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Flecken

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08.02.2021
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Flecken

„Ich liebe dich.“

Es rauscht. Die Welt rauscht. Meine Ohren dröhnen. Die Welt rauscht und meine Augen brennen. Warum sieht meine Decke so uneben, so fleckig aus? War sie nicht gestern noch glatt und weiß? Ein kleiner Fleck, der sich ausbreitet und irgendwann werde ich meine Decke nicht wiedererkennen können. Die Verfärbung wird nach links stärker, je näher man zur Tür kommt. Sie versperrt den Weg nach draußen. Ich schaue nach rechts. Die Wand hier ist noch weiß, aber das Fenster schließt nicht richtig. Das kann ich ganz deutlich spüren, weil es sich manchmal so anfühlt, als würde sich die Kälte durch meine Kleidung hindurch in meinen Körper drängen. Auf meinen Knochen absetzen und mich nach unten drücken. Unter das Wasser – das Dunkle – die Verfärbung. Dabei mag ich den Winter doch und die eisigen Winde. Wenn die Luft beißt und man seinen eigenen Körper spürt wie niemals sonst. Aber diese unabdingliche Kälte als konstanter Begleiter… trotzdem, der Winter ist besser als der Sommer. Weil man weniger Verpflichtungen hat – niemand erwartet ein Lächeln, geschweige denn irgendeine Form von körperlicher Aktivität, wenn draußen Minusgrade herrschen. Kinderlachen im Schnee. Genug. Ich habe viel gelacht, als ich noch Schlitten gefahren bin und meine Geschwister im Draußen gejagt habe.
Letzte Woche hatte er mit mir Plätzchen backen wollen. Aber ich weiß nicht, ob wir welche gemacht haben. Dabei bestand ich drauf, dass er sich die Zeit nehmen und mit mir Weihnachten genießen würde. Immer und immer wieder. Ich plagte ihn mit Fragen. Ich bestand darauf, dass er sich Zeit nehmen würde und forderte mein vermeintliches Recht ein. Jetzt habe ich vergessen, ob ich es tatsächlich bekommen habe. Bei dem Gedanken fühle ich mich leer. Schuldig. Wie kann man sich schuldig fühlen, wenn man bekommen, wonach man sich sehnte? „Er ist zu gut zu dir“, antwortet die Stimme in meinem inneren. Sie zu ignorieren fällt mir schwerer, je fortgeschrittener der Tag ist.

„Hast du mich gehört?“

Er liegt neben mir und ist schön warm. Ich kann nicht verstehen, wie er so warm sein kann, wenn er doch von der Kälte draußen kommt. Man kann es noch an seinen Backen sehen, denn sie sind gleichbleibend rosig und weiß. Und jetzt lächelt er mich an und für einen Moment vergesse ich die Flecken an der Decke und konzentriere mich auf die kleinen dunkelblauen Punkte in seiner Iris. Er ist wunderschön mit seinen roten Lippen und den Haaren, die in die Stirn fallen, wenn er am Lesen ist. Manchmal schaue ich ihm zu, wie er redet oder kocht oder putzt und dann denke ich, wie gut ich es habe ihn in meinem Leben zu haben. Und wie selbstverständlich er in meine Welt passt. Ich will meine Hand ausstrecken und ihn berühren, seine Wärme durch die Haut in meine Knochen fließen lassen. Aber dann richtet sich mein Blick wieder nach oben und da ist dieser dunkle Fleck. Dunkelgrau auf meiner weißen Decke. Gestern war er noch nicht da, dessen bin ich mir sicher. Er macht Musik an und summt leise mit. Es klingt sehr schon, beinahe friedlich. Ich erkenne das Lied. Wir haben es früher oft gemeinsam gehört während wir uns unterhalten haben – das perfekte Hintergrundlied hat er mal gemeint. Ich versuche mich von der Musik tragen zu lassen, die Töne sollen mich leiten. Aber bald vermischen sie sich, überlappen und kommen schief an. Die Melodie geht verloren. Die Musik ist zu laut dafür. Und die Töne lassen alles andere verstummen, fordern Aufmerksamkeit. Die Welt rauscht. Sie rennt und bleibt plötzlich stehen. Ich will ihn fragen, ob er es leiser schalten könnte, aber kann nicht. Stattdessen schaue ich ihn nur an. Er sieht auf die Decke. Sie ist weiß und glatt und ich denke daran, dass sie wieder so aussieht wie gestern. Er dreht die Musik auf. Mein Kopf rauscht. Er schaut mich an, seine Augen wirken dunkelblauer als sonst und fleckiger. Ich will ihn fragen, ob der die Musik leiser schalten könnte doch ich kann nicht. Stattdessen verknotet sich mein Bauch.

