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Fleckige Haut
„Im Fernsehen haben sie gesagt, dass sie an der Grenze auf Flüchtlinge schiessen wollen“, sagt Elke und schiebt sich einen Löffel Hüttenkäse in den Mund. Sie kaut langsam und schüttelt dabei den Kopf, sodass ihr weisses Haar um ihr Kinn hin und her schwingt. Dabei schaut Kurt mit grossen Augen an. Kurt hört, wie sie laut schluckt, während er den Blick auf den Teller gerichtet hält. Kurt isst einen Eintopf, den er nach Elkes Rezept gekocht hat. Sie beide essen schon seit einer Weile unterschiedliche Gerichte, er hat jetzt langsam den Dreh raus mit dem Kochen. Kurt hebt dann den Blick und sagt: „Hör doch mal auf, mit dem Kopf zu schütteln, das macht mich ganz verrückt.“
„Du kannst gar nicht wissen, dass ich mit dem Kopf schüttle, du hast ja auf deinen Teller geschaut, Kurt.“
Kurt schaut sie an und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, überlegt es sich dann aber anders. Er seufzt nur und schaut Elke traurig an. Sie schüttelt immer noch ihren Kopf und hält den Löffel fest in ihrer Hand, ohne zu essen. Ihr Blick ist freundlich, er ist immer so in letzter Zeit, denkt Kurt. Verändert sich nie. Irgendwie scheint er erstarrt zu sein. Dann konzentriert Kurt sich wieder auf sein Essen.
„Haste gehört, die schiessen an der Grenze auf Flüchtlinge!“
„Ne, tun sie nicht“, antwortet Kurt.
„Doch, das lief gerade eben im Fernsehen.“
„Liebes, glaub doch nicht immer alles, was im Fernsehen läuft. Die reden da doch bloss über die Grenzschliessung, weisste. Das machen die Politiker immer. Reden, reden, reden. Mehr ist das nicht. Das weisst du doch.“
„Die Frau im Fernsehen hat aber was anderes gesagt. Die hat gesagt, dass die auf Flüchtlinge schiessen wollen. Um unser Land zu schützen, vor den Flüchtlingen. Deswegen schiessen sie.“
Jetzt schüttelt Kurt seinen Kopf, ganz kurz und ruckartig, als wolle er eine lästige Fliege abwimmeln, aber dann senkt er wieder den Kopf und isst weiter, ohne etwas zu erwidern. Der Eintopf schmeckt ihm gut. Er schmeckt genauso wie früher, als Elke ihn noch gemacht hat.
„Die schiessen an der Grenze auf Flüchtlinge! Wieso glaubst du mir denn nicht, Kurt? Die haben das im Fernsehen gesagt! Gerade eben war das! Die haben das gesagt!“, schreit Elke jetzt. Kurt fährt erschrocken hoch. Er sieht die roten Flecken in Elkes Gesicht, sie ist aufgeregt und zittert. Er nimmt ihre Hand und sieht, dass sich auch auf ihr Flecken befinden ist. Dann sagt er: „Tut mir Leid, Liebes. Du, du hast natürlich recht, die haben das im Fernsehen gesagt. Die schiessen an der Grenze auf Flüchtlinge, ich erinnere mich jetzt, dass sie das gesagt haben. Die haben das gesagt im Fernsehen.“
Elke nickt jetzt und dann lächelt sie und schaut wieder freundlich so wie vorher. Die beiden essen weiter und hören dabei dem Fernseher zu, der noch immer läuft.
„Das war gut, echt. Dein Rezept ist gut. Danke Elke“, sagt Kurt und schiebt den Teller etwas von sich weg.
„Ja, ja. Schön, dass es dir geschmeckt hat.“ Elke ist noch nicht fertig mit Essen. Kurt wartet geduldig, bis auch sie fertig ist.
„Du, Kurt? Erzähl mir von damals. Von der Mauer und von Paul. Und wie er es immer wieder versucht hat. Immer wieder und immer wieder.“ Elke lacht und Kurt sieht den Hüttenkäse, den sie in ihrem Mund hat.
„Wie kommste denn jetzt darauf?“
„Die haben gesagt, dass sie jetzt an der Grenze schiessen. Dass sie auf die Flüchtlinge schiessen an der Grenze. Da musst‘ ich an dich denken und an Paul.“
„Das ist nicht das Gleiche, Elke. Damals, das war die Mauer. Das kannst du einfach nicht vergleichen. Und der hiess nicht Paul, zum tausendsten Mal, Elke. Sein Name ist Robert.“
„Erzähl doch wie er es immer wieder versucht hat und es nie geschafft hat.“
„Na gut. Ich hatte die Nachtschicht damals. Du weisst ja, dass ich gut ohne Schlaf kann. Also haben sie immer mir die Nachtschicht aufgedonnert an der Mauer.“
„Ja, ich weiss, Kurt. Und du hattest deine schöne Uniform. Wir haben auch getanzt und du hast die Uniform angehabt. Weisst du noch?“
„Ja, das weiss ich noch, Elke. Natürlich weiss ich das noch. Aber lass mich doch weiter erzählen. Also, in irgendeiner Nacht schreit so ein Typ auf der anderen Seite der Grenze. So, als wär der verletzt. Und ich geh zu ihm hin, denn er hat laut geschrien und ich war der einzige an dieser Stelle. Und ja, ich war dumm und neugierig. Und das war dann eben Robert, der so geschrien hat. Er war nicht verletzt, wollte bloss, dass ich rüber komm.“
„Erzähl das mit dem Hund, Kurt“, sagt Elke und ihr fällt der Hüttenkäse vom Löffel auf den Tisch.
