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- 10.10.2003
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Flügel für den Frieden
Flügel für den Frieden
Ich möchte fliegen wie die Anderen.
Fliegen?
Ja. Fliegen.
Denn ich bin ein Engel. Ein Engel, der nicht fliegen kann.
Seit fünfzehn Jahren verhindert jemand, dass ich fliege.
„Dein Essen“ sagte eine Stimme, und die kleine Klappe in der Tür meines Zimmers öffnete sich. Ein Tablett wurde scheppernd und lieblos fallengelassen. Dann schloss sich die Klappe wieder, und es war still. Ich wartete einige Minuten, ehe ich mich aus der dunklen Ecke wagte, in der ich gekauert hatte. Ich rutschte auf den Knien auf das Tablett zu.
Immer das Gleiche.
Der Fußboden war hart und kalt. Ich verzehrte mein karges Mahl, dann wartete ich. So wie jeden Tag, seit ich denken konnte, würde nun das Tablett zurückgeholt werden. Dann würde ich ins Freie dürfen. Ich wartete und wartete.
Endlich öffnete sich die schwere Tür. Ein Wächter packte mich grob am Arm und zerrte mich durch endlos lange Korridore, bis wir einen kleinen Hof erreichten. Hohe Mauern, über die ich noch niemals gesehen hatte, umgaben das Areal. Ich wusste nicht, was da draußen war. Alles was ich kannte war dieser Hof mit seinem schmutzigen, schlammigen Boden, die Sonne und – der Himmel. Ich liebte den Himmel. Ich nutzte die Zeit im Hof, um den Wolken zuzusehen, die schnell oder langsam vorüberzogen und manchmal allerhand seltsame Formen annahmen. Und da, eines Tages, sah ich sie. Sie waren wie ich – Sie hatten Flügel wie ich, und sie flogen.
Ich fragte den Wächter, was denn das für Wesen seien, die mit den Wolken zogen, und er hatte mit hasserfüllter Stimme gezischt: „Dreckige Engel, so wie du! Eines Tages werden sie alle fallen, alle!“ Daraufhin trat er nach mir.
Einmal hatte ich versucht, mit meinen Flügeln zu schlagen. Doch es ging nicht. Es hatte wohl etwas mit dieser Vorrichtung zu tun, die ich stets trug. Kaltes Metall, wie ein Korsett um meinen Körper geschnürt, hielt die Flügel fest. Ich konnte sie nicht bewegen.
Ich fand mich damit ab, dass es so war. Ich würde niemals fliegen.
Ich wusste nicht, warum ich eingesperrt war. Ich wusste nur, dass auch andere Engel hier festgehalten wurden, denn ich beobachtete einmal, als ich in den Hof geführt werden sollte, wie ein Engel in das Zimmer gegenüber von meinem gebracht worden war. Ein Junge, etwa in meinem Alter. Niemals werde ich seine stahlgrauen Augen vergessen, als unsere Blicke sich für einen kurzen Moment trafen. Ich las soviel Wut und Hass, aber auch Verzweiflung und Angst in ihnen; und da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass da draußen etwas Schreckliches vor sich gehen musste.
In dieser Nacht lag ich wach. Da hörte ich, wie jemand ganz in meiner Nähe leise weinte. Es war der Junge mit den Stahlaugen. „Was ist mit dir?“ fragte ich in die Dunkelheit hinein. Das Wehklagen hörte abrupt auf. „Es tut weh. Ich will hinaus, hinaus!“ antwortete er dann. Ich schlich zur Tür, um ihn besser hören zu können. Da der Gang draußen schmal war, lagen die Türen zu unseren Zellen nah genug beieinander, um sich in der Stille der Nacht unterhalten zu können. „Wer bist du?“ fragte er. Ich war überrascht. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Wer war ich denn eigentlich? Ich hatte keinen Namen. „Ich weiß nicht“ sagte ich. „Wie, du weißt nicht? Hast du denn keinen Namen?“ Er klang verblüfft. „Nein“ gab ich zurück. Eine Weile sagten wir beide gar nichts. „Dann werde ich dir einen Namen geben.“ Ich nickte, und obwohl er diese Geste der Zustimmung nicht hatte sehen können, fuhr er fort: „Ab heute sollst du ‚Frühling’ heißen. Weil wir draußen Frühling haben.“ Der Name war schön. „Mein Name ist Notus.“ Wir schwiegen. Dann fragte ich: „Frühling... Was ist das?“ Und er erzählte mir von grünen Wiesen, von den ersten zarten Knospen der Frühlingsblumen, von den Bäumen und dem Wind. Das stellte ich mir wunderschön vor. Und noch während er sprach schlief ich ein und träumte von grünen Wiesen, Blumen, den Bäumen und dem Wind, obwohl ich nicht wusste, wie das alles aussah.
