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Flammentanz
Es war später Nachmittag und das junge Mädchen kämmte aufgeregt sein langes seidenschwarzes Haar, welches locker über seine Schulter hing und sich in seinem jungfräulichen Schoß sammelte. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine zarten feuerrot geschminkten Lippen. Rosig glänzten seine Wangen, während der schwarze Kajal die großen, dunklen Augen betonte. Seine bronzefarbene Haut schien zu glänzen und hob seine Jugendlichkeit hervor.
Heute war ihr großer Tag. In ihrer Kultur wurde jedes Mädchen an ihrem sechzehnten Geburtstag für volljährig erklärt, weshalb man ein pompöses Fest feierte, bei dem die Schönheit des Mädchens präsentiert, begutachtet und gelobt wurde, das gleichzeitig aber auch als Hochzeitszeremoniell galt. An diesem Tag verließ das Mädchen das Haus ihrer Eltern und zog mit dem Mann zusammen, den die Eltern für sie ausgesucht hatten. In den meisten Fällen wussten die Töchter nicht, wen die Eltern ausgesucht hatten, doch da sich in diesem kleinen Stamm alle kannten und die Eltern auch wussten, wer sich für wen interessierte, gab es in dieser Hinsicht meistens keine Überraschungen. Bei ihr war das jedoch anders. Als älteste Tochter des Häuptlings war sie dazu auserkoren, den Sohn eines bisher feindlichen Stammes zu heiraten, um Frieden zu schließen und um das Überleben aller zu erhöhen. Das Mädchen kannte ihren Bräutigam nicht, wusste nur, dass er im gleichen Alter war wie sie. Doch das war es nicht, worauf es seine ganze Aufmerksamkeit lenkte. Am heutigen Tage würde es einen Tanz zu Ehren ihrer Eltern, ihrer Ahnen, ihres zukünftigen Gatten und vor allem für ihre persönliche Schutzgöttin Per’antiatu aufführen. Es hoffte inständig, dass dieser Tanz alle mit Stolz erfüllen würde, dessen Schritte sie sich selbst ausgedacht hatte. Zumal es noch eine Person gab, für die es ihn tanzen würde. Als sie als kleines Mädchen sich einst aus dem Stamm geschlichen hatte, wäre sie beinahe im nahegelegenen Fluss ertrunken, wäre da nicht dieser unbekannte Junge aufgetaucht, der sie herausgeholt hatte. Sie hatte sich in einem leichten Delirium befunden, weshalb sie nicht direkt nach Hause gehen konnte. Er war die ganze Zeit bei ihr geblieben, das hatte sie gespürt, doch sobald es ihr gut genug ging, um heimzukehren, war er spurlos verschwunden. Sie hatte ihn nie wieder gesehen noch hatte sie sich bei ihm bedanken können, weshalb sie ihn bei diesem Tanz auch ehren wollte. Ihn, der für sie wie ein Gesandter Per’antiatus war.
„Hey, Tiu’nalini“, riss ihre kleine Schwester sie aus ihren Gedanken, als sie das kleine Zelt betrat, in dem sie sich für heute Abend vorbereitete.
„Was ist, Pâi‘latu?“, fragte sie, während sie weiterhin ihr samtenes Haar kämmte, welches ihre Blöße bedeckte. Ihre kleine Schwester, die sie mit ihrem wilden Temperament und ihrer Unbändigkeit an ihr jüngeres Selbst erinnerte ihr jetzt aber kaum ähnlich war, sah sie freudestrahlend an und hielt Tiu‘nalini ihr Festgewand hin.
„Ich bringe dir deine Kleidung“, flötete sie liebreizend und legte ihr den weichen, leichten, feuerroten, mit Gold durchwirkten Stoff auf den kleinen Schemel vor Tiu’nalinis Füßen. „Den Schmuck möchte dir Mamâ später persönlich vorbeibringen, nachdem du bei Per’antiatu gewesen bist. Sie sagt, du sollst ihr Blumen mitbringen. Sobald du fertig bist, wird Mamâ dir deine Zeichnung schenken.“
„Ich werde gleich gehen. Möchtest du mein Haar flechten?“ Mit einem kurzen Lachen kam Pâi’latu zu ihr herüber, teilte das Haar ihrer großen Schwester geschickt und flink in mehrere Strähnen und begann sie zu flechten, bevor sie sie eindrehte und mit einer goldenen Nadel, an deren Ende eine ebenfalls goldene, filigran gearbeitete Blume zur Verzierung angebracht worden war, fixierte.
