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Flattern im Dunkeln
Beide sitzen wir im selben Raum. Er ist hell, die Wände sind schneeweiss und von Licht beschienen. Dabei gibt es keine Fenster. Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte vor und drehe mich zu ihm. Seine Augen glänzen im Licht. Er hat meerblaue Augen, die je nach Wetter das Tor zu seiner Seele öffnen oder verschliessen. Vor einer Woche, als ein Regenschauer seinen Weg in unser Dorf fand, kam die Eisenmauer zum Vorschein. Ich hatte keine Chance, etwas zu erkennen. Der blaue Himmel in den Tagen danach brachte eine Weide in seinen Augen zum blühen. Ich wusste ihn in Sicherheit.
Er sitzt noch, sein Blick verfolgt etwas auf dem Boden. Wahrscheinlich nimmt er die Gegenwart gerade anders wahr als ich. Sein zuckender Blick ist vermutlich nur das Resultat verknüpfter Hirnfelder, in die er seine Gedanken ablädt. Steh auf. Den Kopf hebend atmet er tief aus. Er sieht nicht wütend aus, seine Mimik wirkt neutral, aber seine Augen sind ein wenig feuchter als gewohnt. Sieh mich an.
Je näher er kommt, desto besser sehe ich sein Gesicht. Es liegt mir fern, seine vertieften Falten zu interpretieren, das würde unnötig Zeit vergeuden. Als er mir zu nah kommt, drehe ich meinen Kopf weg. Zwischen uns liegen noch gut zwei Schritte; auch er wird mein Gesicht immer besser erkennen können. Das möchte ich nicht. Die Wand hinter mir ist beige. Der Name dieser Farbe auf meiner Zunge hilft mir zu merken, wie viel Zeit seit meinem letzten Gedanken vergangen war. Bestimmt drehe ich meinen Kopf zurück und sehe ihn – hell beschienen vom Licht – die Wand hinter ihm beige. Ich weine nicht. Viel zu viel Zeit ginge verloren. In einer fliessenden Bewegung wandern meine Hände nach vorne, bis meine Arme voll ausgestreckt sind. Meine Handflächen sind offen und zeigen nach oben.
Seine Haut ist warm, ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus. Ich weiss, dass er mich liebt und ich weiss, wie sehr. Ich wünschte, ich könnte die Schmetterlinge aus meinem Bauch befreien. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich das nicht kann; sie würden alle sterben. Es gibt in diesem Raum keinen nahrhaften Boden, auf dem Blumen für sie wachsen könnten. Auch das Licht scheint zu dämmern, so könnte man die hübschen Dinger nicht mehr lange sehen – höchstens noch das Flattern ihrer Flügel hören, bis ihre Stunde käme. Ich blicke direkt auf seinen Brustkorb, der sich mit jedem Atemzug hebt. Sein Schlüsselbein zeichnet einen Abdruck auf seinem Shirt. Ich finde, er hat ein schönes Schlüsselbein. Seine Schultern sind viel breiter als meine, sie haben während einer schwierigen Zeit ihre Dienste geleistet und meinen Kopf gehalten.
Mein Blick streif sein Kinn. Es lässt mich daran denken, wie ich ihm, als er krank war, die Spuren seiner Milch weggewischt habe. Ich lächle. Bei jedem Gedanken fühle ich mich sehr bei mir. Ich kann sehen, dass auch er bei sich ist. Das ist ein schöner Moment. Wann hat es das zuletzt gegeben? Einen Moment der Reinheit, ohne Masken und Waffen, keine Schleier oder Eisenmauern, welche die Wahrheit verdecken oder bekämpfen könnten. Ich erinnere mich daran, wie ich vor vielen Jahren höchstens fünf Sekunden lang in seine Augen sehen konnte, bevor mir meine Verlegenheit einen Schlussstrich zog. Nun verweile ich seit einer Ewigkeit in den Tiefen seiner Pupillen. Auch wenn ich so viel über diesen Menschen weiss, dort wo ich gerade hinblicke liegen Geheimnisse, die – ich weiss nicht, ob zum Glück oder zum Unglück – unzugänglich geworden sind. Wir schweigen, wir haben uns nichts zu sagen, was Worte beschreiben könnten. Wir waren noch nie abhängig von Worten. Sie beanspruchen Zeit, während der man sich mit Gefühlen viel umfangreicher austauschen kann.
Die Wände sind schwarz geworden. Das helle Licht beleuchtet uns wie eine Kugel. Wir stehen in der Mitte, rundherum kann man nichts mehr erkennen. Ob er krank sei, fragt er mich. Geduldig ziehe ich seinen Körper näher an meinen und vergrabe mein Gesicht in seiner Brust. So verweile ich einen Augenblick. Ich lasse seine Hände los, ich brauche meine für seinen Kopf. Mit geschlossenen Augen nehme ich ihn in die Hand und drücke ihm einen Kuss auf. Als ich die Augen öffne, ist es dunkel. Das einzige, was ich sehen kann, ist ein Lichtfleck auf Höhe meines Herzens. Mir wird warm.