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Flammen der Sühne

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21.12.2011
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Flammen der Sühne

Flammen der Sühne

1​

Wenn man ihn auf der Straße sah, so dachten die Leute meistens: Mensch, was für ein Kerl! Zumindest glaubte er dies in ihren Augen lesen zu können, die so viel unterschwellige Bewunderung ausstrahlten.
Sein Name war Edward Murnau, er war groß, hatte schwarzes, kurzes Haar, Augen so grün wie Tannennadeln, und sein Gesicht war hart und versehen mit maskulinen Zügen, aber gleichzeitig auf eine obskure Weise weich.
Es schien, als könnte nichts, aber auch wirklich gar nichts diesen jungen Herren in der Blüte seines Lebens aus der Ruhe bringen. Wenn man sein charismatisches Lächeln sah oder die Art wie seine Augen einen anfunkelten, dann glaubte man, dass dieser Mensch so fest im Leben stehe, dass nichts ihn erschüttern könne.
Und genau so war es auch, bis zu jenem verhängnisvollen Morgen.

Edward ging ins Büro, wo er als Angestellter arbeitete. Er war, trotz seines jungen Alters von gerade einmal 27 Jahren, schon ein recht hohes Tier. Er hatte sich mit Fleiß und wohl auch mit Hilfe seiner hypnotischen Ausstrahlung so weit hochgearbeitet, und er war mehr als stolz darauf. Und das zeigte er auch, denn immer, wenn er das Büro betrat, zierte ein wahnsinnig breites Lächeln sein Gesicht.
Heute war es nicht so. Stattdessen sah man eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn des jungen Mannes. Er grüßte auch nicht, wie sonst, alle Anwesenden mit aufrichtiger Manierlichkeit, sondern setzte sich still, vor sich hin murmelnd, an seinen Platz, während seine schlanken Finger durchgehend mit einem Fetzen Papier spielten.
Ein Scherz, ja… das kann nur ein Scherz gewesen sein. Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste… nein, nein, sicher nicht.
Durchgehend versuchte er sich dies klar zu machen, und eigentlich gelang es ihm beinahe, aber dennoch blieb immer ein Restzweifel… Und das machte ihn erst wirklich nervös. Er war so beschäftigt damit, sich immer wieder die Frage nach der Natur dieser Kuriosität zu stellen, dass er es nicht einmal bemerkte, als sich jemand neben ihn stellte und ihn neugierig musterte.
„Eddy, was ist los mit dir? Sonst sieht man dich nie ohne ein Lächeln auf dem Gesicht.“
Edwards Mundwinkel zuckten automatisch nach oben, was wohl ein Lächeln darstellen sollte, jedoch eher wirkte wie eine bizarre Grimasse.
„Es ist… nichts“, antwortete er hastig und steckte den kleinen Fetzen Papier sofort in die Tasche seiner Anzugjacke, wobei er dachte, dass dieser sich merkwürdig rau und heiß anfühlte – eine eigenartige Idee!
Die Frau, die neben ihm stand, war dürr, trug eine große, runde Brille mit violettem Gestell, und schaute ihn durch ihre großen Eulenaugen fragend an. Der Duft von Moschus und Lavendel kroch Edward unangenehm in die Nase, als sich die Frau noch weiter über ihn beugte, die Hand musternd, in der er eben noch den Papierfetzen gehalten hatte. So wie sie aussah, gehüllt in eine Vielzahl bunter, seidiger Tücher, mit dem krausem, graublondem Haar, hatte Edward sie sich immer gut in einem kleinen verräucherten Zimmer vorstellen können, in dem sie vor einer, durch Kerzenlicht beschienen, Glaskugel saß, um leichtgläubigen Leuten mysteriöse Vorraussagungen für die Zukunft zu machen. Er hatte sie nie wirklich wahrgenommen; Er wusste, dass sie in der Hierarchie unter ihm stand (sie arbeitete als Sekretärin, glaubte er), dass die meisten Leute hier glaubten, sie sei ein wenig verrückt und… na ja, das war es auch schon. Jetzt jedoch wirkte sie bedrohlich, und zwar auf eine Art und Weise, die Edward einen Schauer über den Rücken laufen lies.
„O, ich merke doch, dass etwas ist“, sagte die Frau und schaute Edward besorgt an.
„Nein… Stella, wirklich, es ist alles gut.“
Sie sah ihn noch prüfender an, wobei Edward auffiel, dass sie ein wenig aussah wie eine Nebelkrähe mit der leicht gebogenen Nase und ihren vogelartigen Bewegungen.
„Das glaube ich dir nicht“, sagte sie plötzlich schärfer als zuvor. Edward schürzte die Lippen. Das war ja wohl die Höhe! Erstmal hatte es sie absolut nicht zu interessieren, was ihn bedrückte, und was nicht – zumal er mit dieser Person bisher nie mehr als drei oder vier Worte gewechselt hatte – und dann maßte sie sich auch noch an, ihm zu unterstellen, er lüge sie an. Nein! Das ging wirklich zu weit, und Edward überlegte, sie höflich darauf aufmerksam zu machen, dass er nun damit beginnen wolle, seiner Arbeit nachzugehen, und keinen Wert auf einen Fortgang dieser Unterhaltung legte. Doch er tat es nicht. Stattdessen erschlafften seine Mundwinkel, sodass das gekünstelte Lächeln von seinem Gesicht verschwand.
„Also?“, fragte Stelle, die Arme verschränkend, wobei sie klang wie eine Lehrerin.
„Nun“, sagte Edward und zog die eine Augenbraue hoch. Er griff in die Tasche, holte den Papierfetzen hervor und gab ihn Stelle, die ihn behutsam entgegennahm.
„Das ist alles“, bemerkte Edward. „Es ist nichts, wirklich. Da wollte sich jemand einen Scherz mit mir erlauben – nicht einmal einen originellen, möchte ich meinen. Na ja, zugegeben, es ist etwas makaber, aber es ist und bleibt nun einmal ein Scherz, und außerdem…“
„Still!“, zischte die Frau, die sich etwas von ihm entfernt hatte. Ihr Körper zitterte, und Edward bekam ohne Vorwarnung eine Gänsehaut. Sie drehte den Zettel so, dass er ihn lesen konnte, und wieder – wie schon so oft an diesem Morgen – überflogen Edwards Augen die wenigen Zeilen, die mit so graziler Schrift geschrieben worden waren. Edward, stand dort, heute ist es so weit, denn heute werde ich dich holen – mehr gab es dort nicht zu lesen. Wieso genau ihn diese albernen Worte so in Aufregung versetzten vermochte er nicht zu sagen. Es war banal! Ein Streich – von wem auch immer – um ihn ein bisschen zu ärgern. Mehr war es nicht, und doch… Edward konnte nicht genau sagen warum, doch es machte ihn rasend nervös, und es wurde immer schlimmer, je öfter er die Worte las, die in so feiner, graziler Schrift auf das Papier geschrieben worden waren. Bei dem Papier handelte es sich nebenbei um ganz gewöhnliches, das man wohl überall in jedem Laden kaufen konnte; auch die Tinte war vollkommen normale, schwarze Tinte, und doch…
„Bitte, Stella, gib es mir zurück“, sagte Edward leise und lächelte verkrampft. Zu Edwards Überraschung hatte Stella den Mund vor Entsetzen aufgerissen. Sie ließ das Papier zurück auf Edwards Tisch fallen. Sie schmiss es beinahe von sich, so als wäre es verflucht – albern!
„Edward, es… es tut mir Leid.“
„Dir braucht nichts Leid zu tun“, erwiderte Edward unwirsch.
„Ja sag, weißt du denn nicht, was das bedeutet?“
„Nein“
„Dann betrachte ich es nun als meine Aufgabe dich aufzuklären.“
„Bitte Stella, das wird nicht nötig sein. Ich…“
„O, doch! Das ist nötig. O armer, armer Mann. Ich werde dich nicht einfach so unvorbereitet deinem Schicksal überlassen. Du musst wissen, das, was du dort in den Händen hältst, ist eine Nachricht, überbracht von einem Boten aus den Untiefen des Styx. Ja, Edward, ich spreche vom Reich der Toten, der Hölle – wenn man diesen Ort so betiteln will. Ich wage kaum, es auszusprechen, aber allem Anschein nach, sind das hier die letzten Stunden auf der Erde.“
„Ach, so einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört!“, brummte Edward verärgert. „Und außerdem glaube ich nicht an den Sensemann oder an die Hölle, oder sonst etwas.“
„Den Sensemann gibt es nicht, aber andere Kräfte, die, manifestiert in unterschiedlichster Form, zwischen dem Reich der Toten und unserer Welt vermitteln. Man will dich vorbereiten Edward, glaub mir.“
Edward schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Jetzt hab’ ich aber genug“, sagte er. „So etwas wie das Leben nach dem Tod gibt es nicht…“
„O du armer, armer Mann. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber Edward… glaub’ mir, genieße deine letzten Stunden. Wegrennen kannst du nicht, denn vor dem Schicksal kann man nicht wegrennen, egal, wie schnell man ist.“
„Ja, ja, ich hab’s ja verstanden. Lass mich jetzt bitte arbeiten.“
Stelle sagte nichts mehr. Sie sah ihn noch einmal bedauernd an, drehte sich dann um und verschwand in einem Gewühl aus schleierhaften Tüchern. Der Duft von Lavendel und Moschus verschwand mit ihr, doch sie hatte etwas zurückgelassen… ein äußerst ungutes Gefühl in Edwards Bauch, das sich ausbreitete und zu einem hässlichen Tumor aus schwarzen Vorahnungen wurde.
Er stand auf und ging zum Fenster.
So ein ausgemachter Blödsinn! Niemand glaubte an solche Märchen wie das Reich der Toten, oder die Hölle – nur diese okkulte Fledermaus! Nein, er würde nicht sterben! Nicht heute und nicht morgen! Niemand würde ihn holen. Er hatte viel zu hart gearbeitet, war Ingeneuer geworden, hatte sich in diesem Kernkraftwerk etabliert… Wer hatte die eigentlich eingestellt! So eine Frechheit, so eine bodenlose Dreistigkeit, und doch…
Edward seufzte, und das erste Mal fühlte er sich hier an seinem Arbeitsplatz unsicher. Ja, ja, so ein Atomkraftwerk birgt viele Gefahren! Darüber war er sich vorher nie im Klaren gewesen… Man hörte ja immer wieder von Katastrophen. Allein das in Asien vor kurzem, wo war das noch gewesen? Er erinnerte sich nicht mehr.
Plötzlich formte sich in seinem Kopf das Bild einer gigantischen Explosion, die man noch kilometerweit sehen konnte, wie sie sich, wie ein Pils geformt, langsam in die Luft erhob. Edward sah, wie das ganze Gebäude, in dem er sich befand, zerfetzt wurde. Er, Edward, in der Mitte des Geschehens, und… Ach nein, das war zu absurd, und doch…