„Möchtest du wissen, wie er aussieht, Ânaûé? “, fragte sie zaghaft und sah sie zurückhaltend von unten aus großen dunklen Augen an. Ihre dunkelbraune Haut ruhte auf Tiu’nalinis nackter Schulter.
„Nein“, antwortete die große Schwester sanft und schüttelte ihren Kopf. Sie drehte sich zu ihrer kleinen Schwester um und lächelte sie freundlich und selbstbewusst an. „Ich werde Per’antiatu jetzt um ihren Segen bitten gehen. Sag du bitte Mamâ, dass sie sich bereithalten soll.“ Dann gab sie ihrer kleinen Schwester einen Kuss auf die Stirn, bevor sie sich erhob und nackt das Zelt verließ, welches sich einsam im Dickicht des Urwaldes befand, und folgte einem dem bloßen Auge unsichtbaren Pfad tiefer ins Gestrüpp.
Blätter verschiedener Pflanzen, von unterschiedlichen Größen und Grüntönen, glitten über die nackte Haut ihres ganzen Körpers und benetzten sie mit Wasser, welches sie noch vom Regen der letzten Nacht auf sich trugen. Die Bäume waren riesig und stark, trotz ihrer schmalen Stämme, umwuchert von Rankenpflanzen, die ihnen zum Firmament folgten. Hoch oben im Geäst sprangen Affen in den Bäumen und tobten wild umher. Hin und wieder blitzte auch das bunte Gefieder der Vögel hervor, deren lieblicher Gesang den Urwald erfüllte. In Gedanken versunken stimmte sie mit ein. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die sich durch das dichte Blätterdach kämpfen konnten, verliehen ihrem heißgeliebten Urwald eine träumerisch-verliebte Atmosphäre. Staunend besah sich Tiu’nalini die verschiedenfarbigen und unterschiedlich großen Blüten aller möglichen exotischen Pflanzen, die entweder einzeln anzutreffen waren oder in Gesellschaft vieler anderer. Der betörende Duft begeisterte nicht nur Tiu’nalini, sondern auch Unmengen an surrenden, schwirrenden und zirpenden Insekten und kleinen Vögeln, die sich auf den Blüten niederließen um an den Nektar zu gelangen. Erfreut lauschte Tiu’nalini der Melodie des Urwaldes, während sie sich auf dem Weg zu ihrer Schutzgöttin befand.
Nach etwa zehn Minuten entspannten Gehens erreichte sie eine kleine Lichtung, auf der ein kleiner, steinerner Altar stand, der ihre Schutzgöttin zeigte, wie sie eine Stele hielt, aus der kristallklares Wasser in ein kleines natürliches Bassin floss. Am unteren Ende sickerte das Wasser wieder heraus und suchte sich seinen Weg durch das unergründliche Grün des Urwaldes, der Boden matschig durch die stete Feuchtigkeit. Ein breiter Sonnenstrahl erhellte gerade diesen Altar, weshalb das umgebende Dickicht dunkler erschien, als es tatsächlich war. Das Wasser glitzerte und erweckte den Eindruck, als würde auch die Luft schimmern und eine Elfe würde jeden Moment auftauchen. Oder die Göttin höchstpersönlich. Eine friedliche Stille umgab diesen heiligen Ort.
„Kehre um, Va’nau’îla , Mein Kind“, sprach eine Tiu’nalini bekannte weibliche Stimme durch das leise Wispern des unerwartet aufkommenden Windes zu ihr. „Der Tanz, den du Mir zu Ehren aufführst, genügt als >Gabe<. Míma kannst du erzählen, du hättest Mir eine Blume dargebracht. Sage ihr, sie solle dich reich zeichnen. Per’antiatu erwartet etwas Besonderes.“
Mit der Stimme verschwand auch der Wind und erst jetzt bemerkte sie die drückende Schwüle, die ihr so vertraut war. Tiu’nalini verbeugte sich ehrfürchtig vor ihrer Schutzgöttin und küsste den feuchten Boden, bevor sie umkehrte.
Ihre Mutter und Schwester sahen sie fragend an, als sie so früh schon zurückkam. Als ihre Mutter sie schimpfen und wieder fortschicken wollte, fing Tiu’nalini an zu Lächeln und sprach: „Die großartige und liebenswürdige Per’antiatu erwartet eine besondere, reiche Zeichnung von dir, liebste Mamâ.“
Überrascht zog die Mutter eine Augenbraue hoch, deutete ihr dann an, sie solle das Zelt betreten, was sie auch wortlos tat.
„Per’antiatu ist sehr großzügig mit dir, Va’nau’îla, ich hoffe, du weißt dies zu schätzen. Pâi’latu, nimm dir ein Beispiel daran!“ Die Geschwister lachten kurz auf, wohl wissend, dass es für Pâi’latu zu früh war, um ernsthaft zu werden, eingedenk dessen, dass sie gerade einmal sieben Jahre alt war. Tiu’nalini stellte sich mittig in das kleine Zelt, während ihre Schwester die Kleidung vom Schemel aufhob, bevor sie sich von ihr das rote, mit Gold durchwirkte Bustier und den flatternden fessellangen Rock in den gleichen Farben mit Schlitzen auf beiden Seiten anziehen ließ. Währenddessen legte ihre Mutter ihr goldene Armreifen, Hals- und Fußketten an, bevor sie ihr goldene Ohrringe reichte, die Tiu’nalini sich selbst anlegte. Derweil schmückte ihre Mutter ihr schwarzes Haar mit goldenen Blüten und löste ein paar der Strähnen aus der geflochtenen Hochsteckfrisur, die dann in sanften Wellen ihren Rücken hinabfielen und bis zu ihrer Hüfte reichten. Dann übergab Pâi’latu ihrer Mutter ein kleines Schälchen, welches mit lilafarbenen Henna gefüllt war. Sie tauchte ihren Zeigefinger ein und begann, den Körper ihrer ältesten Tochter an Bauch, Brust, Armen und Beinen mit floral-arabesken Mustern zu verzieren. Kaum war sie fertig, betrachtete sie ihr ältestes Kind schweigend. Ihr Blick war voller Stolz, genau wie Pâi’latus.
„Wir werden vorgehen, Va’nau’îla“, flüsterte sie schließlich leise. „Folge in gewissem Abstand. Páivâ wird dich erwarten.“
Dann zupften beide ihre rein weißen Gewänder zurecht, die sie wie alle anderen aus ihrem Stamm heute trugen, damit Tiu’nalinis Schönheit besser zur Geltung kommen konnte. Auch ihre Haare waren schmucklos und keine Zeichnung zierte die gebräunte Haut. Dies stand heute nur der Braut zu. Die Mutter nahm die Hand ihrer jüngsten Tochter und verließ das Zelt in Richtung des Stammes. Tiu’nalini sah ihnen nach und war sich sicher, dass sie ihnen gerecht werden würde. Doch wie stand es um ihren Bräutigam, über den sie nichts wusste? Sie hatte sich dazu entschieden, diesen Schritt zum Wohle ihres Stammes durchzuziehen, doch war es auch das Richtige für sie?
Ihre aufkeimenden Zweifel beiseiteschiebend beschritt sie nun denselben Weg, den kurz zuvor ihre Mutter und ihre Schwester gewandelt waren und folgte ihren Fußstapfen. Sie hörte kaum das Rauschen des Windes, das Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten oder das Klirren der goldenen Armreifen und Fußketten, die man ihr angelegt hatte. Je näher sie ihrem Zuhause kam, desto konzentrierter und ruhiger wurde sie, während sie jeden Schritt ihres Tanzes noch einmal im Kopf durchging.
„Es wird alles funktionieren, Va’nau’îla, Mein Kind. Ich habe ein Auge auf dich. Sieh, dein Páivâ ist hier. Genieße den Tag, den Ich dir schenke.“
Tiu’nalini lächelte süß und dankte ihrer Schutzgöttin, als sie auch schon ihren Vater erblickte. Sie spürte, wie er sie aufmerksam musterte und spürte seinen Stolz und seine Zufriedenheit.
„Niemand wird dir widerstehen können, Va’nau’îla, selbst dein zukünftiger Mann nicht. Auch seine Brust wird vor Stolz anschwellen, so wie die meine.“
Er streckte seine Hand aus und Tiu’nalini ergriff sie. Sein muskulöser Kör-per strotze vor Kraft und auch er war nur mit einem rein weißen Lendenschurz bekleidet, den heute alle Männer trugen. Kein Schmuck, keine Zeichnung, obwohl er der Häuptling war. Seine Präsenz reichte aus, um seine Stellung zu verdeutlichen.
„Sie haben sich unserem Brauch angepasst“, begann er unerwartet und seine Tochter horchte auf. „Dennoch wirst du ihnen erst deinen Dank bezeugen müssen, bevor du tanzt. Der Name des Mba‘laindâ ist Patta’hala, der des jungen Páivâ Nas’kagil. Und jetzt lass uns gehen, man erwartet dich bereits.“
An der Seite ihres Vaters betrat sie die große Lichtung, in der ihr Stamm seine Zelte aufgeschlagen hatte und in deren Mitte sich alle versammelt hatten. Gespannt hatte Jung und Alt die Ankunft der Stammestochter erwartet. Als die Beiden den Kreis ihrer Freunde und zukünftiger Verbündeter betraten, herrschte staunendes Schweigen, gemischt mit Ehrfurcht. Auch ohne Schmuck und schönem Gewand zählte Tiu’nalini zu den schönsten Mädchen des Stammes, nun aber glaubten alle, eine leibhaftige Göttin vor sich zu sehen. Sie wurde von allen gelobt, als ihr Vater sie innerhalb des Kreises an allen vorbeiführte. Vor einem ihr fremden, starken Mann blieb ihr Vater stehen. Neben ihm war ein Junge in ihrem Alter, der ihr merkwürdig bekannt vorkam, doch schenkte Tiu’nalini dem keine Aufmerksamkeit. Sie machte einen leichten Knicks als Ehrerbietung des Mba’lainda.
„Tiu’nalini, Kind des Tiânu’pau, heute ist ein wichtiger Tag. Dein Tag. Aber auch der Beginn einer neuen Ära. Deine Schönheit ist selten und rechtfertigt die Gunstbezeigungen der Göttin sowie vieler junger Páivâ in Eurem Stamm, weshalb es mir eine große Ehre ist, dich als Gattin meines Sohnes zu wissen. Mit diesem Tanz und eurer Vermählung vereinen sich unsere Stämme, um einer besseren Zukunft entgegenblicken zu können.“ Tiu’nalini verbeugte sich erneut. Sie mochte die Kälte in seiner Stimme und die Kritik in seinen Augen nicht.
„Ich danke für die Worte, die mir nicht gebühren und akzeptiere ihre Großmütigkeit.“ Diese Worte hatte sie schon von den anderen Mädchen gehört, die ihre Hochzeit gefeiert hatten und eine Floskel an das Oberhaupt des Stammes waren. Es fühlte sich fremd an, diese Worte nicht an ihren Vater zu richten.
Ein langgezogener Schrei ertönte aus dem Urwald, sodass alle aufblickten. Die Dunkelheit war herangebrochen. Ein jugendliches, amüsiertes Lachen ertönte und Tiu’nalini sah Nas’kagil an. Das Gefühl der Vertrautheit war wieder da, doch sie konnte sich nicht erklären, warum. Er war schlank, hochgewachsen, muskulös, besaß eine gebräunte Haut zu schwarzem, kurzen Haar und nachtschwarzen Augen.
„Unsere Göttin Per’antiatu ist ungeduldig.“ Eine männliche Stimme, die fern von Hochmut war, eine wilde Seite jedoch nicht verbergen konnte. „Vater, es ist Zeit zu beginnen. Einer Göttin widerspricht man nicht.“
„So sei es.“ Ein Nicken zu seinem Sohn begleitete diese Worte und ein unerwartetes und sanftes Lächeln umspielte die Lippen des starken Kriegers.
Die beiden Stammesoberhäupter und Nas’kagil reihten sich in den Kreis ein und einzig Tiu’nalini blieb in der Mitte zurück. Dann gesellten sich vier Stammesangehörige zu ihr, die Trommeln bei sich hatten und sich hinter sie setzten. Pâi’latu platzierte derweil sechs brennende Fackeln um ihre Schwester, die lange Schatten warfen und wild um Tiu’nalini wirbelten. Die Luft surrte, füllte sich mit Spannung und schweigen. Kein Vogel zwitscherte, kein Wind wehte, alle Augen waren auf sie gerichtet. Einzig das Knistern des Feuers war zu hören.
Plötzlich, unerwartet und ohne ersichtliches Zeichen, fingen die Stammes-angehörigen hinter ihr an zu trommeln. Der Rhythmus des Urwaldes, rau, wild, temperamentvoll, wechselhaft, geheimnisvoll. So, wie es Per’antiatu gefällt. Gleichzeitig hatte Tiu’nalini ihren Tanz inmitten der Flammen begonnen. Ihre Armreifen klirrten nach ihren Bewegungen, ihre bronzefarbene Haut spielte mit dem Licht, welches die Fackeln auf sie warfen und sie noch geschmeidiger Aussehen ließen. Grazile Bewegungen voller Kraft und Eleganz im Takt zu der Wildheit des Trommelspiels ließen die Zuschauer erstarren und wie gespannt zusehen.
Ihr weiblicher Körper schien selbst zu einer Flamme zu werden, was durch das Rot-Gold ihrer Kleidung und den wild umherflatternden Rock nur an Dynamik und Echtheit zunahm. Sie drehte sich schneller, ließ ihre Armreifen und Beinketten immer häufiger und lauter erklingen. Sie kreiste um sich, lief auf den Stamm zu, wich zurück, zu den Seiten, näherte sich dem Boden oder sprang in die Luft, klatschte einen wilden Rhythmus mit ihren Händen, völlig anders als der Trommelklang oder stampfte mit ihren Füßen auf den Boden. Ihre Strähnen flogen durch die Luft und umkreisten sie. Die Nadel löste sich aus ihrem Haar, sodass nun alles um sie herumschwebte, sich an ihren Körper schmiegte und mit ihr zu tanzen versuchte. Die Flammen der Fackeln neigten sich ihr zu, als wollte sie mehr von diesem wilden, schnellen Tanz sehen, der sich ihnen bot. Schweiß rann ihr in Strömen den Körper hinab und ließen sie im Schein des Feuers glitzern, doch ihre Bewegungen blieben geschmeidig, präzise und verloren nichts von ihrer anfänglichen Geschwindigkeit. Im Gegenteil, die Trance, in der sie sich befand, ließ sie noch schneller werden, doch von all dem merkte sie nichts.
Ihre Stammesangehörigen konnten sich nicht mehr halten und begannen ebenfalls zu tanzen. Während sich alle im grotesken Schattenspiel der Flammen bewegten und mit der Hitze der Darbietung verschmolzen, bemerkte niemand wie die Zeit verging. Erst als die Fackeln abgebrannt waren und es tiefste Nacht war, verstummten die Trommeln und endete Tiu’nalinis Tanz. Erschöpft, verschwitzt aber zufrieden stand sie da, den Kopf im Nacken, die Arme erhoben und den klaren Sternenhimmel betrachtend. Eine leichte Brise kam auf und kühlte die erhitzten Gemüter des Stammes, allen voran der Tänzerin. Die Hitze des Tages war der Kühle der Nacht gewichen. Glückseligkeit machte sich breit, denn so einen beeindruckenden Flammentanz hatte keiner bisher gesehen.
