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Fleisch von meinem Fleisch...

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26.06.2001
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Fleisch von meinem Fleisch...

Fleisch von meinem Fleisch…

Zärtlich fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Haut seines Armes, wenn sie die Augen schloss glaubte sie, die matte Zartheit eines herabgefallenen Blütenblattes zu fühlen. Er war noch immer wärmer als sie, so schnell konnte die Kälte ihn nicht durchdringen. Rasch zog sie die Decke wieder über seinen nackten Körper. Still saß sie neben dem Bett und versuchte nicht, auf die gellenden Stimmen zu achten, die in ihrem Kopf tosten. Sie schienen von weit her zu kommen, aber es waren so viele, der Lärm wurde immer unerträglicher. Stöhnend ließ sie sich auf den Boden gleiten und begann ihre Stirn immer wieder gegen die Kante des Kinderbettes zu schlagen. Sie fühlte keinen Schmerz, die Schreie wurden leiser und befreiten ihre Gedanken für wenige Augenblicke.
Marfa blieb so lange dort sitzen, bis die Dunkelheit den Raum völlig durchdrungen hatte und sie die bunten Bilder an den Wänden nicht mehr erkennen konnte. Der tanzende Elefant im Blumenbeet war jetzt ebenso verschwunden, wie die bunten Bauklötze und die vielen Plüschtiere im Regal. Dann erst stand sie auf und verließ das Zimmer, ging in die Diele, knipste das Licht an und blieb vor dem großen Spiegel stehen. Sie sah sehr blass aus, aber ansonsten genau wie immer, nur ihre Augen hatten sich verändert, schienen blind geworden zu sein. Wie konnte sie sich überhaupt mit diesen toten Augen sehen? Aber es war ihr jetzt genauso gleichgültig, wie alles andere.
Später saß Marfa am Küchentisch, eine halbgeleerte Flasche Grappa vor sich, aus der sie hin und wieder einen Schluck nahm. In ihrer geöffneten Hand lag das scharfe Küchenmesser, mit dem sie noch letzte Woche das Gemüse für Lukas geputzt hatte. Bedächtig griff sie danach und begann die Haut von ihrem Unterarm zu schälen. Blut tropfte auf die hölzerne Tischplatte und bildete bald eine glänzende Lache. Sie schnitt nicht in die Tiefe - Marfa sehnte sich danach ihren ganzen Körper mit Schmerz zu bedecken, um die Schreie aus ihrem Inneren freizulassen. Aber auch als sie eine große Fläche rohen Fleisches bloßgelegt hatte, war es nicht Trauer sondern hilflose Wut, die sie erfüllte.
Marfa ging schließlich mit schlurfenden kleinen Schritten ins Kinderzimmer zurück, tastete sich zum Bett vor und nahm den kleinen schlaffen Körper in die Küche mit. Lukas war inzwischen kühl geworden. Das Fieber der letzten Tage hatte sein Gesichtchen schmal und gelblich werden lassen, aber sein Leib war weiß und makellos. Sie setzte ihn vor sich auf den Küchentisch, den Rücken gegen das kleine Gewürzregal gelehnt. Ihr blutender Arm hatte seine Schulter beschmutzt, rasch wischte sie das hässliche Rot mit einem Taschentuch ab. Sein Kopf war nach vorne gefallen, die blonden Haare hingen in klebrigen Locken hinab. Mit der geöffneten Schnapsflasche vor sich, sah er wie ein kleiner Penner aus. Marfa schlug sich schmerzhaft ins Gesicht, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen. Dann zog sie sich nackt aus, nahm wieder das Messer und zog sich Hautstreifen um Hautstreifen ab. Sie musste sich sehr beherrschen, um die Klinge nicht in ihren Bauch zu stoßen, diesen Mutterbauch, der ein Kind hervorgebracht hatte, nur damit es ihr wieder genommen werden konnte. So blieben sie lange sitzen. Sie musste aber noch den Rest der Flasche austrinken, bis sie mit ihm sprechen konnte. Schließlich begann sie mit etwas schleppender Stimme,
„Lukas…Lukas…wir gehören doch zusammen, du bist Fleisch von meinem Fleisch… ich weiß, du kannst nichts dafür, niemand kann je für irgendetwas, alles passiert immer nur… alles…. Warum bin ich nicht gläubig, dann würde ich glauben können, dass wir im Tode vereint würden, aber ich kann nicht… kann nicht…kann nicht glauben. Willst du dass ich sterbe? Das ließe sich leicht machen…“
Sie lachte leise,
„Es wäre einfach, dann würde ich nichts mehr fühlen, dorthin kann mir niemand folgen, nicht einmal du Lukas… ich wäre fein raus.“
Schwankend saß sie auf ihrem Stuhl, hielt sich wie bei einer wilden Abfahrt an der Tischkante fest, ihr Gemurmel wurde immer unverständlicher.
Später lag Marfas Kopf auf dem Tisch, mit geschlossenen Augen versuchte sie die Stimmen in ihrem Kopf zu verstehen, sie schrieen alle das gleich, riefen ihr schrill etwas zu, einen Satz, immer wieder den gleichen Satz…
„Nimm ihn zu dir, er gehört dir.“
Sie begriff plötzlich, was damit gemeint war. Trotzdem blieb sie noch eine Weile still sitzen, bis sie ganz sicher war.
Dann stand sie entschlossen auf, nahm das Messer und schnitt sich ein Stück von Lukas weichem Babybein ab. Er blutete nicht stark. Während sie sich Stück für Stück das Fleisch in den Mund stopfte, wurde sie langsam traurig.