2

Noch eine gute Stunde quälte sich Edward weiter, an seinem Schreibtisch sitzend, während er sich die krudesten Schreckensszenarien ausmalte. Tausendmal sah er sich dahinscheiden und das auf immer unterschiedliche Art und Weise.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er verließ seinen Schreibtisch, der ihm inzwischen eher vorkam wie eine Guillotine und meldete sich bei seinem Chef ab, da er sich elend und kränklich fühle und nun nach Hause gehen wolle, was dieser, ein wenig überrascht, absegnete.
Als Edward schließlich das Gelände des Kraftwerkes verließ (er ging immer zu Fuß, da seine Wohnung nicht weit entfernt lag), begann es zu regnen. Dicke, schwarze Wolken verteilten sich am Himmel und warfen einen riesigen Schatten auf die Stadt. Sofort begann es zu tröpfeln und bald schon wurde daraus ein dichter Regen.
Edward, die Hände schützend über den Kopf gehalten, drehte sich um und begutachtete das Kraftwerk, das nun aussah wie ein Gewölbe des Grauens. Plötzlich erschien ihm das Bauwerk wie ein Tor zur Hölle, dem Edward, klug wie er war, entkommen war. Für einen kurzen Augenblick bildete er sich ein, im Gebäude eine Fratze erkennen zu können. Er sah das runde Tor, das zu einem gähnenden Schlund wurde und die großen Glasfronten der beiden Hauptgebäude, die ihn wie riesige, finstere Augen anstarrten. Die beiden Türme im Hintergrund, aus deren Schlöten dauerhaft Rauch quoll, verwandelten sich zu Hörnern.
Edward erschauerte, merkte, dass er schon fast komplett durchnässt war, und begann dann seinen Weg fortzusetzen. Er fand kurzzeitig sein Lächeln wieder und dachte: Mit mir nicht! Er glaubte sich in Sicherheit, war der festen Überzeugung, dass er dem vermeintlichen Tod – an den er ja eigentlich sowieso nicht glaubte – entkommen war.
Er war so in Gedanken, dass er die Rille im Fußweg übersah, über die er stolperte, sodass er auf den Boden fiel und der Stoff seiner teueren Anzughose riss. Er fluchte, und dann knallte es so plötzlich, dass Edwards Herz für einen kurzen Augenblick stehen blieb. Er lag noch immer auf dem Boden, das Knie mit der Hand haltend, und als er nach oben sah, erblickte er ein Stück Metall, das über ihn hinwegsegelte. Es war groß und sah aus, als wäre es aus etwas großem grob herausgerissen worden. Erst jetzt nahm Edward wahr, dass er sich plötzlich in einem Urwald aus Hosenbeinen befand. Er rappelte sich auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung, und musste dann sehen, was hier soeben passiert war. Drei Wagen waren ineinander gerast, und das musste auf sehr bizarre Weise geschehen sein, denn man konnte kaum die drei Modelle voneinander trennen. Es sah mehr aus wie ein einziger großer, brennender Organismus aus Metall. Leute schrieen, Edward hörte die Sirene und schließlich realisierte sein vor Schreck gelähmter Verstand, dass es einen Unfall gegeben hatte. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Das Stück Metall…
Edward wandte sich um, und er sah das bizarr verbogene, rauchende Stück das wohl einmal eine Autotür gewesen sein musste. Es war direkt in die Stühle der Terrasse eines Bistros gesegelt, wo es ein unheimliches Chaos angerichtet hatte.
Edward merkte, wie ihm schwindelig wurde und er musste sich vorstellen, wie ihn dieses Stück getroffen hätte, wie sein Kopf fein säuberlich von seinem Rumpf getrennt wurde, abgerissen von dem glühenden, fliegenden Stück Metall.
Das Gewirr aus Stimmen wurde lauter, und obwohl es gut möglich gewesen wäre, dass die Polizei Edward wegen des Unfalls hätte befragen wollen, verließ er die Masse an entsetzen Leuten und setzte seinen Heimweg fort.
Sein gesamter Körper zitterte. Er sah die Straße vor sich, die er entlang zu gehen hatte. Es war ein einfaches, dauerhaftes Geradeaus, und doch erschien ihm die Straße ungewöhnlich verwinkelt, und jeder Winkel und jede Nische barg plötzlich infernalische Gefahren. Mit dem brennenden Hades hinter sich und der Straße der tausend Abgründe vor sich, ging er weiter.
War das wohl seine Strafe? Ja, wenn er abergläubisch gewesen wäre, so hätte er dies wohl geglaubt, aber… Nein, nein, das war zu verrückt. Niemand wusste etwas davon. Niemand ahnte auch nur etwas davon – und an so etwas wie einen Racheengel glaubte er nicht.
Hör auf, ermahnte er sich. Lass es sein, denk nicht darüber nach.
Edward hörte ein Quietschen und sah über seinem Kopf das Reklameschild einer Versicherungsgesellschaft, das im Wind des aufkommenden Sturmes quietschte. Es wackelte bedenklich, und Edward hopste aus der Reichweite des wackelnden Reklamefallbeils, was wohl für einen Außenstehenden sehr verrückt ausgesehen haben musste. Wie Lustig, dachte er verbittert, was für eine Ironie! Ja, ja ironisch wäre das wirklich gewesen, wenn… Schluss jetzt, ermahnte er sich erneut.
Die Stimmen und die Sirenen hinter ihm schwollen zu einem grauenvollen Chor an, auf der anderen Straßenseite verkündete ein Obdachloser in Lumpen und einem Blick, den er nur von einem übermäßigen Weinbrandkonsum erhalten haben konnte, das Ende der Welt, und Edwards Herz begann wieder zu rasen.
Sein Haus, das etwas abseits der Stadt auf einem Hügel lag und sonst immer gewirkt hatte wie ein Hort der Sicherheit, schien ihn nun von oben herab gehässig anzustarren.
Edward verließ den Trubel der kleinen Stadt, die Stimmen wurden leiser und er beruhigte sich kurzzeitig. Im Vorbeigehen hörte er, wie zwei Frauen, schwarze Schirme über den Köpfen aufgespannt, sich aufgeregt darüber unterhielten, dass in der Nachbarschaft eine Katze mit zwei Köpfen geboren worden sein soll.
„Das ist ein Zeichen“, verkündete die eine unheilvoll.
„Ach hör auf…“, sagte die andere
Edward hörte weg und erschauerte erneut. Seine Finger suchten das Stückchen Papier in der Tasche seiner Anzugjacke. Es fühlte sich nicht heiß an, es war heiß! Es brannte in seiner Tasche mit kalter Flamme.
Er war nun allein auf der Straße, bis auf die Haut durchnässt mit gehetztem, panischen Ausdruck. Er drehte sich noch einmal um, sah noch immer Rauchschwaden dort, wo der Unfall passiert war und im Hintergrund seinen Arbeitsplatz. Es begann zu donnern und bald darauf spie der schwarze Himmel astralweiße Blitze aus, die aussahen wie die gezackten Reißzähne einer Bestie.