„Ich liebe dich auch.“

 

Hallo @Lilli und willkommen hier.

Der Text kommt mir bekannt vor. Irgendjemand hat schon mal was Ähnliches gepostet, wo es auch um diese Flecken ging. Scheint ein brisantes Thema zu sein, das seine Wirkung nicht verfehlt. Zumindest nicht für mich.
Die Geschichte hat mir gefallen. Da steckt viel drin, das sich mir erst bei mehrmaligem Lesen erschließt. Naheliegend scheint mir, dass deine Erzählerin darunter leidet, dass ihr die Liebe abhanden gekommen ist. Es scheint zwar äußerlich alles in Ordnung zu sein, aber die weiße Decke hat Flecken, bekommt immer mehr, was für mich bedeutet, dass sie entweder nach Fehlern sucht, aber keine findet oder sich generell von seiner Aufmerksamkeit überfordert fühlt. Hört sich an, als täte er alles für sie, genau, wie sie es sich immer gewünscht hat, aber jetzt, wo keine Wünsche mehr offen bleiben, fehlt ihr was. Vielleicht ist es die Herausforderung, die fehlt und es langweilt sie, dass sie um nichts kämpfen muss.
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Es rauscht. Die Welt rauscht. Meine Ohren dröhnen. Die Welt rauscht und meine Augen brennen. Warum sieht meine Decke so uneben, so fleckig aus? War sie nicht gestern noch glatt und weiß? Ein kleiner Fleck, der sich ausbreitet und irgendwann werde ich meine Decke nicht wiedererkennen können.
Er sagt ihr, dass er sie liebt, und das ist ihre körperliche Reaktion darauf. Klingt eher, als würde sie nach einem harten Tag nach Hause kommen. Vielleicht sagt er ihr das ständig, tut viel zu viel, erdrückt sie mit seiner Liebe. Sie klingt zumindest ziemlich ausgelaugt.

Sie versperrt den Weg nach draußen. Ich schaue nach rechts. Die Wand hier ist noch weiß, aber das Fenster schließt nicht richtig. Das kann ich ganz deutlich spüren, weil es sich manchmal so anfühlt, als würde sich die Kälte durch meine Kleidung hindurch in meinen Körper drängen. Auf meinen Knochen absetzen und mich nach unten drücken.
Hier habe ich den Eindruck, sie ist schon seit Ewigkeiten in diesem Zimmer, steht vielleicht gar nicht mehr aus dem Bett auf. Vielleicht allgemeiner Winter-Blues, vielleicht aber auch eine handfeste Depression. Ob dieses Gefühl durch seine Präsenz ausgelöst wird oder nicht, bleibt offen und lässt Möglichkeiten zur Interpretation. Gefällt mir.

niemand erwartet ein Lächeln, geschweige denn irgendeine Form von körperlicher Aktivität, wenn draußen Minusgrade herrschen.
Ja, das finde ich manchmal auch sehr befreiend. Für den Mann an ihrer Seite aber vielleicht eher weniger schön. :D


Letzte Woche hatte er mit mir Plätzchen backen wollen. Aber ich weiß nicht, ob wir welche gemacht haben.
Okeeee ... Entweder sie kann oder will sich nicht mehr erinnern. Beides kein gutes Zeichen.