 

Puh... das ist ganz schön heftig. Und irgendwie ganz schön traurig.

Und es stellt sich die Frage, wieviel Verzweiflung kann ein Mensch ertragen? Wann ist der Punkt erreicht, um die Grenze zu überschreiten?

Eigentlich kann man zu deiner... Geschichte nicht viel sagen. Bei mir hinterläßt sie ein mulmiges, beklemmendes Gefühl. Bei anderen vielleicht sogar einen Schlag in den Magen.

Poncher

 

Ich habe einen anderen Eindruck von der Geschichte, vielleicht habe ich Unrecht, aber dies sind meine Gedanken:

Dies ist eine entsetzliche Geschichte, gekonnt erzählt, aber daher wohl umso grauenerregender. Wird ein Mensch aus Kummer zum Kannibalen, um das in sich selbst aufzunehmen, was von einem kam oder was man selbst geboren hatte?

Ich kann das nicht beurteilen, ich habe nie zuvor davon gehört. Aber ich denke, daß es nicht die reine Verzweiflung ist, die die Mutter so handeln läßt, da andere verzweifelte Mütter auch nicht derartig handeln. Liebe ist, auch gehen zu lassen. Diese Mutter verspürt keine normale Liebe zu ihrem Kind, sondern eher eine groteske Abhängigkeit, vielleicht auch Schuldgefühl und Eigenhaß. Liebe läßt einen Menschen nicht einen anderen auffressen, nicht einmal "nur" bildlich gesehen.

Möglicherweise ist diese Erzählung auch rein metaphorisch gemeint. Vielleicht möchte der Autor dem Leser eine schauerhaft pathologische Form der Liebe beschreiben.

Diese Geschichte hätte in die vorher vorgeschlagene Kategorie "Psycho" gepaßt. Chilling story...

 

*schluck!*
Als frischgebackener Vater einer süßen 2 Monate alten Tochter, hinterläßt dieser Text ein Gefühl in mir, welches ich durch Worte kaum auszudrücken vermag.

Ich hätte diese Story nicht um 8.25 Uhr früh lesen sollen, jetzt ist mein ganzer Tag im Arsch! Dabei war ich heute so gut gelaunt...

 

Gut geschrieben, aber unerträglich für mich.
Dito. Meine Kleine ist ja in Merlins Alter. Solche Geschichten haben mich früher nicht annähernd so berührt, wie jetzt. Treibt mir die Tränen in die Augen.

 

Hallo

ich wollte mit dieser Geschichte nicht schocken. Ich wollte mir vorstellen welche Reaktionen ein solch grosser Schmerz erzeugen kann. Mir ging es beim schreiben auch schlecht, aber es musste raus.

Danke für die Resonanz

Kyra

 

Puuhhh...da musste ich erst einmal schlucken. Da ich nicht - so wie viele der Vorkritiker hier - Kinder habe, kann ich anders rangehen.
Sehr gut geschrieben ist die Geschichte, sehr nah und intensiv. Der Wahn, der sie überfällt, kommt "ehrlich" rüber, will sagen, wirkt nicht gekünstelt oder überzogen (angesichts des Geschehens.)
Die Szenen, in denen sie sich die Haut abzieht - brrrrrr! Unwillkürlich sind meine Hände über meine Arme gefahren. Schwer auszumalen, das ein Schock so betäubend wirken kann.
Insgesamt ist Dir da eine gute Geschichte gelungen, die vor allem durch die intensive Beschreibung der Gefühle und deren Auslebung anspricht.