Inmitten dieses Donnergrollens hörte Edward noch etwas anderes: ein Knurren. Er spürte eine Gänsehaut im Nacken, die sich über seine Brust auf seinem ganzen Körper ausbreitete. Er wandte sich, nicht ohne schauderhafte Visionen in seinem Kopf, um, und er sah einen Hund, größer als die meisten Hunde, die er in der Nachbarschaft bisher gesehen hatte, mit schwarzem, zotteligen Fell und Augen, die vor Zorn glühten. Das verwahrloste, heruntergewirtschaftete Tier entblößte die Lefzen und knurrte aggressiv. Der keilförmige Kopf öffnete sich und eine Reihe keilförmiger Zähne wurde sichtbar. Der Hund trat einen Schritt auf Edward zu, der sich fragte, wie viele Keime, die schlimmsten Krankheiten verursachend, wohl im Schlund dieses Tieres schlummern mochten.
Edward trat einen Schritt zurück. Vor sich sah er, nur einige hundert Meter entfernt, das opulente Tor zu seinem Garten. Ein Blitz zuckte aus dem Wolkenmassiv und tauchte das bizarre Szenario in ein helles, entlarvendes Licht. Sollte das hier etwas seine Strafe sein? Sollte… Hör auf, ermahnte er sich erneut.
Er schlug einen Haken, rutschte dabei fast auf dem Asphalt aus und begann zum Tor seines Gartens zu rennen. Die Straße hatte sich, aufgrund der zunehmend heftigen Regenfälle, zu einer Art Bach gebildet. Es war schwierig, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wenn man, wie Edward jetzt, über den glitschigen Stein rannte. Hinter sich hörte er das Tier, ihn verfolgend, wie es weite Sätze machte. Er hörte das Bellen, hörte das wutentbrannte Schnauben, und Edward verfluchte diesen verdammten Tag.
Er war gerade am Tor angekommen, öffnete es schon, als er plötzlich merkte, dass ein brennender Schmerz seine freie Hand durchfuhr. Er schaute zur Quelle der Qual und sah, dass der Hund sich in seinen Handrücken verbissen hatte. Entsetzt beobachtete er, wie die gelblichen Zähne in seinem weichen Fleisch versanken wie in Butter, und er schrie, weniger wegen des Schmerzes, sondern wegen des Schocks, den dieses Bild in ihm auslöste. Er befand sich seinem persönlichen, einköpfigen Zerberus gegenüber, und wie so oft an diesem Tage, manifestierten sich grausame Bilder in seinem Kopf; Dieses Mal, wie er, mit zerfetztem Gesicht auf dem Kopfsteinpflaster lag, während sein topasfarbenes Blut in den Ministrömen der Straße schwamm.
Mit aller Gewalt riss er sich frei, was unvorstellbar schmerzhaft war (er begann sofort zu bluten), und er konnte sich durch den engen Spalt des Gartentores zwängen, sodass er es blitzschnell schloss. Nun war er von dem knurrenden, geifernden Ding getrennt, das gegen die hohen Stäbe des Tores sprang.
Edward fühlte sich wieder kurzzeitig überlegen, als er so dastand und sah, dass das Tier, trotz seiner rasenden Wut nicht eindringen konnte. Er lächelte gequält, während Blut über seine Finger rann und auf den Boden tropfte.
Ihn konnte man nicht besiegen! Nicht Edward Murnau! Selbst der krudeste Orakelspruch konnte ihn nicht bezwingen. Er wich allen Gefahren aus.
Selbstgefällig wandte er sich um, ließ das knurrende Untier zurück und ging auf seine Haustür zu. Seltsam, überlegte er, noch nie hat mich jemand gefragt, woher ich das Geld für dieses Haus hatte… Dabei hätte sich dies jeder fragen müssen, der ihn besuchte. So jung war er und doch besaß er ein Haus, das sich viele Menschen erst am Lebensabend hätten leisten können, wenn sie lange Zeit gespart hätten. Es sah durch und durch nobel aus das Gebäude. Ein weißer Bau mit vielen Fenstern, nach modernen, architektonischen Maßstäben geplant und konstruiert… Ja, ja, er wusste, was Stil hatte… und das war der Bau nur von außen! Innen war es ein Mekka der prunkvollen Noblesse, eingerichtet mit dem teuersten Mobiliar: einem Esszimmertisch aus schwarzem Marmor, italienischen Kaffeehausstühlen, und natürlich war alles auf dem neuesten Stand der Technik. Er besaß eine Heimkinoanlage, einen Whirlpool, die beste Stereoanlage, und selbstverständlich hatte er sich, was die Überwachung anging, nicht lumpen lassen. Das hatte ja auch seine Gründe… Schluss, damit, ermahnte er sich wieder. Lass es. Denk nicht darüber nach.
Nein, jetzt wollte er einen Moment entspannen. Nachdem er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, setzte er sich, ohne sich umzuziehen, in den sündhaften teuren Ohrensessel in seinem Wohnzimmer, nahm sich eine jamaikanische Zigarre mit Cognac-Aroma und rauchte diese genüsslich. Er begann wieder zaghaft zu lächeln… ja, sein charismatisches, herzerwärmendes, sein bezauberndes Lächeln – o wie wertvoll es war. Er fühlte sich so verdammt sicher hier in seinem Wohnzimmer, der bröckelnden Bastion unverdienten Komforts, geschützt durch die wackeligen Mauern seiner eigenen Eitelkeit. Er glaubte wieder, nichts, aber auch gar nichts könnte ihn, den großartigen, den hübschen Edward Murnau aus der Fassung bringen. Im Grunde waren ja, überlegte er, die Geschehnisse von heute absolut nicht ungewöhnlich. Nun gut, der Zettel – ja, der Zettel war schon eigenartig, aber ansonsten... Reflektiert betrachtet war er schlicht Zeuge eines Unfalls geworden, hatte zwei alten Hühnern beim Tratschen zuhören müssen und war – Gnade Gott dem Besitzer! – einem bissigen, abgemergelten Hund begegnet. Das war es auch schon. Er schämte sich fast ein bisschen für seine Hysterie. Ja, das war alles eine Reihe von Zufällen gewesen. Leicht beunruhigend, mehr aber auch nicht, und der Zettel (Edward kramte ihn hervor) war auch nur ein dummer, infantiler Scherz.
Er begutachtete den Fetzen Papier und erschrak, wie ordinär das Papier war – in jedem Schreibwarenladen erhältlich. Er selbst besaß, soweit er sich entsinnen konnte, solche quadratischen Zettelchen. Die Schrift jedoch… Sein Mundwinkel begann unwillkürlich nervös zu zucken, und in seinem Magen begann es unangenehm zu brennen. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, während er mit dem Zeigefinger die grazilen, schnörkeligen Buchstaben entlangfuhr.
Er kannte diese Schrift. Gut sogar. Sie war einzigartig, unverkennbar und hatte einen hohen Widererkennungswert. Ach, sagte er sich im Stillen, das ist ein Zufall… alles nur ein großer, dummer Zufall.

