Fleisch von meinem Fleisch...
Fleisch von meinem Fleisch…
Zärtlich fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Haut seines Armes, wenn sie die Augen schloss glaubte sie, die matte Zartheit eines herabgefallenen Blütenblattes zu fühlen. Er war noch immer wärmer als sie, so schnell konnte die Kälte ihn nicht durchdringen. Rasch zog sie die Decke wieder über seinen nackten Körper. Still saß sie neben dem Bett und versuchte nicht, auf die gellenden Stimmen zu achten, die in ihrem Kopf tosten. Sie schienen von weit her zu kommen, aber es waren so viele, der Lärm wurde immer unerträglicher. Stöhnend ließ sie sich auf den Boden gleiten und begann ihre Stirn immer wieder gegen die Kante des Kinderbettes zu schlagen. Sie fühlte keinen Schmerz, die Schreie wurden leiser und befreiten ihre Gedanken für wenige Augenblicke.
Marfa blieb so lange dort sitzen, bis die Dunkelheit den Raum völlig durchdrungen hatte und sie die bunten Bilder an den Wänden nicht mehr erkennen konnte. Der tanzende Elefant im Blumenbeet war jetzt ebenso verschwunden, wie die bunten Bauklötze und die vielen Plüschtiere im Regal. Dann erst stand sie auf und verließ das Zimmer, ging in die Diele, knipste das Licht an und blieb vor dem großen Spiegel stehen. Sie sah sehr blass aus, aber ansonsten genau wie immer, nur ihre Augen hatten sich verändert, schienen blind geworden zu sein. Wie konnte sie sich überhaupt mit diesen toten Augen sehen? Aber es war ihr jetzt genauso gleichgültig, wie alles andere.
Später saß Marfa am Küchentisch, eine halbgeleerte Flasche Grappa vor sich, aus der sie hin und wieder einen Schluck nahm. In ihrer geöffneten Hand lag das scharfe Küchenmesser, mit dem sie noch letzte Woche das Gemüse für Lukas geputzt hatte. Bedächtig griff sie danach und begann die Haut von ihrem Unterarm zu schälen. Blut tropfte auf die hölzerne Tischplatte und bildete bald eine glänzende Lache. Sie schnitt nicht in die Tiefe - Marfa sehnte sich danach ihren ganzen Körper mit Schmerz zu bedecken, um die Schreie aus ihrem Inneren freizulassen. Aber auch als sie eine große Fläche rohen Fleisches bloßgelegt hatte, war es nicht Trauer sondern hilflose Wut, die sie erfüllte.
Marfa ging schließlich mit schlurfenden kleinen Schritten ins Kinderzimmer zurück, tastete sich zum Bett vor und nahm den kleinen schlaffen Körper in die Küche mit. Lukas war inzwischen kühl geworden. Das Fieber der letzten Tage hatte sein Gesichtchen schmal und gelblich werden lassen, aber sein Leib war weiß und makellos. Sie setzte ihn vor sich auf den Küchentisch, den Rücken gegen das kleine Gewürzregal gelehnt. Ihr blutender Arm hatte seine Schulter beschmutzt, rasch wischte sie das hässliche Rot mit einem Taschentuch ab. Sein Kopf war nach vorne gefallen, die blonden Haare hingen in klebrigen Locken hinab. Mit der geöffneten Schnapsflasche vor sich, sah er wie ein kleiner Penner aus. Marfa schlug sich schmerzhaft ins Gesicht, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen. Dann zog sie sich nackt aus, nahm wieder das Messer und zog sich Hautstreifen um Hautstreifen ab. Sie musste sich sehr beherrschen, um die Klinge nicht in ihren Bauch zu stoßen, diesen Mutterbauch, der ein Kind hervorgebracht hatte, nur damit es ihr wieder genommen werden konnte. So blieben sie lange sitzen. Sie musste aber noch den Rest der Flasche austrinken, bis sie mit ihm sprechen konnte. Schließlich begann sie mit etwas schleppender Stimme,
„Lukas…Lukas…wir gehören doch zusammen, du bist Fleisch von meinem Fleisch… ich weiß, du kannst nichts dafür, niemand kann je für irgendetwas, alles passiert immer nur… alles…. Warum bin ich nicht gläubig, dann würde ich glauben können, dass wir im Tode vereint würden, aber ich kann nicht… kann nicht…kann nicht glauben. Willst du dass ich sterbe? Das ließe sich leicht machen…“
Sie lachte leise,
„Es wäre einfach, dann würde ich nichts mehr fühlen, dorthin kann mir niemand folgen, nicht einmal du Lukas… ich wäre fein raus.“
Schwankend saß sie auf ihrem Stuhl, hielt sich wie bei einer wilden Abfahrt an der Tischkante fest, ihr Gemurmel wurde immer unverständlicher.
Später lag Marfas Kopf auf dem Tisch, mit geschlossenen Augen versuchte sie die Stimmen in ihrem Kopf zu verstehen, sie schrieen alle das gleich, riefen ihr schrill etwas zu, einen Satz, immer wieder den gleichen Satz…
„Nimm ihn zu dir, er gehört dir.“
Sie begriff plötzlich, was damit gemeint war. Trotzdem blieb sie noch eine Weile still sitzen, bis sie ganz sicher war.
Dann stand sie entschlossen auf, nahm das Messer und schnitt sich ein Stück von Lukas weichem Babybein ab. Er blutete nicht stark. Während sie sich Stück für Stück das Fleisch in den Mund stopfte, wurde sie langsam traurig.