Flammenlicht und Dunkelheit
Es ist eine düstere Novembernacht und ich höre das alte Haus ächzen und knarren. Mein Hund hat schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gibt. Kurz vor dem Einschlafen, spüre ich plötzlich, dass es ganz hell im Zimmer wird. Langsam öffne ich meine Augen und sehe einen weißen Wolf, der von einem warmen Licht umhüllt wird. Ich setze mich auf und reibe mir die Augen, aber er steht immer noch da und sieht mich mit eisblauen Augen an. Mein einjähriges Husky Mädchen Sunka, springt bellend vom Bett auf den Wolf zu und schlägt mit ihrer kleinen weißen Pfote nach ihm, die aber durch ihn hindurch gleitet, ohne dass sich die Gestalt verändert. Sunka erschrickt und kommt schnell zu mir ins Bett zurück und presst sich an mich. Ich lege schützend meinen linken Arm um sie und spüre wie ihr Herz wild klopft. Ich starre immer noch den Wolf an, aber komischerweise fühle ich keine Angst, denn der Wolf strahlt eine unheimliche Geborgenheit und Sanftmütigkeit aus. Auf einmal höre ich eine Stimme in meinem Kopf.
„Hallo Onatah.“ Ich schaue ihn völlig verwirrt an und vergrabe mein Gesicht in Sunkas flauschigem Fell und schließe meine Augen. Aber die Stimme in meinem Kopf fängt wieder an mit mir zu sprechen. „Ich bin Hotah, der weiße Wolf und wir können uns nur durch Gedankenübertragung unterhalten, genauso wie Deine Hündin mich hören kann.“ Ich hebe meinen Kopf, in dem das absolute Chaos herrscht. „Onatah, Du musst deine Gedanken sortieren, sonst kann ich Dich nicht verstehen, bitte versuch es!“, fordert mich seine Stimme auf, die anscheinend eine beruhigende Wirkung auf Sunka hat, die sich auf einmal entspannt neben meinen ausgestreckten Beinen kuschelt und ihren Kopf auf meinen Oberschenkel legt. Ich streichle über ihren Rücken und merke, dass mich der Körperkontakt zu ihr beruhigt und meine Gedanken langsam klarer werden.
„Warum nennst Du mich immer Onatah? Ich heiße Cheyenne“, höre ich mich in Gedanken sagen und schaue dabei den Wolf an.
„Den Namen Onatah, der übrigens Tochter der Erde bedeutet, hat Dir dein Urgroßvater gegeben, als Du noch ein kleines Mädchen warst, bevor er starb. Deine Ahnen sowie dein Urgroßvater stammen von den Dakotas ab und er war fest davon überzeugt, dass Du in deinem Leben viele Menschen glücklich machen wirst“, er sieht mich eindringlich an und ich runzle meine Stirn.
„Anscheinend habe ich meinen Urgroßvater schwer enttäuscht, sonst wärst Du jetzt nicht hier“, sage ich mit traurigen Gedanken zu Hotah.
„Ich bin hier, weil Du mich gerufen hast, Onatah. Ich möchte Dir wieder mehr Liebe, Hoffnung und Mitgefühl nahebringen, weil Du in letzter Zeit immer mehr an Dir selbst zweifelst“, er blickt mich mitfühlend an.
„Ich wurde so oft verletzt und habe die Menschen sowas von satt. Sie zerstörten langsam meine heile Welt, in der ich mich glücklich und sicher fühle“, meine Gedanken wechseln von Verzweiflung zu Wut. „Und deswegen habe ich mich in diese einsame alte Hütte zurückgezogen.“
„Du bemitleidest dich, trägst sehr viel Zorn in Dir und steckst voller Angst. Wenn Du nicht damit aufhörst, dann wird mein Bruder Wattan bei Dir auftauchen. Und glaub mir Onatah, das wäre nicht gut für Dich!“, höre ich seine warnende Stimme in meinem Kopf und er sieht mich streng an.
„Du hast noch einen Bruder?“, schießt mir der Gedanke durch den Kopf.
„Ja, Wattan ist ein schwarzer Wolf und wenn er dein Selbstmitleid, Hass und Angst spürt, dann wird er diese negativen Gefühle noch mehr in Dir schüren, denn nur so wird er stärker und Du noch verzweifelter“, antwortet er mit besorgten Gedanken.
„Also wenn ich das richtig verstehe, bist Du der gute Wolf und dein Bruder der böse Wolf?“
„Richtig“, er bewegt leicht seinen Kopf. „Aber mein Bruder hat auch wertvolle Qualitäten – dazu gehören Mut, Furchtlosigkeit, Willensstärke und großes intuitives Gespür. Aspekte, die Du brauchst in Zeiten, wo ich nicht weiter weiß, denn auch ich habe meine Schwächen“, er senkt seinen Blick. In meinem Kopf herrscht wieder völliges Durcheinander, es ist nicht so einfach, mich nur auf einen Gedanken zu konzentrieren.
„Onatah Du musst Dich wieder sammeln ich habe nicht viel Zeit!“, fährt seine Stimme durch meine Gedanken und er blickt mich eindringlich an. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich wieder auf Hotah.
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, frage ich in Gedanken und sehe Hotah mit Tränen in den Augen an.
„Füttere uns beide und Du musst deine Aufmerksamkeit nicht auf deinen inneren Kampf verwenden. Und wenn es keinen inneren Kampf gibt, kann man die innere Stimme, der alles wissenden Führer hören, die Dir in jeder Situation den richtigen Weg deuten. Diesen Kampf führst nicht nur Du alleine, alle Menschen tragen einen weißen und schwarzen Wolf in sich“, Hotah macht einen Schritt auf mein Bett zu und deutet mit den Kopf auf Sunka. Ich schaue auf sie hinunter, lächle und graule sie am Ohr, was sie zu einem leisen Brummen anregt, sich aber nicht vom Fleck rührt.
Hotah sieht mich voller Liebe an, es fühlt sich an, als würde er tief in meine Seele blicken.
„Sunka wird dich auf deinem weiteren Weg beschützen und Dir dabei helfen dein inneres Gleichgewicht wieder zu finden. Geh mit ihr hinaus in die Welt und öffne Dich für andere Menschen, fühle wieder Freude, Liebe und Mitgefühl“, höre ich seine hoffnungsvollen Gedanken sagen und mir läuft eine Träne die Wange hinab. „Hör endlich auf in Selbstmitleid zu versinken und steh auf!“, fordert mich Hotahs kräftige Stimme auf. Ich sehe, dass er sich langsam auflöst und plötzlich ganz verschwindet und im Zimmer war es wieder dunkel. Noch ein letztes Mal hallt seine Stimme in meinem Kopf.
„Steh auf! Tochter der Erde und kehre wieder zurück auf den Weg, den Du verlassen hast, glaub mir es lohnt sich!“
„Danke Hotah“, sage ich dieses Mal laut und lächle. Ich nehme Sunkas Kopf vorsichtig von meinem Oberschenkel und lege mich hin. Sunka blinzelt kurz und kuschelt sich ganz nah an mich. Plötzlich spüre ich, wie sich ein wohliges Gefühl in meinem ganzen Körper ausbreitet.