3​

Höchstwahrscheinlich wäre er mit diesem Ergebnis zufrieden gewesen, wenn nicht etwas geschehen wäre, was ihn mit plötzlicher Heftigkeit vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht hätte.
Er saß noch einige Zeit so dort, ungefähr bis zehn Uhr abends, sich immer wieder neue Zigarren ansteckend, während er aus dem Fenster sah und beobachtete, wie der starke Wind beinahe seine schönen Büsche entwurzelte. Es war das Klingeln des Telefons, das ihn aus seiner peinlichen Lethargie riss. Er schreckte auf, hastete, unglaublich nervös, zur Quelle der Unruhe, nahm den Hörer auf und lauschte.
„Hallo? Hallo, hören Sie mich? Ist da jemand?“, fragte eine tonlose Frauenstimme am anderen Ende.
„Ja, ja hier ist Edward Murnau“, erwiderte dieser zerstreut.
„Hören Sie, ähm…Mr. Murnau, richtig? Ja, genau, so war Ihr Name… Ich bin die Schwester von Morten Krummstet und…“
„Was ist mit ihm“, fragte Edward panisch. Er spürte einen vagen Anflug von Panik.
„Ah gut, Sie kennen ihn. Wissen Sie, ich habe sein Notizbuch gefunden, und ihr Name plus Telefonnummer und Adresse stand dort drin, und, na ja, da habe ich mir gedacht, dass ich Sie vielleicht auch informieren sollte. Sie müssen wissen, Morten ist heute Nachmittag verstorben. Ich wollte Sie anrufen, weil ich nicht sicher war, ob sie vielleicht ein guter Freund von ihm gewesen sind.“
Edward spürte, dass sein Mundwinkel heftig zu zucken begann. Seine Hände waren auf einmal schweißgebadet, und jetzt hatte er plötzlich wirklich Angst, da sich das ganze grausam-ironische Puzzle vor seinen Augen zusammensetzte.
„Was ist mit ihm passiert?“
„Nun, ich würde mal behaupten, es war ein Herzinfarkt. Sein Nachbar wurde aufmerksam, da vier Stunden über die Brause der Dusche nebenan lief, und als er gucken ging, da sah er ihn auf dem Badezimmerboden und…“
„Was und?“, fragte Edward, der heftig zitterte. Seine Stimme klang heiser.
„Es wird Ihnen wohl komisch vorkommen, dass ich Ihnen das jetzt so erzähle, aber als er ihn fand, sah Mortens Gesicht ganz seltsam aus, ganz verzerrt und irgendwie ängstlich. Fast so, als hätte er einen Geist gesehen…“
Edward stöhnte, ließ den Hörer kurz baumeln, nahm ihn dann jedoch wieder auf.
„Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das so erzählt habe, aber irgendwie hatte ich gerade das Gefühl, das sollten sie wissen…“ klang dort etwa Häme in der Stimme dieser Frau.
Edward legte auf. Mechanisch wie ein Roboter bewegte er sich zurück zu seinem Ohrensessel und ließ sich nieder. Er schaute zur Uhr. Es war halb elf. Eine und eine halbe Stunde noch.
Das war kein Zufall gewesen… Jetzt machte alles einen grausamen Sinn. Edward duckte sich in seinem Sessel. Sein Wohnzimmer kam ihm plötzlich ungemein düster vor, und in jeder Ecke meinte er eine Fratze sehen zu können, die ihn gierig anstarrte. Er sah die unheilvollsten Dämonengrimassen, hörte entsetzliche Stimmen, die nach ihm riefen. Er fühlte sich der Hölle so nahe, und ihre Tore standen sperrangelweit offen, nur für ihn. Die Häscher der Unterwelt stoben aus, um ihn zu fangen. Er spürte die Hitze der Flamme der Schuld, die ihn verbrannte, sah die Grauen des Hades, die, so schrecklich, das sie jeder Beschreibung spotten würden, nur auf ihn warteten. Das Ticken der Uhr – jeder Uhr in diesem Haus – klang so unvorstellbar laut. Die Minuten verstrichen so schnell, und mit grausamer Zähigkeit näherte sich die beiden Zeiger auf dem Ziffernblatt der Zwölf – das Zeichen, dass der Tag nun zu Ende sei.
Es klingelte. Edwards Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er erwartete niemanden. Niemand besuchte ihn um diese Zeit, so spät abends. Es gab nur eine Möglichkeit. Es mussten diejenigen sein, deren Rache er, erfüllt von nicht zu bändigender Angst, erwartete, aber nicht mit ihm! Nicht mit Edward Murnau. Er ging in den Flur und nahm den antiken Säbel von der Wand, der dort eigentlich nur als Zierde gedient hatte. Nun musste Edward ihn zur Verteidigung nutzen.
Er ging, den Säbel zum Stechen erhoben, zur Türe, hinter der sich ein grässliches Phantom verbarg. Er spürte die schwarze Präsenz von einem Etwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Er fühlte etwas Dunkles, Geiferndes, das hier war, um ihn zu holen.
Er riss die Tür auf und starrte in eine unbeschreibliche Fratze. Er schrie und stach zu. Wieder und wieder erhob er den Säbel und ließ ihn auf den Angreifer niederfahren, welcher, wohl so erschrocken vom unerwarteten Konter, nichts zu erwidern vermochte. Edward verfiel in eine richtige Rage, und als er schließlich merkte, dass sein Opfer, das inzwischen auf dem Boden lag, sich nicht mehr rührte, hörte er auf.
Mit absurdem Stolz schaute er nach unten, und in diesem Moment hörte er den grinsenden Wahnsinn an seine Tür klopfen. Da war kein Dämon oder eine sonstige Ausgeburt der Hölle… Edwards Mundwinkel zuckte nervös, und er wischte sich dunkelrotes Blut aus dem Gesicht. Er starrte auf den durch ihn entstellten Körper einer wunderschönen Brünetten, die röchelnd ihre letzten Atemzüge tat, seinen Namen leise hauchend. Bernadette… er hatte sie ganz vergessen. Er hatte sie zu sich eingeladen, gestern noch. Wie konnte er das vergessen haben.
„Ruf… ruf einen Krankenwagen, Edward… ich sterbe“, hustete die Frau, wobei ihr scharlachrotes Blut aus dem Mund floss.
Edwards Mundwinkel zuckte so heftig, dass er es nicht einmal mehr wahrnahm. Nein, er würde nicht den Krankenwagen rufen.
