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Flüstern
Es war ein anstrengender Tag an meinem Arbeitsplatz. Viele Telefonate und das endlose Tippen auf der Tastatur meines treuesten Kollegen. Viele Aufträge und kein Ende in Sicht. Als meine Armbanduhr mir den Feierabend gebot, setzte ich mich in meinen Wagen und versuchte Abstand von all dem Stress zu nehmen. Ich dachte nach über meine Frau, unser zu Hause zu dem ich nun auf den Straßen der Stadt unterwegs war und über meine Rolle im Leben. Ganz nebenbei halfen mir diese Gedanken nicht im Ansatz zur Ruhe zu kommen.
Zu Hause angekommen, legte ich meinen Rucksack auf dem Wohnzimmerboden ab und hängte meinen Mantel an die Garderobe hinter der Eingangstüre meiner Wohnung im 1. Stock.
Früher wurde ich von dem Duft des frisch gekochten Abendessens meiner Frau empfangen. Jetzt erwartete mich eine leere Wohnung ohne Leben, ohne Seele, nur ein Ort, an dem ich einmal glücklich war. Der Anruf kam vor genau einem Jahr. Die dunkle, rauchige Stimme am anderen Ende der Leitung versuchte sanft und einfühlsam zu klingen, konnte jedoch all die schrecklichen Dinge, die sie jemals gesehen hat, nicht verbergen. Es war ein Kriminalbeamter der Städtischen Polizei. Er informierte mich zögerlich, vermutlich fehlten ihm die richtigen Worte -falls es diese überhaupt gibt, um eine solche Nachricht zu übermitteln- über den Tod meiner geliebten Frau. Nachdem sie die Spätschicht im Altenpflegeheim in dem sie arbeitete beendet hatte, machte sie sich auf den üblichen Weg nach Hause auf, nur kam sie nie an. Der Mörder lauerte ihr im Dunkeln auf, zog sie um die Ecke, vergewaltigte und erstach sie anschließend. Ihre Leiche wurde von einem alten Ehepaar, das gerade auf dem Weg ins Kino war, gefunden. Den Täter konnte die Polizei bis heute nicht ermitteln.
Die Leere, die mich seit diesem Tag begleitete, bestimmte mein Leben wie noch kein anderer Faktor jemals zuvor. All das Glück wich unendlicher Trauer. Das Licht wich der Dunkelheit und dem Schmerz, der mich nie vergessen ließ was mir weggenommen wurde.
Ich setzte mich in die Küche und zündete mir eine Marlboro an, öffnete eine kalte Flasche Bier und starrte aus dem Fenster. Verloren in Gedanken fiel die Asche auf den alten Esstisch, an dem meine Frau und ich häufig gemeinsam aßen, lachten und uns gegenseitig von unserem Tag erzählten. Alles nur verblassende Erinnerungen.
Nach der Zigarette ging ich hinüber ins Wohnzimmer um statt aus dem Fenster an die Wand zu starren, an der ein gerahmtes Bild von Sophie hing. Sie lachte und blickte erwartungsvoll und überglücklich in die Zukunft, die für sie sehr kurz geraten war. Gedanklich streichelte ich sanft ihre gerötete Wange und blickte ihr voller Geborgenheit in ihre tiefen, fesselnden Augen, als ich plötzlich einen feinen Hauch durch mein Haar wehen spürte. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper, meine Nackenhaare stellen sich auf und ein bekanntes, wohliges Gefühl überkam mich. Mein Herz schlug schneller, Tränen drangen in meine Augen als ich sah wie sie im Türstock stand. Fassungslos und überwältigt zugleich starrte ich zu Sophie hinüber. Nach mehrmaligem blinzeln war sie nicht verschwunden, im Gegenteil, Sophie erschien mir noch deutlicher als in dem Moment zuvor. Ich stand aus dem Ohrensessel, den wir gemeinsam ausgesucht hatten, als wir in unsere erste gemeinsame Wohnung zogen, auf und ging langsam auf sie zu. Wir streckten unsere Arme aus, wollten einander sehnsüchtig berühren, uns fühlen und in die Arme schließen, gemeinsam in der Ewigkeit leben. Hand in Hand standen wir mitten im Zimmer. Ich konnte es nicht glauben, das konnte nicht real sein, aber es fühlte sich niemals zuvor etwas realer an, keine Berührung, nichts dass ich jemals erblickte, war echter, hatte mehr Substanz als sie und ich in dieser Zeit, in diesem Zimmer, in meinem Leben, in ihrem Tod. Sophie legte sich in meine Arme, ihre rechte Wange ganz fest an meine Brust gedrückt und hörte meinem Herzschlag zu, dem Rhythmus meines Körpers, meines irdischen Gefängnisses. Wir waren uns so nah wie ein Jahr schon nicht mehr. Eine warme Flut schwemmte mich in unendliche Glückseligkeit, weit weg von dem Leid des letzten Jahres, weit weg von all der Trauer und dem Schmerz. Ich neigte meinen Kopf ein Stück nach unten, sie berührte mein linkes Ohr mit ihren warmen pulsierenden Lippen. Ganz leise, fast nicht hörbar, flüsterte sie mir etwas ins Ohr. Sie wiederholte es noch einmal kurz bevor sie meinem Griff entglitt und verschwand.