Der Mba’lainda, ihr Vater und ihr Gatte lösten sich aus der Menge und traten ihr entgegen. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften und atmete tief ein und aus und versuchte, ihren Kreislauf zu beruhigen.
„Ich begrüße dich, deine Familie und deinen Stamm als Mitglied meiner Familie und schwöre beim Namen meiner Ahnen und meiner Kinder und Kindeskinder, dass auch euch mein Schutz gebührt. Ihr seid Kinder Per’antiatus, es ist ihr Wille, ihr Wille geschehe.“ Dann trat er näher heran und umarmte Tiu’nalini, was sie überraschte. Dabei war er unerwartet rücksichtsvoll. Er ließ von ihr ab und ihr Vater trat an sie heran.
„Va’nau’îla, das hast du sehr gut gemacht. Jetzt bist du Teil der Familie deines Gatten, seines Stammes, doch auch uns wirst du nie verlieren. Familienbande und Stammesbande überdauern die Zeit. Geh mit dem Segen deiner Schutzgöttin und vermehre deine Bande.“ Er küsste seine Tochter auf die Stirn, dann wandte er sich an Nas’kagil: „Ich vertraue dir mein Fleisch und Blut an und fordere dich auf, auf sie Acht zu geben und verspreche, über euch zu wachen.“ Gemäß dem Brauch umarmte er nun seinen Schwiegersohn.
„Beim Leben meiner Ahnen, meiner Kinder und Kindeskinder schwöre ich, alle meine Bande stets mit meinem Leben zu schützen.“
Bisher hatte Tiu’nalini diese Worte immer nur als leere Floskel aufgefasst, doch der aufrichtige, stolze Blick in Nas’kagils Augen ließ sie glauben, dass da mehr dahintersteckte.
„Nun ist es Zeit, dass sich das Brautpaar verabschiedet für diese Nacht. Führ ihn zum Zelt im Wald, Va’nau’îla. Ich werde meiner neuen Familie Gesellschaft leisten.“
Tiu’nalini nickte und lächelte müde. Nas’kagil ergriff ihre Hand, nickte den beiden Kriegern dankend zu und zog sie mit sich in den Wald.
„Ich weiß, du bist erschöpft, aber lass uns zu Per’antiatu gehen“, sagte er und grinste breit. „Ich werde ihr danken, dass sie dich mir gegeben hat, aber für dich bin ich auch die einzig richtige Wahl. Von euch kann wohl keiner schwimmen, oder? Sonst wärst du damals nicht in diese prekäre Lage geraten.“
Sie folgte ihm wortlos durch die Dunkelheit, ihre Hand in seiner, und dachte über das eben gesagte nach. Doch sie war zu müde von der Anstrengung. Eigentlich wollte sie nur noch schlafen, sie fühlte sich, als wäre sie in einem Delirium. Fast so, wie an jenem Tag... Sie stutzte und blieb abrupt stehen. Auch Nas’kagil hielt an und wandte sich ihr zu. Er lachte, als er in ihr vor Staunen erstarrtes Gesicht sah.
„... Per... Per’antiatus Gesandter?!“
Er lachte auf. „Ja, so etwas hast du damals auch zu mir gesagt, aber mein Name ist Nas’kagil. Lass uns zu ihr beten und dann schlafen gehen. Alles Weitere besprechen wir ab morgen früh.“
Vor Erschöpfung gaben Tiu’nalinis Beine nach und sie sank auf den Boden. Sie starrte ihn wort- und fassungslos an. Nas’kagil lächelte still und hob sie hoch. In seinen Armen trug er sie durch den dunklen Urwald zum Altar ihrer beiden Schutzgöttin, ihrer gemeinsamen Zukunft entgegen.
Mamâ = Höfliche Anrede für die eigene Mutter
Ânaûé = Höfliche Anrede für die eigene ältere Schwester
Va'nau'îla = Bedeutet „mein Kind“
Míma = Höfliche Bezeichnung für die Mutter einer/eines anderen
Páivâ = Bezeichnung für alle volljährigen Männer / bedeutet >ehrenhafter Krieger<
Mba'lainda = Bezeichnung für das Stammesoberhaupt