Flüchtigkeit des Vertrauens
Am Samstag fuhr ich mit meiner Frau durchs Grenzgebiet in die deutsche Kreisstadt. Ich musste langsam fahren, denn ich spürte ein Stechen im Kopf. Wir stellten unsere Fahrräder vor REWE ab und liefen - zügig, so wie wir immer laufen, lief ich ihr hinterher - über den ausgebauten Kreisverkehr zu Karstadt.
Vor der Imbissbude saßen wie immer am Wochenende um diese Zeit ein paar Passanten. Von Papptellern aßen sie Pommes mit Mayonnaise und Currywurst und tranken dazu Cola mit einem Strohhalm. Vor dem Eingang zum Kaufhaus hing eine Wolke aus warmen und verbrannten Öl.
Ich spürte eine Trockenheit in meiner Kehle und wusste nicht, ob es vom Rotwein am Abend war oder von dem Traum am Morgen. Die ereignisreiche letzte Woche, zwölf Flugstunden von der Imbissbude entfernt, machte sich plötzlich in meinem Kopf breit und die Tage erschienen mir plötzlich einzeln und wie durcheinander gewürfelt.
Während meine Frau durch die gläserne Drehtür allein ins Kaufhaus verschwand - sie beabsichtigte nur schnell einen Gutschein einzulösen - wollte ich, weil ich Kaufhäuser nicht mag, mir gleich an der Imbissbude eine Flasche Apfelschorle kaufen. Das Kaufhauspersonal mag ich auch nicht, es lächelt immer so heftig, als hätte es ein schlechtes Gewissen.
Der Mann an der Imbissbude vor mir bestellte für sich und seinen Sohn Pommes aber kein Getränk! Daran erinnere ich mich, denn ich hatte Durst und wollte endlich etwas trinken. Der Junge, er war höchstens vier, steckte seinen grausigen Wuschelkopf über den Tresen. Hungrig wie eine Katze, verfolgte er mit großen Augen die Kassiererin, wie sie lange Kartoffelstücke in eine Schale füllte. Als ich an der Reihe war, musste ich anstatt der eins zwanzig wie es auf der schmutzigen Karte mit Kreide gekrakelt stand, für meine Flasche Apfelsaft dreißig Cent mehr bezahlen. Meine Laune war am Boden!
Ich stellte mich vor die Drehtür zum Kaufhaus in die Sonne und nahm einen kräftigen Schluck. Offensichtlich war meine Frau in einer Abteilung im Erdgeschoss hängengeblieben. Letzte Woche hatte sie dort an einer Befragung teilgenommen, die ergeben hatte, dass sie eher kein Bergtyp ist, der Bewährung sucht, und auch kein Wanderer, der festen Boden unter den Füßen braucht, sondern ein Meerestyp, der sich leicht treiben und tragen lässt. Aber warum musste sie dafür an einer Befragung mitmachen? Wir hatten, seit dem wir nicht mehr in Deutschland wohnten, nicht einen freien Tag in den Bergen verbracht, obgleich das Berner Oberland nur eine Autostunde entfernt war. So spürbar war ihr seit unserem Auszug aus Deutschland alles zuwider was mit Bergen und Wandern zu tun hatte, dass sie in den zurückliegenden sechs Jahren, die wir mittlerweile auf der anderen Seite wohnten, jeden Urlaub kategorisch ablehnte, an dem wir nicht stundenlangen an einer schnurgeraden Küste entlang laufen konnten. Sie sehnte sich nach etwas, dass es nicht gab, hatte Heimweh nach einem zu Hause, das verloren war. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie mich dafür verantwortlich machte. Seitdem wir hinter der Grenze wohnten, war die Leichtigkeit zwischen uns verschwunden. Sie wirkte verängstigt, wie der von einer Katze aufgescheuchte Vogel.
Die Sonne brannte mir ins Gesicht und ich kniff die Augen zusammen. Ein kühler Windzug aus der Klimaanlage des Kaufhauses blies mir über den feuchten Nacken und mischte sich mit dem öligen Geruch von Fett. Ich spürte wieder dieses Stechen im Kopf.
Ich warf die leere Flasche in den Mülleimer und wurde unruhig. Ich wollte gehen, oder nicht mehr warten müssen oder mich wenigstens hinsetzen. Doch die Plastikstühle vor der Imbissbude waren so ungünstig verteilt, dass ich mich nirgendwo dazu setzen wollte. Ich bin sowieso lieber allein. Auf der Mauer, die die Imbissbude zur Straße hin abgrenzte, war ein Platz frei. Dort saß auch der Vater und der Junge mit dem kleinen Wuschelkopf. Der Vater hatte die Unterarme auf die Knie gestützt und hatte sich die Schale Pommes auf die linke Hand gestellt. Während sich der Junge, der neben seinem Vater auf der Mauer saß, geschickt ein längliches Kartoffelstück aus der Schale fischte, setzte ich mich neben ihn. Langsam und mit zwei Fingern führte er das Kartoffelstück - so als wäre es ein kleiner Fisch - zum Mund. Ich beobachtete interessiert den Jungen. Sorgsam und mit spitzen Zähnen zerkleinerte er, sehr vorsichtig, das Kartoffelstück und machte dabei ein Gesicht als würde er jeden Moment auf eine Gräte beißen. Ich musterte ihn immer noch und hoffte, dass er mich ansehen würde, damit und ich ihm eine Grimasse schneiden konnte. Ich hätte ihn gern zum Lachen gebracht. Doch der Junge bemerkte mich überhaupt nicht und träumte, als wäre er nicht in dieser Welt.