An einer Stelle:

Sie fühlte keinen Schmerz, die Schreie wurden leiser und befreiten ihre Gedanken für wenige Augenblicke.

Meinst Du da nicht eher, daß die Schreie ihre Gedanken für kurze Zeit verließen und nicht befreiten?

 

Kann mich da nur anschließen...solche Texte, die recht extreme Reaktionen hervorrufen, gibt es selten...die Tatsache, daß sich eine Gruppe von Lesern ähnlich fühlt, beweist seine Qualität...haut einen im ersten Moment echt K.O.

San

 

Original erstellt von Kyra:
ich wollte mit dieser Geschichte nicht schocken.
Ist schon klar, das unterstellt Dir ja niemand. Die Geschichte berührt einen nur sehr stark, wenn man selbst Kinder hat.

 

Also, ich hab keine Kinder, um das vorweg zu stellen. Etwa die erste Hälfte des Textes hat auch mich sehr berührt, aber den Schluss fand ich einfach nur noch widerwärtig.
Ich bin Horror-Fan und mag brutale, blutige Filme, doch das ist mir zu heftig, sorry!
Ist keine echte Kritik, wie wahr, aber ich stoße mich einfach an diesem Schluss, der eine sehr gute, traurige Geschichte in ein unwürdiges Eck stellt.

 

Rainer: na ja, so ist das, wenn man den Verstand verliert. Klar, es wirkt schon sehr überzogen, aber die Realität sieht manchmal viel härter aus.

 

Eine tiefgehende Qualität des Textes,der Aussage,des Mutes, dies zu schreiben.Endzeit der Seele einer Mutter,das Zerbrechen.
Ganz toll gemacht!

Aqualung

 

Hallo Kyra,

bis zu der Stelle, an der die Mutter ihr Kind auf den Tisch legt, kam ich noch halbwegs mit.

Keine Ahnung, ob Du Kinder hast und wenn, ob Du schon eines gehen lassen musstest ....

Ich schliesse mich Roswita an - ich hatte auch das Gefühl, dass hier eine pathologische Form von "Liebe" beschrieben wurde - bis ich Deinen Kommentar las.

Hmmm .... ein Kind gehen lassen zu müssen, verursacht einen so grossen Schmerz, dass er sich nicht Worte fassen lässt - das kann ich Dir aus eigener Erfahrung sagen.
Natürlich gibt es Schuldgefühle, Suizid-Gedanken, Selbstbezichtigung, Fremdbezichtigung (gegen Arzt, Ehemann, Babysitter ...) in einem Ausmass, das sich Nicht-Betroffene nur schwer vorstellen können - und das ist gut so !

In der Weise, wie die Mutter in Deiner Erzählung mit dem Tod ihres Kindes umgeht, macht das niemand, der sein Kind nicht krankhaft liebt, sondern so wie es einem Kind gebührt - nicht einmal in Gedanken oder Träumen.
Das ist eine empirische Erkenntnis meinerseits - denn seit mein Sohn verstorben ist, begleite ich verwaiste Eltern, deren Kinder mit der selben Diagnose (Plötzlicher Kindstod) verstorben sind.

Trotzdem hat mich Deine Erzählung tief berührt - nicht geschockt.
Toll und mitreissend geschrieben.

Eva

 

Ich verstehe, wie die Mutter sich selbst Wunden zufügt in all ihrer Verzweiflung, aber der letzte Teil ist doch sehr unverständlich für mich.

Zitat: "Nimm ihn zu dir, er gehört dir."

Wenn sie in sein Babybein schneidet, da hört es bei mir auf. Ok, ich weiss, es ist bildlich gemeint, aber das, was man liebt, will man nicht zerstören. In seiner Trauer will man trotzdem doch das gesamte Baby bewahren. Es ist fast zu heilig und zu perfekt zum Berühren, obwohl es tot ist. Obwohl es das eigene ist, muss man es gehen lassen, es gehört nicht der Mutter, auch wenn es von der Mutter ist. Es ist ein eigenes Wesen.

Nun ja, vielleicht liegt mein Unverständnis daran, dass ich keine Mutter bin.

[Beitrag editiert von: Roswitha am 30.11.2001 um 20:00]

 

Die Geschichte geht echt nah. Mehr kann ich nicht schreiben.

Echt beeindruckend.

 

Hallo,

ich bin ein wenig spät dran mit meinem Kommentar, doch als die Geschichte aktuell war, war ich noch nicht hier.

