verging, dann öffnete Papa die Türe und kam heraus, Mama mit völlig entgleistem, tränenverschmierten Gesicht hinterher.
"Mama sagt, du hast Fleisch gegessen", sagte Papa ganz direkt, aber ruhig. Seine Mundwinkel zitterten in einer Mischung aus Zorn und Traurigkeit.
"Ich ...", begann Günter. Er wusste nicht, was er sagen sollte. "Es war ein Geschenk von Benjamin."
"Du hast Fleisch gegessen!", rief Papa jetzt, laut und völlig außer sich vor Wut und Verzweifelung. Seine Lippen zitterten und eine Träne rollte über sein Gesicht, dann packte er Günter am Kragen und zog ihn zu sich heran.
"Warum?!" rief er mit gebrochener Stimme. "Was haben Mama und ich nur falsch gemacht?"
Günter schwieg und schaute zu Boden.
"Weißt du wie die Tiere leiden müssen? Weißt du, wie sie geschlachtet und zerstückelt wurden, nur damit du diese Wurst essen konntest?"
"Tut mir leid", sagte Günter und schaute weiter betreten zu Boden.
"Es tut dir leid!?" Papa schüttelte Günter so kräftig durch, dass ihm schwindelig wurde. "Sag dem Schwein, dass es dir leid tut! Sag es der Kuh, sag es den Hühnern!"
Papa packte Günter schmerzhaft an den Haaren und zerrte ihn in sein Zimmer, schlug die Türe zu. "Der liebe Gott hat dich jetzt nicht mehr lieb", sagte Papa leise auf der anderen Seite der Türe und drehte den Schlüssel um.
"Es tut ihm leid!", rief er laut und Mama brach wieder lautstark in Tränen aus.
Eine weitere Stunde verging, dann hörte Günter wieder Schritte vor seinem Zimmer. Hoffentlich hatten Mama und Papa sich wieder beruhigt. Der Schlüssel wurde erneut umgedreht und Papa öffnete die Türe, packte Günter wortlos am Kragen und zerrte ihn in die Küche. Mama trug ihre Kochschürze, der Fußboden und der Küchentisch waren mit Plastikfolie ausgelegt und in ihrer Hand hielt Mama ein großes Fleischerbeil.
"Gleich siehst du, was du den Tieren angetan hast!", knurrte Papa heiser, packte Günter wieder schmerzhaft am Kragen und legte ihn auf den Küchentisch. Mit Tränen in den Augen holte Mama mit dem Beil aus und schlug zu, immer und immer wieder. Schmerz explodierte in Günters Körper, dann brach Papa ihm die Rippen heraus.
Das Letzte, was Günter sah, war Papa, wie er ihm mehrere Organe entnahm und diese in die Bratpfanne warf. Mama streute ein paar Gewürze darüber. Dann wurde Günters Welt kalt, dunkel, farblos und schließlich schwarz und lautlos.
An diesem Abend aßen Mama und Papa das erste Mal in ihrem Leben Fleisch.