Er schmiss den blutverschmierten Säbel zurück in den Flur, packte das hübsche Geschöpf an den Armen und schleifte es in sein Haus. Niemand sollte davon erfahren. Von dieser kleinen Maulhure würde er sich nicht das süße Leben versauen lassen – o nein! Er würde sie entsorgen… irgendwie. Zuerst aber, wollte er sie hier liegen lassen, bis sie tot sein würde.
Er schaute auf den Körper, aus dem das Leben zu weichen begann, und Edward dachte: Ja, damit hast du kein Problem, mein hübscher, hübscher Junge. Man, du bist so kalt wie ein Eisblock. Damals hat es dich auch nicht gestört – kein bisschen.
Damals war es aber auch etwas anderes...
Warum? Weil du damals jemand anderen die Drecksarbeit hast machen lassen? Den guten, alten Morten? Verdammt, es ist und bleibt dasselbe.
Es musste sein!
Warum? Damit du jetzt dein Leben genießen kannst, wie es ist? Mit Geld wie Heu und dem Luxus, den Möbeln. War es das wert?
Edward spürte Schweiß auf seiner Stirn. Man kann der Schuld nicht davonrennen. Schuld ist unsterblich, und vor etwas Unsterblichem kann man nicht fliehen, denn es kann einen in Ewigkeit verfolgen, bis man nicht mehr laufen kann. Edward fühlte, dass diese Überlegung auf ihn zutraf. Er hatte lange versucht, sich davor zu drücken. Die Stunde seiner Buße war nahe.
Vor seinem Auge verzerrte sich der Flur. Er besaß plötzlich keine geraden Linien mehr und alle rechten Winkel schienen auf einmal flüssig, wirkten, als würden sie sich auflösen. Edward torkelte, sich immer wieder an Kommoden oder der Garderobe festhaltend, ins Wohnzimmer. Alle Konturen schienen sich aufzulösen. Es war als wäre sein Haus zu einem abstrusen Werk Dalis geworden.
Edward hörte das Pochen des Hammers des Richters. Er befand sich im Gerichtssaal. Bald schon würde man sein Urteil verkünden. Er spürte die Hitze dieser unheilvollen Nacht. Geister, nach Rache sinnend, fuhren auf die Erde. Sie waren die Zuschauer bei seiner Verhandlung. Sie würden seinem Urteilsspruch beiwohnen.
Edward stand, benommen torkelnd, vor dem riesigen Spiegel in seinem Wohnzimmer. Er hatte ihn geliebt, da er sich in dem prunkvollen Stück in seiner vollen Grazie hatte bewundern können. Nun sah er in dem Spiegel das feige Antlitz einer Ratte, die ihn, auf groteske Weise grinsend, mit den finsteren, schwarzen Knopfaugen musterte. Ja, das war er: eine Ratte. Er sah den pelzigen Hals, wie er im Kragen seines sündhaft teuren Anzugs verschwand. Nun zeigte man ihm sein wahres Gesicht, das alsbald schon begann sich aufzulösen, rasend schnell zu altern und zu verfallen, bis sich die Haut und das Fleisch von den Knochen abschälten. Er sah sein morsches Gerippe, sein Skelett, das immer noch alterte, bis es schließlich zu Staub zerfiel.
Edward brach zusammen, wobei der Papierfetzen aus seiner Anzugtasche fiel. Seine zitternde Hand griff danach, er entfaltete ihn. Ja, diese Schrift kannte er gut. Es gab kein Zweifel, dies war die Schrift seines Vaters.
Edward erhob sich wieder, die Hände gen Himmel gerichtet, den starren Blick jedoch auf den Boden fixiert, von dem er erwartete, dass er sich jeden Moment auftun würde.
„Zeigt euch, verdammt noch mal. Zeigt euch!“, knurrte Edward. „Wenn ihr mir heimzahlen wollt, was ich euch angetan habe, so zeigt euch endlich, ihr feigen Bastarde.“
Er drehte sich, schaute in jeden Winkel seines Wohnzimmers.
„Ja, das sieht euch ähnlich, Mama, Papa. Ihr seid schwach, seid ihr schon immer gewesen. Ich bin es nicht. Wisst ihr was? Es ist eure Schuld, eure eigene Schuld! Ihr wart so egoistisch… so verdammt egoistisch. Ihr hättet nicht sterben brauchen, wenn ihr mich unterstützt hättet. Ihr hättet mir die Hilfe zukommen lassen müssen, die ich verdient habe. Verdammt, wenn ihr nicht so knauserig gewesen wärt, wärt ihr noch am Leben, aber wisst ihr was? Ich spucke auf eure Grabsteine und ich werde von jetzt an jedes Jahr den Tag feiern, an dem ihr gestorben seid. Hört ihr mich? O ja, ihr hört mich. Ich fühle das Feuer in dieser Nacht. Die Pforte der Hölle hat sich geöffnet. Ich fühlte, dass ihr nach mir sucht, unablässig…“
Edward schaute zur Uhr. Es war zwei Minuten vor Zwölf. Der Tag war beinahe vorbei. Es blitzte draußen vor dem Fenster, und dort sah er nicht etwa seinen Garten im Lichte des Blitzes, sondern eine unbeschreibliche Landschaft aus Flammen und Asche. Er saß auf dem elektrischen Stuhl, sein Hals war in der Schlinge, die Guillotine bedurfte nur noch des Ruckens am Seil. Sein Grab war ausgehoben, der Sarg war gezimmert, sein Stein gemeißelt (und es stand Mörder auf ihm).
Eine Minute vor zwölf.
„Zeigt euch, ihr Bastarde!“, schrie Edward in die Hitze der Nacht.
Nur noch dreißig Sekunden.
„Gottverdammte Aasgeier. Wieso zeigt ihr euch nicht endlich?!“
Schaumiger Speichel lief über Edwards Unterlippe und tropfte auf den Boden.
Der Hammer sauste nieder.
„Wo… seid… ihr?“
Seine Augen waren wild geweitet.
Zwölf Uhr… und… es geschah nichts.
Edward entspannte sich ein wenig. Er wischte sich den Schaum vom Mund. Er schaute zur Uhr. Es war jetzt eine Minute nach zwölf. Der Tag war vorbei. Er lebte, und…
„Entschuldige unsere Verspätung“, hörte er eine vertraute und doch verzerrte Stimme sagen. Er fühlte eine kalte, glitschige Hand auf der Schulter. Ein eisiger Schauer überkam Edward, von der Stelle ausgehend, wo die schleimigen Finger seine Schulter berührten. Er vernahm Modergeruch.
„Nun sind wir da, Sohn, und wir werden dich mitnehmen...“