Ich habe mir die Kritiken durchgelesen und möchte nur eines noch dazu sagen: Auch ich habe ein Kind begraben müssen. Obschon der Tod immer etwas Trauriges ist, ist der Tod des eigenen Kindes besonders schlimm. Vielleicht, weil mit dem Kind auch unsere eigene Unsterblichkeit dahin geht -wir sind halt von der Natur nicht programmiert, damit umzugehen wie mit jedem anderen Tod.

Ich kann mich an wenig aus dieser Zeit erinnern, war praktisch in einem medikamentenindizierten Dauer-Tran. Doch an eines erinnere ich mich genau: Am Tag der Beerdigung regnete es sehr stark. Und da stand ich nun und hatte das Gefühl, ich hätte irgend etwas ganz furchtbar Wichtiges vergessen. Ich konnte nicht begreifen, dass man meine Maus jetzt allen ernstes und ohne Scheiß in dieses kalte, schlammige Loch zu stecken beabsichtigte. Irgendwie, so hatte ich das Gefühl, musste im letzten Moment noch IRGEND ETWAS passieren, musste noch was kommen. Und in diesem Moment - ich weiss, jetzt werden mich viele hassen - habe ich mir GEWÜNSCHT, das Mäuschen aufessen zu können. Lieber ich als die Würmer, die sie doch weder brauchten noch liebten. Vielleicht, wenn ich es schaffen würde, so viel wie möglich wieder in mich aufzunehmen, würde mir mein Kind später in anderer Form wiedergeboren...

Nennt mich pervers, aber genau das habe ich damals (1991) gedacht. Natürlich bin ich darüber hinweggekommen - so gut man das halt kann - und NICHT in der Klappse gelandet.

Doch von "fehlgeleiteter, phathologischer Über-Liebe" zu sprechen, erscheint mir doch ein bisschen hart. Das kann nur verstehen, wer DIESEN Verlust schon mal verkraften musste.

Gruss
P.

 

Oh man... die Geschichte hat mich echt zum Heulen gebracht. Sehr heftig.
Das Ende kann ich besonders als Mutter nicht ganz nachvollziehen. Aber vielleicht ist das ja auch nur bildlich gemeint.
Nur eins wüßte ich: Ohne meinen Sohn würde ich nicht mehr leben wollen.

Gruß,Pan

 

@Pan:

Nun, ich drücke Dir alle Daumen und anderen Extremitäten, dass Du das nie erleben musst, und Du wirst es wahrscheinlich nie.

Was ich sagen wollte ist, dass das, was die Protagonistin in der Geschichte schlussendlich tatsächlich tut, als Wunsch, Drang oder was auch immer tatsächlich dann vorhanden sein KANN. Das ist kein bewusster Gedanke oder Plan, eher so eine Art Ziehen, ein Trieb oder... ach, ich weiss auch nicht. Der verzweifelte Wunsch, etwas, IRGEND ETWAS zu tun, um den allerletzten Abschied nicht geschehen lassen zu müssen.

Ist schwer zu beschreiben, wie Gefühle überhaupt.

Gruss
P.

 

Hallo Pipilasovskaya

Deine Antwort freut mich sehr. Ich selber habe kein eigenes Kind verlohren, aber ein Kind was mir sehr nahe stand ist gestorben. Ich hatte auch diesen gedanken an Essen. Ich denke das hat viel mit behalten wollen und eiverleiben zu tun. Es ist ein letzter hilfloser Versuch etwas bei sich zu behalten. Ich sehe es auch nicht als pervers an. Pervers ist ein Mensch, der Leichen fleddert. Aber dies ist eine völlig andere Situation.

Danke

Kyra

 

Hi,

hab mich falsch ausgedrückt. Ich kann es mir für mich selber nicht vorstellen, an seinem mackellosen Körper rumzuschnippeln (sorry,wenn ich das jetzt so salopp ausdrücke) und diese Perfektion, die jedes Kind für dessen Mutter hat, zu zerstören und dann gar aufzuessen.
Ich verstehe schon, was ihr meint aber ich denke wirklich, wie ihr schon sagt, dass man das nur dann nachvollziehen kann, wenn es erleben mußte.

Wenn ich sowas lese kann ich nur über Alles dankbar sein, dass ich ein gesundes Kind hab.
Ich glaub, ich muß ihn gleich erstmal ganz fest an mich drücken.

Gruß,pan

[Beitrag editiert von: Pandora am 15.03.2002 um 12:30]

 

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