Fische, Tauben und das Mädchen
Der Junge rannte die steile Steigung hinunter. Er mußte sich sehr konzentrieren, um die Hindernisse, die sich hier und dort als ein Stein oder eine Vertiefung äußerten, geschickt zu umgehen und dabei nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. Mit jedem seiner Schritte wirbelte er weißen Staub hinter sich auf. Wie ein Orkan müßte er aussehen, dachte der Junge und versuchte etwas mehr an Geschwindigkeit zu zulegen. Mit jedem Schritt schneller, immer schneller. In der Mitte der Steigung angekommen schaute er kurz für einen Bruchteil einer Sekunde um sich und warf den Menschen, die sich in die entgegen gesetzte Richtung mit größter mühe bewegten, einen stolzen Blick. Dieser Blick, der von den meisten Menschen sogar übersehen wurde, war mit dem Ganzen der Phantasien und der Vorstellungen, die der kleine Junge - von nicht einmal sieben Jahren - aus seiner kindlichen Welt hervorbrachte, durchtränkt. Der tollkühnste und schnellste Läufer war er. Hinter ihm seine Feinde, die ihn auf Pferden verfolgten. Böse Menschen, die schon viele Dörfer überfallen hatten, Fremde mit einer fremden Sprache, die keiner in der Gegend verstand. Mit Lanzen und Schwertern bewaffnet mit Schildern, mannshoch. Und er hatte den Kampf gegen sie aufgenommen. Seine Kameraden waren schon alle gefallen einer nach dem anderen. Nur er hatte überlebt. Eines Tages würde er seine Feinde stellen.
Nach wenigen Augenblicken unten angekommen, drehte er sich um. Voller Stolz schaute er die Steigung hinauf und war sichtlich stolz auf seine soeben vollbrachte sportliche Leistung. Er hatte sie abgehängt. Dann machte er wieder kehrt, lief gerade aus und wischte sich dabei mit einer Armbewegung am Ärmel seines Hemdes den vom von der Stirn herunterlaufendem Schweiß aufgeweichten, zuvor auf der Oberlippe vertrockneten Rotz vom Gesicht. Nach wenigen Schritten bog er rechts ein und betrat einige Stufen hinunterlaufend die mit Kalkstein ausgebaute Längsseite des kleinen quadratisch angelegten Sees. Auf dieser Seite des Sees saßen mehrere Verkäufer, die schon beim Tagesanbruch ihre bescheidenen Stände aufgebaut hatten und nun in ihre Geschäfte vertieft waren. Sie waren darum bemüht, den Besucher des Sees und anderen heiligen Stätten in der Nähe, Kleinigkeiten zu verkaufen. Kleine Holztäfelchen mit eingeritzten heiligen Formeln, kleine Büchlein mit den wichtigsten Suren aus dem Koran, Flakons mit Rosenöl, Rosenkränze mit neunundneunzig Perlen aus Holz oder Olivenkernen und kleine nach einem bestimmten Muster in ein Dreieck zusammengefaltete Zettel religiösen Inhalts gegen allerlei Böses und Übel dieser Welt. Den Betroffenen in die Kleidung eingenäht, sorgten diese Zettel dafür, daß die Gelang oder ein soeben abgeschlossenes Geschäft viel Geld bescherte; daß der Kranke wieder auf die Beine kam; der Liebeskummer des Sohnes oder der Tochter sich in Luft auflöste. Nicht selten soll auch der Ehemann, dem heimlich solch ein Zettel in die Kleidung eingenäht worden war, seine Gespielen fallen gelassen haben oder aber von auch der Flasche, worunter die Ehefrau mehr zu leiden hatte als der Mann. Einige Verkäufer hatten auch Futter für die Fische im See im Angebot. In kleinen oder großen Schalen gekauft, konnte der Besucher diese an die Fische im See verfüttern und somit eine gute Tat vollbringen. Es war ein Schauspiel, wenn die Karpfen nach dem ins Wasser geworfenem Futter schnappten und das gleichzeitig zu Dutzenden. So entstand für wenige Augenblicke ein quirliges Durcheinander mit lautem Getöse. Als würde, wo das Futter nieder ging, das Wasser anfangen zu kochen und die aufsteigenden Bläschen ganz und gar aus Fischen bestehen. Das gleiche Schauspiel gleichzeitig und abwechselnd an verschiedenen Punkten des Sees. Für die Kinder war es schier ein Vergnügen besonderer Art. Im Nu war das Futter verzehrt und die Ruhe kehrte urplötzlich zurück, um kurz darauf von neuem stattzufinden.