 

Hallo Yannic

Und Herzlich Willkommen bei kurzgeschichten.de.

Ich habe den Eindruck, du hast dir für dein Debüt zu viel vorgenommen - ich kann keine klare Linie darin erkennen, die Handlung wirkt auf mich überwiegend wirr und durcheinander.

Mal der Reihe nach:

Zunächst einmal gehört weder der Titel über deine Geschichte (so nennt sich ja schon der komplette Beitrag), noch werden Kurzgeschichten üblicherweise in Kapitel unterteilt. Einfache Absätze genügen.
Auch das Fettgedruckte sieht nicht wirklich gut aus. Betonungen werden normalerweise kursiv geschrieben.
So viel mal zum Optischen.

Bereits im ersten Absatz wechselst du zweimal die Perspektive: Erst beschreibst du den Eindruck Edwards auf andere Leute, die er auf der Strasse trifft, dann gibt es einen kurzen Einschub aus seiner eigenen Sicht (wo bspw. sein Name steht), dann wechselst du wieder zurück auf die Aussenstehnden. Ist nicht so glücklich. Auch Sätze wie dieser

und sein Gesicht war hart und versehen mit maskulinen Zügen, aber gleichzeitig auf eine obskure Weise weich.

tragen eher zur Verwirrung bei. Das Gesicht ist gleichzeitig hart und weich? Mag ja sein, aber kann man das nicht besser beschreiben? Generell glaube ich, dass die Geschichte nicht darunter leiden würde, wenn du den ersten Absatz streichen würdest, denn sämtliche Information kann man später eigentlich noch besser dem Leser vermitteln.