Seit dieser Nacht waren Notus und ich die besten Freunde. Wir redeten stundenlang – er erzählte mir, was es da draußen gab. Und manchmal schwiegen wir nur.
Einmal durften wir sogar gemeinsam in den Hof. Wir betrachteten uns gegenseitig. Er, mit seinem rabenschwarzen Haar, den stahlgrauen Augen und den feinen Zügen, unterschied sich so sehr von mir, die ich leuchtend grüne Augen und feuerrotes Haar hatte. Doch beide waren wir mager, klein und zart, ich noch mehr, da ich schon mein ganzes Leben hier in diesem Gefängnis verbracht hatte.
Doch es sollte etwas geschehen, das dieses Leben schlagartig veränderte.
Eines Nachts wurden wir plötzlich von einem ohrenbetäubenden Knall aus dem Schlaf gerissen. Danach vernahmen wir lautes Sirenengeheul und aufgeregte Stimmen. Schritte hallten durch die langen Gänge, Menschen schrieen.
Entsetzt sprang ich auf. Mein Herz klopfte so wild, dass es schmerzte. „Notus“ rief ich ängstlich. „Ich bin hier!“ war die Antwort. „Was geht hier vor?“ fragte ich. Ich drückte mich gegen die Tür und starrte in die Dunkelheit. „Sie kommen! Sie holen mich!“ rief er freudig. „Ich verstehe nicht“ Ich hörte, wie er in seiner Zelle aufgeregt auf und ab lief und mit den Fäusten gegen die Wände hämmerte. „Hier! Hier!“ rief er, bis seine Stimme sich überschlug. „Notus!“ schrie ich. „Wer kommt, dich zu holen?“ Die ganze Situation schien mir unwirklich. „Meine Brüder. Sie kommen, um mich zu befreien! Sie holen mich weg von hier!“ Ein schmerzhafter Stich durchzuckte mich wie ein Blitz. Sie würden ihn fortholen, sie nahmen ihn mir weg! Ich würde meinen einzigen Freund verlieren! Er ließ mich im Stich!
„Lass mich nicht allein“ schluchzte ich. Doch er schien mich nicht wahrzunehmen. Ich sank zu Boden und weinte. Dann hörte ich, wie jemand gewaltsam die Tür zu seiner Zelle öffnete, und wie Stimmen aufgeregt durcheinander redeten. Ich verstand nicht, was sie sagten. Es war mir egal. Ich würde wieder allein sein! Doch da merkte ich, wie auch meine Tür aufgebrochen wurde. Mit einem heftigen Ruck wurde sie aufgezogen, und ich, immer noch dagegen gelehnt, fiel nach draußen. Jemand lachte. Zwei Engel, älter als ich, halfen mir auf die Beine und stützten mich. Ich bemerkte eine auffallende Ähnlichkeit zu Notus – Seine Brüder! Und da war er. Er lächelte mir zu. Ich sah, dass das Stahlkorsett, das seine Flügel festgehalten hatte, weg war. Seine Flügel waren ausgebreitet, und in diesem Moment war er das Schönste, das ich jemals gesehen hatte. Ich spürte, wie auch mir das stählerne Folterinstrument abgenommen wurde. Wir liefen, ich immer noch gestützt, den Gang entlang. Dann sah ich, was den lauten Knall vorhin verursacht haben musste. In einer der Mauern, die den Hof umgaben, klaffte ein riesiges Loch. Dort warteten weitere Engel; einige Wachleute lagen regungslos zu ihren Füßen. „Sie ist zu schwach, ich werde sie tragen“ hörte ich einen von Notus’ Brüdern sagen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich wurde gepackt und fortgetragen. Wir flogen! Es war noch viel schöner, als ich es mir erträumt hatte. Der kühle Nachtwind strich über meine Haut und ließ mein Haar wild flattern. Ich schloss die Augen und breitete die Arme aus. Ich fühlte mich so unendlich frei! Notus’ Bruder lachte leise. Er lachte mich aus, aber ich kümmerte mich nicht darum. Dieser Moment war der schönste in meinem ganzen Leben.