Irritiert und perplex blickte ich im Zimmer umher. Von links nach rechts, vom Fenster zur Tür. Niemand. Sie war weg und die Wärme nahm sie auch mit. Meine Beine fingen an zu zittern, mein Blick war vernebelt und mein Herz schlug mir bis in die Kehle. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, ich würde verrückt, hätte meinen Verstand verloren. Doch dann versuchte ich mich zusammen zu reißen, atmete tief ein, stürmte zur Garderobe, warf mir meinen Mantel über die Schultern und verließ meine Wohnung ohne Umschweife.
Mit den Händen in den Manteltaschen lief ich schnellen Schrittes zielgerichtet durch die eisige Abendluft in Richtung Bushaltestelle. Mein Atem kondensierte, stieg in kleinen Wolken in den dunklen Himmel auf. Nur die Sterne erleuchteten den einsamen Aufstieg. Mein Kopf war gedankenleer, so wie er es schon sehr lange nicht mehr war. Keine Erinnerung quälte mich, kein Dämon fügte mir Schmerzen zu. Das einzige was ich empfand war eine unglaubliche Wut, ein Aufwallen von Hass.
Den Bus erwischte ich gerade so. Auf der hintersten Sitzreihe nahm ich regungslos Platz. Den Blick stur und unerschütterlich auf ein einziges Ziel gerichtet. Kein Passagier, nur ich, die Wut und der Hass, der Fahrer der mich zur Erlösung fuhr.
Am Stadtrand angekommen stieg ich unmittelbar aus, folgte der grell beleuchten Straße zu einem kleinen, heruntergekommenen Haus. Ein trister Anblick. Ich öffnete das Gartentürchen, lief zur Tür und klopfte mit der Faust dreimal. Nach kurzer Zeit schwenkte die alte Holztür knarzend auf und brachte mehr eine Kreatur als einen Menschen zum Vorschein. Einen mageren Mann, vielleicht Mitte dreißig, etwa zehn Jahre älter als ich es war. Blutunterlaufene Augen, zerzaustes Haar, verkümmerte Bartstoppeln im Gesicht. Er blickte mich fragend an und ich erklärte ihm, dass ich meine Tochter suchen würde und mein Handy vergessen habe um sie anzurufen. Ich bat ihn mich herein und sein Telefon benutzen zu lassen. Der Bewohner des Hauses zögerte einen Moment, bat mich dann aber doch hinein. Ich folgte ihm ins Wohnzimmer. Ein modriger Geruch stieg mir in die Nase. Es roch wie eine Mischung aus verbrauchter Luft, Nikotin und Tod. Der Mann zeigte mir sein Telefon und machte kehrt, setzte sich auf sein aschgraues in die Jahre gekommenes Sofa, nahm die Fernbedienung in die Hand und richtete seinen Blick auf den Flimmerkasten. Statt zum Telefonapparat hinüber zu gehen stellte ich mich genau in seinen Blick. Ich stand zwischen ihm und den Fernseher und das einzige was er tat, war mich verwundert anzusehen. „Du siehst genauso aus wie sie mir dich beschrieben hat“ sagte ich zu ihm. Nun schaute er immer verwunderter. „Was sagten sie“ fragte er. Ein kalter Hauch überkam mich, eine leise Stimme in meinem Ohr: „Er ist es, er hat mir das angetan“.
„Du hast mir mein Leben genommen, meine Liebe hast du mir entrissen du verfluchtes Arschloch, dafür wirst du jetzt büßen. Im ewigen Fegefeuer wirst du brennen, du Mörder!“. Ich griff in die linke Innentasche meines Mantels und griff nach dem alten Revolver, den Sophie von Ihrem Vater geerbt hatte und der mit ihr beerdigt wurde. „Er ist tatsächlich da, genauso wie sie es mir in mein Ohr geflüstert hatte, als sie in meinen Armen lag“ dachte ich. Meine Hand schnellte aus der Tasche, den Revolver fest im Griff. Ich streckte den Arm, zielte auf seine Stirn, und ehe der Mörder meiner Frau wusste wie ihm geschah, drückte ich ab. Noch einmal. Und noch einmal. Drei Kugeln in den Schädel. Mitten in seinen kranken Schädel. Sein Gehirn verteilte sich an der Wand hinter seinem Sofa. Sein leerer Blick befriedigte mich ungemein. Ein breites Grinsen zierte meine mit Blut bespritze Fratze. Ich ließ seinen toten Körper hinter mir und verließ sein Haus, den Bunker des Teufels.
Den Blick auf die Straße gerichtet, rannte ich in Richtung Waldrand an der Stadtgrenze. Ich betrat den St. Himmelfahrt Friedhof durch das rostige alte Stahltor, welches diesen Ort schon seit unzähligen Jahrzehnten ziert. Dritte Grabreihe rechts. Hier war sie begraben. Hier lag Sophie seit einem Jahr im Dreck. Ich fiel auf die Knie. Ich blickte auf den verwitterten Grabstein, las ihren Namen, lies den Kopf in den Nacken fallen. Die Sterne sahen auf mich herab, sie riefen mich und zwischen ihren Rufen konnte ich einen ganz Bestimmten hören. Ich konnte ihrer lieblichen Stimme noch nie widerstehen. Der Revolver lag noch immer in meiner Hand, noch warm von den letzten Schüssen. Langsam richtete ich meinen Arm auf, beugte ihn ab und hielt mir die Mündung ans Zungenbein. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, die Lider pressten meine letzten Tränen heraus, die an meinen Wangen herab liefen. Noch immer lag mir Sophies Rufen im Ohr, die Sehnsucht in ihrer Stimme. Ich schlug meine Augen auf, schrie in den Nachthimmel, ich schrie den Namen meiner Frau und drückte ab.