In meinem Rücken bremste ein leerer LKW ohrenbetäubend und mit lautem Quietschen als würden Delphine singen. Die Sonne brannte und das Stechen in meinem Kopf wurde immer schlimmer. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als wäre mein Körper an Haken in der Haut auf gehangen. Ich schüttelte mich, um den Gedanken zu verjagen, und mir fiel mir der präparierte und verdreckte Fischkopf ein, der neben der Kasse in der Imbissbude gestanden hatte. Die Aufhängung des Unterkiefers am Schädel des Fischmauls war mit billigen Schrauben vor langer Zeit nach gebessert worden. Ich erinnerte mich, wie ich mir als Kind oft vorgestellt hatte, ich könnte wie ein Fisch stundenlang unter Wasser schwimmen und meine Haut wäre eingepackt in kühle Stille.
Wir waren damals in Warnemünde, es waren meine ersten großen Schulferien. Am Strand hörten wir nur Schreie, aber niemand hatte etwas gesehen. Später im Hotel erfuhren wir, dass ein vierjähriger Junge, der ohne seinen Vater weit hinter den Buhnen baden gewesen war, vermutlich von der Strömung mitgerissen wurde. Man hatte ihn bis zu unserer Abreise nicht wiedergefunden.
Wie unter Wasser hörte ich jetzt im Augenblick ganz gedämpft jemanden meinen Namen rufen. Es musste am Wein gelegen haben, den ich am Abend zuvor mit meiner Frau getrunken hatte. Sie hatte kurz angestoßen aber wie seit langem, das halb volle Glas stehen gelassen. Da Rotwein sich offen nicht lange hält, hatte ich am Abend zuvor die Flasche alleine geleert.
Als ich meine Augen hob, sah ich, dass meine Frau mir zuwinkte und mich rief. Ich stand auf und lief auf sie zu. Dabei spürte ich wieder einen Stich, diesmal aber gefolgt von einem kurzen, stechenden Schmerz im unteren Teil meines Hinterkopfs. Auf dem Weg zurück zu unseren Fahrrädern, sagte ich zu ihr: «Hast du den Jungen gesehen? Er hat so schön vor sich hingeträumt.» Sie schüttelte den Kopf und lachte mich an «Nein, hat er dich an dich erinnert?» «An mich?, wie kommst du darauf?» «So alt wie der Junge und so unschuldig wie du gewesen bist?» «Ich weiß nicht?», antwortete ich «ob ich mich daran erinnere.» «Weißt du, was schrecklich ist?» fragte meine Frau, die plötzlich das Thema wechselte und dabei ihre Hand sanft auf meinen Unterarm legte.
Ich spürte plötzlich wie meine Kehle trocken und in meinem Hinterkopf das Stechen, das sich jetzt wie ein spitzer und kurzer Hammerschlag anfühlte, sehr intensiv wurde. Im selben Augenblick erinnerte mich an das Ergebnis ihrer Befragung und das sie kein Bergtyp sei und meinen Gedanken, dass sie mich für ihre Unzufriedenheit verantwortlich machen würde. «Nein, weiss ich nicht.» sagte ich ohne weiter zu zögern. Mein Gedanke ärgerte mich, denn ich war es doch, der unzufrieden war, weil sie mich nicht gebührend über meine Erlebnisse der letzten Woche ausgefragt hatte. «Mein Kollege» fuhr sie fort, legte mir dabei ihre andere Hand vertraulich um meine Hüfte und sprach noch etwas leiser, so dass ich nach jedem Wort ihren Atem spürte «hat mir gestern erzählt, dass er mit 17 Jahren seinen Vater verloren hat. Nachts sollte er den Arzt holen, doch er war nicht in der Lage zu kommen.» Ich nahm ihr angenehmes, leichtes Parfüm wahr. Ihre Wangen und Schultern waren von einem blonden Flaum besetzt, als wäre sie immer noch der junge Vogel von einst. Aber die Katze hatte den Fisch längst gefressen und den Vogel davon gejagt. «Wer, dein Kollege?» fragte ich, obwohl ich sie genau verstanden hatte. «Nein, der Vater hatte einen Herzinfarkt und der Arzt konnte nicht kommen - er hatte zu viel getrunken.» Sie machte sich los von mir, öffnete das Fahrradschloss und stellte mir mein Fahrrad hin. Mit ausgestreckten Bein setzte sie sich auf ihr Rad. «Vielleicht hätte, sagte mein Kollege, der Vater noch gerettet werden können.» Dann fuhr sie los und ich ihr hinterher. Sie hatte immer noch einen schönen Hintern, aber ich wusste in diesem Augenblick, und ich weiß nicht wieso, dass ich die Freude alleine zu sein, nur mit ihr teilen wollte.
Die warme Mittagssonne beim Radeln zwischen den Häuser tat mir gut. Das Stechen in meinem Kopf ließ nach. Als wir über die Brücke über den Fluss, der begradigt und schnurgerade an der Grenze entlang führt, auf die andere Seite wechselten, hörte ich für einen kurzen Moment alle Geräusche wie in Watte gepackt.