Er hatte sich mit Fleiß und wohl auch mit Hilfe seiner hypnotischen Ausstrahlung so weit hochgearbeitet,

Meinst du: hypnotisierende Ausstrahlung?
Es sind immer wieder so kleine Ungenauigkeiten im Text, gerade bei den Adjektiven / Adverben wäre hier weniger mehr gewesen. Wie genau kann man sich eine "hypnotische" Ausstrahlung vorstellen? Obwohl du diesen Edward sehr wortreich beschreibst, ist er für mich nicht wirklich greifbar.

zierte ein wahnsinnig breites Lächeln sein Gesicht.

Eben, weniger ist manchmal mehr: Lass am besten sowohl wahnsinnig als auch breites weg.

Stattdessen sah man eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn des jungen Mannes.

Wieder ein Perspektivwechsel.

So wie sie aussah, gehüllt in eine Vielzahl bunter, seidiger Tücher, mit dem krausem, graublondem Haar, hatte Edward sie sich immer gut in einem kleinen verräucherten Zimmer vorstellen können, in dem sie vor einer, durch Kerzenlicht beschienen, Glaskugel saß, um leichtgläubigen Leuten mysteriöse Vorraussagungen für die Zukunft zu machen.

... mit dem krausen, graublonden Haar
Der Satz ist mir zu lang, zu verschwurbelt, das kann man sicher einfacher ausdrücken. Vor allem passt auch der nächste Satz überhaupt nicht dazu:

Er hatte sie nie wirklich wahrgenommen;

denn offenbar hat Edward sie sich schon oftmals irgendwo vorgestellt. Von keiner Wahrnehmung kann dann ja keine Rede sein.

Jetzt jedoch wirkte sie bedrohlich, und zwar auf eine Art und Weise, die Edward einen Schauer über den Rücken laufen lies.

ließ
Sätze dieser Art tauchen oft in der Geschichte auf, und ich finde sie nicht glücklich: Du schreibst, sie wirkt bedrohlich. Aber was genau an ihr ist denn nun bedrohlich? Es reicht ja nicht, dem Leser zu sagen: Sie ist bedrohlich; und der Leser empfindet das genauso. Statt hier eine Wertung über ihr Äusseres / ihr Verhalten / ihre Wirkung zu geben, solltest du beschreiben, wie dein Prot. zu dieser Wertung kommt. Bislang wirkt sie auf mich jedenfalls nicht bedrohlich.

Ja, der nächste Teil ist halt auch so etwas, was man schon gefühlte tausendmal irgendwo gelesen / gesehen hat: Sie, das esoterisch-geheimnisvoll angehauchte Hutzelweibchen macht irgendwelche kruden Voraussagen:

Ich werde dich nicht einfach so unvorbereitet deinem Schicksal überlassen. Du musst wissen, das, was du dort in den Händen hältst, ist eine Nachricht, überbracht von einem Boten aus den Untiefen des Styx. Ja, Edward, ich spreche vom Reich der Toten, der Hölle – wenn man diesen Ort so betiteln will. Ich wage kaum, es auszusprechen, aber allem Anschein nach, sind das hier die letzten Stunden auf der Erde.

Und das weiss sie alles, wegen einem Dutzend Wörter, die auf einem Fetzen Papier stehen? Das wirkt auf mich wie eine Karikatur, fast schon komisch, aber hier halt leider unfreiwillig. Wo hat er den Zettel überhaupt her?

Er hatte viel zu hart gearbeitet, war Ingeneuer geworden,

Ingenieur
Ich finde übrigens die Verlagerung des Arbeitsplatzes in ein AKW sehr unglücklich. Zu Beginn des Absatzes ist es ein "Angestellter", der ins "Büro" kommt. Nun kann auch ein Ingenieur als Angestellter in einem Büro eines AKW arbeiten, aber "Angestellter" und "Büro" rufen doch andere Assoziationen wach. Also erwähne das gleich am Anfang, dass der Leser weiss, was du meinst. Und dann frage ich mich, wie diese Stella in ein AKW passt ... meiner Meinung nach vorne und hinten nicht. Sorry, aber das ist total unglaubwürdig.

Edward, die Hände schützend über den Kopf gehalten, drehte sich um und begutachtete das Kraftwerk, das nun aussah wie ein Gewölbe des Grauens.

Du haust mit deiner Wortwahl immer gleich so in die Vollen. Da wird ein Kraftwerk gleich zu einem "Gewölbe des Grauens", später ein "Tor zur Hölle". Hier wären mMn subtilere Vergleiche angebracht, die sich dann zum Ende hin steigern können. Wenn du gleich voll aufdrehst kann später ja nichts Besseres / Schlimmeres mehr kommen ;)

Er glaubte sich in Sicherheit, war der festen Überzeugung, dass er dem vermeintlichen Tod – an den er ja eigentlich sowieso nicht glaubte – entkommen war.

Er glaubt nicht an den Tod?

sodass er auf den Boden fiel und der Stoff seiner teueren Anzughose riss.

Mal die Rechtschreibkorrektur drüberlaufen lassen: teuren

Er fluchte, und dann knallte es so plötzlich, dass Edwards Herz für einen kurzen Augenblick stehen blieb.

Der berühmte "kurze Augenblick": Ein Augenblick ist immer kurz.

Leute schrieen,

schrien

Edward merkte, wie ihm schwindelig wurde und er musste sich vorstellen, wie ihn dieses Stück getroffen hätte, wie sein Kopf fein säuberlich von seinem Rumpf getrennt wurde,

Hier solltest du beim Konjunktiv II bleiben, also: ... wie sein Kopf ... getrennt worden wäre.

Wie Lustig, dachte er verbittert,

lustig

Es fühlte sich nicht heiß an, es war heiß! Es brannte in seiner Tasche mit kalter Flamme.

Das sind unglückliche Sätze, finde ich. Etwas, das heiss ist, fühlt sich auch heiss an. Und wie kann etwas mit kalter Flamme brennen?

Das verwahrloste, heruntergewirtschaftete Tier entblößte die Lefzen und knurrte aggressiv.

Heruntergewirtschaftet passt doch nicht auf einen Hund. Wie wäre es mit heruntergekommen? Aber auch hier ist mit "verwahrlost" eigentlich schon alles gesagt.

Der keilförmige Kopf öffnete sich und eine Reihe keilförmiger Zähne wurde sichtbar.

Solche direkten Wortwiederholungen solltest du versuchen zu vermeiden.

Der Hund trat einen Schritt auf Edward zu, der sich fragte, wie viele Keime, die schlimmsten Krankheiten verursachend, wohl im Schlund dieses Tieres schlummern mochten.

Denkt er an einem solchen Moment echt an Keime?

Sollte das hier etwas seine Strafe sein? Sollte… Hör auf, ermahnte er sich erneut.