Der Junge näherte sich einem solchen Verkäufer, kramte eine Münze aus seiner Brusttasche hervor und legte sie dem Verkäufer auf den Verkaufsstand. Er wollte sogleich nach einer großen Schale Kichererbsen, die er an die Fische verfüttern wollte, greifen. Zögerte aber kurz, als der Verkäufer, ein alter Mann mit stoppeligem Bart, barfuß und einem Strickmützchen auf dem Kopf, mit drohender Stimme ihn anfuhr. Der alte Mann wies ihm eine kleine Schale zu. Der Junge wurde ärgerlich, da sein Versuch mehr Erbsen als er es sich mit der einen Münze leisten konnte zu ergattern verübelt wurde. So griff er nach der kleinen Schale, zog einen Bogen um den alten Mann und näherte sich dem Seeufer. Sollte er das Futter ausstreuen? Er als Kenner der, der regelmäßig hierher kam und die Fische fütterte, wußte, daß die Fische auf dieser Seite des Sees vom Nichtkenner reichlich mit Futter versorgt wurden. Jedoch die Fische am anderen Ufer gingen meistens leer aus. Da alle Besucher aus Bequemlichkeit die Schalen vor ihren Füßen ins Wasser kippten um das Treiben der Fische besser beobachten zu können. An die Fische auf der anderen Seite dachte keiner, außer ihm. Er holte vorsichtig aus und schleuderte den Inhalt seiner Schale mit voller kindlicher Kraft zu den Fischen am anderen Ufer. Nach einem kurzen Flug plumpsten die Kichererbsen nacheinander auf der Mitte ihres Zieles ins Wasser und die gierigen Fische machten sich über das Fressen her. Es muß doch einen Weg geben die Fische dort zu füttern, dachte er. Vom Ufer aus konnte man es nicht da diese Seite des Sees von der Mauer des benachbarten Gartens, der zu der Moschee gehörte, begrenzt wurde. Die Moschee umgab den See von zwei Seiten. Auf der gegenüber dem Eingangs der Anlage liegenden Seite des Sees befanden sich die Wasch- und Gebetsräume der Moschee.
Hinter dem Jungen der immer noch auf den See starrte befand sich die durch eine sehr enge Öffnung erreichbare Höhle. Hier konnten die Besucher aus einem Brunnen Wasser schöpfen und an der heilenden Kraft des Wassers Genesung und die innere Reinigung suchen.
“Hey, du! Was machst du da?” kreischte eine Stimme hinter dem Jungen. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein anderer Junge. Sichtlich älter als er und größer. Mit sauberer Kleidung schaute er ihn an und wartete auf die Antwort.
“Ich füttere die heiligen Fische auf der anderen Seite des Sees.”
“Das kannst du doch gar nicht”, erwiderte dieser, “du bist viel zu schwach dazu.”
“Und ob ich das kann!”
“Ich hab`s gesehn. Die Erbsen sind in der Mitte ins Wasser getaucht.”
“Sind sie nicht. Ich kann von hier bis zur Mauer auf der anderen Seite werfen.”'
''Ha, ha!''
Es kränkte ihn, daß er für so schwach gehalten wurde. Ja, klein war er, aber schwach? Niemals!"
“Wie heißt du?”, fragte der Junge in der sauberen Kleidung.
“Schemseddin, sie nennen mich aber alle Schems. Und du?”
“Mahmud. Wohnst du hier oder bist du auch mit deinen Eltern zu Besuch hier?”
“Ich wohne doch nicht in der Moschee. In der Moschee wohnt keiner.”
“Das weiß ich auch, daß niemand in der Moschee wohnt, Kleiner. Ich frage, ob du in dieser Stadt wohnst.”
“Ja, das tue ich, und?”
“Warum sind denn die Fische hier heilig?”, wurde der kleine gefragt.
Ja warum eigentlich? Jeder sagte, die Fische seien heilig. Und was bedeutet heilig? Er hatte es immer so gehört und es übernommen, hatte aber nie nach der Bedeutung gefragt.
“Weil die so groß sind und immer fressen wollen”, antwortete er verlegen.
“Kann doch gar nicht sein. Fische sind doch nicht heilig, weil sie groß sind und immer Hunger haben.
“Diese schon”, antwortete er verzweifelt.
“Wohnst du weit weg von hier?”, wollte Mahmud wissen.
“Nein”, sagte Schems und drehte sich nach links. Er zeigte mit dem Finger auf die Steigung, die er vorhin hinunter gerauscht war.
“Da, ganz oben wohne ich. Siehst du die Kirche da, in dem Haus daneben, das ist unser Haus. Wenn du willst kann ich dir die Tauben meines Bruders zeigen. Die können in der Luft Rollen schlagen.”
“Es gibt doch keine Tauben, die Rollen schlagen können. