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Flüchtlingsbengel
Wütend stampfte er die matschige Straße entlang. Sein Gesicht schmerzte. “Flüchtlingsbengel, dir zeigen wir's!” hatten sie gerufen und dann ging es wieder los. Sie waren zu Dritt. Sie waren immer zu Dritt. “Irgendwann”, schwor er sich, “irgendwann…”
Warum schlugen sie ihn, warum beschimpfen sie ihn? Er verstand es nicht. Eines hatte er schon gelernt in den letzten Monaten. Schnauze halten. Damit keiner merkte, dass er nicht von hier war. Er wollte nicht hier sein, aber das konnte er nicht bestimmen. Er musste fliehen, als der Krieg in sein Dorf kam.
Alles war weg. Ob sein Spielzeug wohl noch noch da war? Er hatte es hinter dem Haus vergraben. Irgendwann würden sie zurückkehren, sagte die Mutter. Alles Brauchbare hatten sie vergraben. Wahrscheinlich hatten es sich die Nachbarn geholt, gleich als sie weg waren. Vater war noch im Krieg. Wohl gefangen. Oder tot.
Sie hatten nur was sie auf dem Leib trug, als sie das Boot bestiegen, das sie über das Meer bringen sollte. Angst hatte er, aber Angst war verboten. Die Kinder mussten leise sein, damit sie nicht erwischt wurden. Nur die Erwachsenen, die durften weinen. Erwachsene sind komische Menschen. Sie bringen die Welt in Unordnung. Die Frau neben ihm, die ist mit ihrem Baby über Bord gesprungen. Sie hätte wenigstens die Decke dalassen können.
Die Menschen hier hassten die Flüchtlinge. Weil sie abgeben mussten, Platz machen, zusammenrücken. “Wir haben doch auch nichts!”, sagten die immer. Und die Flüchtlinge? Die sehen anders aus, sprechen anders, sind dreckig, stinken, klauen wie die Raben und machen nur Ärger. Die sollen dahin verschwinden wo sie hergekommen sind, oder dahin wo der Pfeffer wächst.
Wenn sie doch bloß nur aus diesen Blechbüchsen ausziehen konnten. In ein echtes Haus. Raus aus dem Lager.
Warum musste er auch hier entlanggehen. Gerade wenn die anderen aus der Schule kamen. Warum hatten er und seine Geschwister nur ein Paar Schuhe, das sie sich teilen mussten. Zu Hause hatte er sogar ein Fahrrad. Wenn er essen wollte, dann musste er in die Schule. Wütend stakste er weiter.
“Irgendwann...” schwor er und bog rechts ab. Geradeaus war ein Bombentrichter, da stand unten Wasser drin.
Wie es wohl bei ihm zu Hause aussah. Ob das Haus noch stand, in dem er geboren wurde? Was sollte er hier in Kiel? Wenn doch bloß der Russe nicht gekommen wäre...