Das kommt jetzt zum dritten Mal oder so, das steigert die Spannung nicht mehr, nervt eigentlich nur noch. Vor allem, weil der Leser längst weiss, dass es sich hier um seine Strafe handelt.

Es sah durch und durch nobel aus das Gebäude.

"Das Gebäude sah durch und durch nobel aus."
Die Beschreibung wirkt leider ein wenig lieblos. Der Tisch aus Marmor ist noch ganz nett, aber der "neueste Stand der Technik"? Die "beste Stereoanlage"? Welche soll das sein? Jeder weiss doch, dass es ab dem Moment, wo man sich mit Heimelektronik ausstattet, sofort wieder "etwas Besseres" gibt :). Das sind so Allgemeinplätze, also entweder recherchierst du da ein wenig und kommst dann mit mehr Details rüber, welche Spielzeuge sich die Upper-Class ins Haus holt, oder du lässt es am besten ganz weg.

setzte er sich, ohne sich umzuziehen, in den sündhaften teuren Ohrensessel in seinem Wohnzimmer,

sündhaft teuren Ohrensessel
Und den blutet er jetzt mit seiner Hand voll, oder wie?

Ich hab auch zum letzten Absatz noch ein paar Notizen, wieder so Dinge wie:

Er spürte die schwarze Präsenz von einem Etwas, das er nicht in Worte fassen konnte.

Er riss die Tür auf und starrte in eine unbeschreibliche Fratze.

Es blitzte draußen vor dem Fenster, und dort sah er nicht etwa seinen Garten im Lichte des Blitzes, sondern eine unbeschreibliche Landschaft aus Flammen und Asche.

Hier machst du es dir als Autor zu einfach, alles ist "unbeschreiblich" oder "nicht in Worte zu fassen". Wie willst du denn dann den Leser in den Bann deiner Geschichte ziehen? Man kann sich ja nichts wirklich vorstellen, du als Autor musst dir da einfach mehr Gedanken machen und die Bilder vollständiger transportieren, nicht so bruchstückhaft.

Auch inhaltlich sagt mir der Schluss leider nicht zu. Das ist so ein Durcheinander mit seinem alten Freund, der plötzlich gestorben ist, und seinen Eltern, ich steig da nicht so recht durch wer ihn jetzt warum holen will. Offenbar geht es um Morde in der Vergangenheit, aber so richtig deutlich wird das nicht, auch nicht wie der Freund da drinhängt.

Also wie ich es zu Beginn gesagt habe, mir kommt es so vor, du wolltest einfach zu viel in die Geschichte packen. Sie wirkt überladen, da ist zu viel reingestopft, mit Gebäuden, die sich verwandeln, dem Unfall, dem Hund, den Nachbarinnen, da sind zu viele Details, die keine klare Linie ergeben. Ich rate dir, das Ganze ein wenig einfacher aufzuziehen, dich auf einen Komplex zu konzentrieren und den dann vernünftig auszuarbeiten, bspw. auf die Sache mit den Eltern. Auch woher der Zettel kommt ist völlig unklar, genauso weshalb er geschrieben wurde. Statt dem ganzen Brimborium wärst du besser auf solche Dinge eingegangen und hättest versucht, der Geschichte eine konsistente, logische Handlung zu geben.

Viele Grüsse.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo!

Ich muss Schwups Recht geben. Ich habe die Geschichte gelesen und da waren etliche Stellen, die es nicht gebraucht hätte. Dann fehlten wieder Informationen, die man gebraucht hätte, um alls zu verstehen.

Positiv kann man sagen, dass deine Sätze klar formuliert sind und man merkt auch schon die Ernsthaftigkeit, die du ins Schreiben legst. Dass es dir wichtig ist. Aber diese Geschichte erzeugt einfach keine Bilder in meinem Kopf.

schon ein recht hohes Tier
das klingt nach Faulheit. Ich hab jetzt keinen Bock genauer über Edwards Job nachzudenken also ist er einfach mal ein recht hohes Tier. Das merkt der Leser und schon sinkt die Lust am Lesen.

Das geht andauernd so: unbeschreiblich etc. Da müssen Bilder her!

Übrigens finde ich den Titel furchtbar. Das klingt nach so einem billigen Liebesroman, wo vorne immer diese Illustrationen von halbnackten Sportlern drauf sind, die Frauen mit wehenden Armen abknutschen. Pfui!

Nee, also für mich war das nichts. Da steckt nichts drin, was man nicht kennt. Deshalb finde ich es langweilig, weil Edward auch gar keine richtige Figur ist. Der ist ein Abziehbild.

Liebe Grüße


Lollek

 

Oh, das sind ja ganz schön harte Worte.
Ich finde es schade, dass die Geschichte so schlecht angekommen ist, zumal ich eigentlich gedacht hatte, dass sie gar nicht so schlecht sei.

Um mal auf die Kommentare einzugehen.
Das Wechseln zwischen Perspektiven ist doch im Grunde eine auktorale Erzählsituation. Man hat also einen allwissenden Erzähler, der hier sowohl die Gedanken des Protagonisten als auch die der anderen Personen erfasst. Ich selbst habe es als nicht so schlimm empfunden, wobei ich zugeben muss, dass ich im Laufe der Geschichte zwischen dem personellen und dem auktorialen Erzähler gewechselt habe. So viel dazu.
Um auf die Sache mit dem Wirren zu sprechen zu kommen. Früher wurde mir gesagt, ich erkläre zu viel, beschreibe zu viel, lasse dem Leser keine Freiheiten usw... aus diesem Grund habe ich mir für diese Geschichte vorgenommen, mal nicht alles vorwegzunehmen, den Leser mal überlegen zu lassen. Dass das Ergebnis hierbei jedoch nur ist, dass Verwirrung entsteht, finde ich sehr schade. Ich empfand es als weniger relevant, woher der Zettel gekommen ist, aber jetzt, wo ich mir das Ganze durch den Kopf gehen lasse, scheint es in dieser Beziehung wirklich Lücken zu geben.
Was die Inszenierung betrifft: Ich muss zugeben, ich habe hier wirklich mit dem Vorschlghammer inszeniert. Ich wollte, dass der Leser den Eindruck bekommt, man befinde sich in der Mitte eines Infernos.

Na ja, gut. Ich habe mir die Kommentare sorgsam durchgelesen, werde sie mir auf jeden Fall zu Herzen nehmen und sie beim nächsten Mal berücksichtigen. Woran ich wohl nichts ändern kann, ist diese Wortwahl, da diese sich schon so fest in meinem Kopf verankert hat. Ich bedanke mich für die Kritik - denn ehrliche Kritik wollte ich nämlich hören - und freue mich, dass es mindestens erkennbar gewesen ist, dass ich mit einem gewissen Ernst an die Sache herangehe.

 

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