Dabei bestand ich drauf, dass er sich die Zeit nehmen und mit mir Weihnachten genießen würde. Immer und immer wieder. Ich plagte ihn mit Fragen. Ich bestand darauf, dass er sich Zeit nehmen würde und forderte mein vermeintliches Recht ein. Jetzt habe ich vergessen, ob ich es tatsächlich bekommen hab
Das finde ich sehr gut auf den Punkt gebracht. Sie scheint bestimmte Vorgaben im Kopf zu haben, was sie von einer Beziehung zu erwarten hat, weiß aber gar nicht, ob sie das tatsächlich will oder nur glaubt, das müsse so sein. Ein weit verbreitetes Phänomen, wie ich glaube.

„Er ist zu gut zu dir“, antwortet die Stimme in meinem inneren.
Ja genau. Aber ob sie das eigentlich will, weiß sie vermutlich selbst nicht so genau, denkt vielleicht auch, sie hätte es nicht verdient.

wie er redet oder kocht oder putzt
Der perfekte Mann, aber ...

dann richtet sich mein Blick wieder nach oben und da ist dieser dunkle Fleck.
sie scheint es nicht genießen zu können.

Die Melodie geht verloren. Die Musik ist zu laut dafür. Und die Töne lassen alles andere verstummen, fordern Aufmerksamkeit. Die Welt rauscht. Sie rennt und bleibt plötzlich stehen.
Für mich eine Metapher dafür, wie die Beziehung sie immer mehr erdrückt. Ob das tatsächlich an seinem Verhalten liegt oder sie es nur so empfindet, bleibt offen und muss auch nicht gelöst werden, wie ich finde.


Ich sehe hier die Geschichte einer verlorenen Liebe. Die Erwähnung von Winter und Sommer lässt mich vermuten, dass die Beziehung als Sommerliebe begann, eine beschwingte Leichtigkeit hatte, aber nun, in der dunklen Jahreszeit, ihre Schatten wirft. Am Schluss sagt die Erzählerin zwar, sie liebe ihn auch, aber die Geschichte dazwischen spricht eine andere Sprache.
Für mich liest es sich, als ob er sie entweder langweilt, weil er keine Herausforderung darstellt, sie vielleicht generell Angst vor Nähe hat oder eben, dass er ihr zu viel des Guten zumutet. Gerade, weil nichts Dramatisches passiert, scheint sie zu denken, sie müsse doch eigentlich zufrieden sein. Tricky thing ...

Hab ich gerne gelesen.

Viele Grüße,

Chai

 

Hallo @Lilli,

mir gefällt dein Text auch sehr gut. Besonders schön finde ich wie die Einleitung und das Ende zusammenwirken und abrunden, einfach nur schön.
Der Text ist tiefgründig und man kann viel darin entdecken, solche Kurzgeschichten finde ich immer toll. Wenn man sie einer Klasse geben würde zum analysieren und interpretieren würden bestimmt tolle Interpretationen kommen.
Ich dachte die ganze Zeit “Decke“ wäre eine Bettdecke :D . Bin mir immer noch bissl unsicher welche Decke gemeint ist, aber für die Geschichte spielt es eigentlich keine Rolle, sie funktioniert.

Ich will ihn fragen, ob der die Musik leiser schalten könnte doch ich kann nicht.
er?

Dabei bestand ich drauf, dass er sich die Zeit nehmen und mit mir Weihnachten genießen würde. Immer und immer wieder. Ich plagte ihn mit Fragen. Ich bestand darauf, dass er sich Zeit nehmen würde und forderte mein vermeintliches Recht ein.
Für mich passt diese Wiederholung nicht und weiß nicht ob sie Absicht ist, vielleicht kann man da noch etwas dran ändern? Nur meine Meinung

Gerne gelesen! - Danke dafür!

Viele Grüße,
Max

 

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