„Ja, Elke, ich komm da gleich drauf … Auf jeden Fall war das der Robert, er war Schuster oder so, ich kann mich nicht mehr erinnern. Aus Warschau glaube ich. Aber der konnte einigermassen ‘n anständiges deutsch, das muss man ihm zugutehalten.“
„Erzähl das mit dem Hund, Kurt!“
„Elke bitte, lass mich gefälligst die Geschichte erzählen, wenn du sie hören möchtest.“
„Tschuldige.“
„Also, der Robert, der wollte mich bestechen und er wollte, dass ich so tue, als würde ich nicht hinschauen. Kannste dir das vorstellen?“
„Nein“, sagt Elke und schüttelt erneut ihren Kopf.
„Ich hab die Frage nicht ernst gemeint, du musst da nicht antworten, Elke. Aber egal, der sagte immer wieder ’nur fünf Minuten“, „nur fünf Minuten’. Das würde ihm ausreichen. Sagte, er müsse den Absprung schaffen, nur den Absprung schaffen, dann hätte er’s geschafft. Er sagte, er wolle frei sein. Aber ich konnte das nicht machen. Auf keinen Fall, das sag ich dir. Wenn ich da erwischt worden wäre, dann ist es egal, ob ich dem fünf Minuten oder fünf Tage lang Zeit gebe. Stell dir das mal vor! Dann ist es aus mit mir. Die schmeissen dann mich vor die Hunde.“
„Jetzt erzähl doch endlich den Teil mit dem Hund!“
Kurt ignoriert sie und fährt fort: „Und er wollte, dass ich für ihn ein Loch in den Maschendrahtzaun schneide. Was für ein verrückter Kerl. Ich hab ihm gesagt, er solle zur Hölle gehen, aber er wollte einfach nicht hören.“
Kurt sieht, dass Elke angespannt ist. Sie hat den Löffel auf dem Tisch liegenlassen und sich nach vorne zu ihm hin gebeugt.
„Und dann ist der arme Teufel in der nächsten Nacht einfach losgerannt und er ist nicht mal bis zur Mauer gekommen. Nicht mal den ersten Zaun hat er gepackt. Einer der Wachhunde ist ihm zuvorgekommen und hat ihn erwischt. Hat ihm seine Beine zerfetzt. Ich weiss nicht, was dann aus ihm geworden ist, jemand hat ihn weggebracht, schätz‘ ich. Er war da glaube ich schon ohnmächtig. Und ja, das Ding is‘, dass der Hund dafür offiziell gewürdigt wurde, die haben dem ‘ne Medaille umgehängt und so. Weil er so schnell reagiert hat.“
Elke lacht und sagt: „Hunde sind so treue Tiere, die sind echt treu, auf die ist immer Verlass.“
Robert schaut zur Seite und sagt etwas leiser: „Manchmal denk‘ ich dran, was passiert wäre, wenn er’s gepackt hätte und über die Grenze hätte gehen können. Wenn er den Absprung geschafft hätte …“
„Ja, aber dann wäre ja der Hund nicht so ein guter Hund gewesen“, sagt Elke. Einige Sekunden vergehen, dann sagt sie: „Du Kurt, weisst du was? Die brauchen jetzt gar keine Hunde mehr. Die schiessen jetzt nämlich an der Grenze auf Flüchtlinge. Das haben die im Fernsehen gesagt, weisst du noch, Kurt?“
Kurt nickt nur, er ist müde vom Erzählen und er nimmt den Teller von Elke, der noch halb voll ist, und seinen eigenen und trägt sie in die Küche. Auf dem Weg zur Küche murmelt er: „Er wollte einfach nicht auf mich hören“, ohne sich bewusst zu sein, dass er dies laut ausspricht. Er setzt sich dann wieder an den Tisch und greift nach seiner Pfeife, um sie mit Tabak zu stopfen. So wie jeden Abend. Er schrickt hoch, als Elke in fragt: „Du, Kurt? Wieso hast du Paul eigentlich nicht durchgelassen?“
„Was? Na, weil der aus dem Osten ist und das mein Job war. Deshalb. Die im Osten sind genau so schlimm wie die Polacken, das kannst du mir glauben.“
„Aber Kurt … Das verstehe ich nicht. Der Paul, der wollte doch bloss fünf Minuten. Wieso hast du ihn denn dann nicht durchgelassen?“
„Sein Name ist Robert, verdammt noch mal!“ Kurt schlägt mit Faust auf den Tisch und sieht, wie Elke erschrickt und dann aufsteht und den Tisch verlässt. Wenigstens lächelt sie nicht mehr, denkt er jetzt, als er alleine an dem Tisch sitzt und seine Pfeife raucht. Und er stellt sich Elke vor und dass sie jetzt weint im Schlafzimmer. Er kann sie nicht weinen hören, aber er nimmt trotzdem die Fernbedienung und dreht die Lautstärke auf.