Als wir landeten, war mir schwindelig und ich konnte kaum stehen. Von Notus gestützt betrat ich schließlich ein kleines, unscheinbares Haus, das abgelegen an einem Waldrand stand. Seine Brüder folgten uns. Drinnen brannte ein Feuer im Kamin. Es gab nur zwei Räume. Notus führte mich zu einem Lehnstuhl, wo ich erschöpft Platz nahm. „Wo sind wir?“ fragte ich flüsternd. „In unserem Versteck. Warte ab, Vater wird dir alles erklären“ gab Notus zurück. In der Tür zum Nebenraum erschien jetzt ein Engel, bei dessen Anblick ich ungewollt zusammenzuckte. Er war schon sehr alt, doch seine Augen leuchteten ebenso wie die von Notus und seiner Brüder. „Vater“ sagte Notus ehrfurchtsvoll und verneigte sich tief, als der Alte sich näherte und sich mir gegenüber setzte. Er musterte mich eingehend. Etwas Seltsames lag in der Art, wie er mich ansah. „Wer ist sie?“ fragte er seinen Sohn, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Sie war mit mir eingesperrt, Vater. Ihr ganzes bisheriges Leben hat sie im Gefängnis verbracht!“ antwortete dieser. Die Augen des Alten verengten sich misstrauisch. „Dein Name?“ fragte er. „Frühling“ sagte ich. „Frühling, soso.“ „Ich habe ihr diesen Namen gegeben, Vater.“
Der Alte schwieg. Und er schwieg lange. Dabei starrte er mich unentwegt an. Ich fand es zunehmend beängstigend. Die Stille, die nur vom Knistern des Feuers im Kamin unterbrochen wurde, war fast schon unerträglich. Dann, endlich, brach der Alte das Schweigen. „Zeig mir deine Schultern“ sagte er. Ich verstand nicht. Hilfesuchend sah ich zu Notus auf, der neben dem Stuhl stand, auf dem ich saß. Er wirkte verwirrt, doch nickte er mir auffordernd zu. Ich stand auf, drehte dem Alten den Rücken zu und streifte das einfache weiße Leinenkleid von meinen Schultern. Der Alte atmete geräuschvoll aus, als er meine Tätowierung sah. Eine kleine Rose. Sie war immer schon da gewesen, auf meiner linken Schulter, unter dem Flügelansatz. Die knochigen Finger des Alten berührten das Mal. Ich zuckte zusammen und drehte mich ruckartig um. „Verzeihung“ sagte er. „Setz dich, Ethelind.“ Langsam setzte ich mich wieder. Als er meine Überraschung bemerkte, fuhr er fort: „Ethelind, das ist dein Name.“ Notus, dem ich einen erschrockenen Blick zuwarf, schien nicht minder überrascht zu sein. „Was...?“ setzte ich an, doch der Alte sprach bereits weiter. „Wie du vielleicht weißt, tobt ein Krieg zwischen Engeln und Menschen. Deshalb sind wir auch gezwungen, uns hier in dieser Hütte zu verstecken.“ Ich schüttelte den Kopf. Natürlich wusste ich nichts von dem Krieg. „Nun, wir sind mächtig geworden, vielleicht zu mächtig – deshalb wollen die Menschen uns vernichten. Sie haben Angst vor uns. Und die Menschen versuchen, Dinge, die sie fürchten oder hassen, zu zerstören, um die Angst auszulöschen. Sie wollten immer schon alles beherrschen. Das ist ihr Fehler.“ Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: „Sie sperren manche von uns ein – so wie dich und meinen Sohn – um hinter das Geheimnis unserer Macht zu kommen. Sie wollen diese Macht an sich reißen. Sie beobachten diese Gefangenen Tag und Nacht, doch bisher sind ihre Bemühungen, unsere Kräfte zu ergründen, erfolglos geblieben. Wir wissen unsere Fähigkeiten zu verbergen, wenn es nötig ist.“ Es war alles sehr verwirrend. „So warst auch du, Ethelind, all die Jahre gezwungen, dein wahres Ich zu verstecken.“ „Aber... Mein wahres ich? Ich bin doch Ich, ich meine... das...“ Was redete er da? „Du bist der Friedensengel, Ethelind.“ Ich starrte den Alten verständnislos an. Notus aber schien überrascht, ja, geschockt, als er jetzt ausrief: „Der... Der Friedensengel !?“ Der Alte nickte. „Was für ein Glück, dass die Menschen, die dich gefangen hielten, nichts davon ahnten. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten sie es gewusst.“ Völlig verwirrt fragte ich: „Hätten sie was gewusst?“ Der Alte beugte sich vor und sah mir fest in die Augen. „Dass du, Ethelind, der Friedensengel, die Einzige bist, die diesen Krieg beenden und das Gleichgewicht der Welten wiederherstellen kann!“ „Ich?!?“ „Die Rose auf deiner Schulter ist das Zeichen. Deine Eltern waren Götter.“ Das musste ein Traum sein. Ein Traum! Das konnte einfach nicht wahr sein.
Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte der Alte: „Es ist wahr. Nur du kannst uns retten!“ „Ich... Ich soll die Welt retten? Aber... wie?“ Der Greis lehnte sich zurück. „Du musst fliegen und die Botschaft des Friedens überbringen!“ Nun war ich den Tränen nahe. Ich konnte einfach nicht begreifen, was geschah. „Ich kann nicht“ sagte ich mit tonloser Stimme. „Ich kann nicht fliegen.“ Der Alte starrte mich an. „Was soll das heißen, du kannst nicht? Dir wurde das Stahlkorsett abgenommen!“ Kraftlos antwortete ich: „Ich bin nie geflogen. Ich weiß nicht, wie es geht.“ Der Alte wirkte ernsthaft besorgt. „Jeder Engel kann doch fliegen!“ Er stand auf und deutete zur Tür. Ich folgte ihm nach draußen. Notus blieb in der Tür stehen, das Geschehen angespannt beobachtend. „Flieg“ sagte der Alte. Ich strengte mich an, Doch es ging nicht. Meine Flügel bewegten sich ein wenig, doch sie waren nicht stark genug, um mich zu tragen. „Es hat keinen Zweck“ jammerte ich, „Es geht nicht!“ Der Alte runzelte die Stirn. Er befühlte meine Flügel. „Dir fehlt nur der Wille, Ethelind. Du wirst fliegen. Jetzt.“ Plötzlich packte er mich und erhob sich in die Luft. Ich staunte über die Kraft des Alten, der auf der Erde so gebrechlich gewirkt hatte. Notus lief erschrocken vor das Haus, wo wir eben noch gestanden hatten, und schaute uns nach. Doch er folgte uns nicht.
Der Alte trug mich höher und höher, bis wir durch die Wolken stießen und ich die Erde nicht mehr sehen konnte. Ich zitterte vor Angst und Kälte. Der Alte hielt mich immer noch fest. „Du musst fliegen! Du musst !!“ Da erkannte ich: Er war wahnsinnig geworden. Er wollte mich ins Verderben stürzen! Plötzlich sehnte ich mich zurück in meine Zelle.
Ich wollte nicht sterben, obwohl ich nicht einmal wusste, was das bedeutete. „Flieg!“ rief der Alte wieder. „Ich kann nicht!“ schrie ich und begann zu weinen. Da ließ er mich los.
Ich fiel.
Es war zu Ende. Ich schloss fest die Augen. Merkwürdig – fühlte sich so der Tod an? Plötzlich schien ich nicht mehr zu fallen. Ich stand. Da wurde mir klar: Ich war nicht tot. Ich lebte! Wie war das möglich? Ich schlug die Augen auf. Der Himmel!
Ich lebte – und ich flog.
Meine Flügel schlugen ganz von selbst und hielten mich auf der Stelle. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Da tauchte neben mir der Alte auf. Er lächelte. Noch immer liefen Tränen meine Wangen hinab, doch jetzt waren es Tränen der Freude. Ich lächelte ebenfalls. „Danke“ war alles, was ich hervorbrachte, und ich fiel dem Greis um den Hals.
Notus stand noch immer vor dem Haus, als wir zurückkehrten.
„Ich fliege!“ rief ich ihm schon von weitem zu.
Und ich sah, wie er vor Glück weinte.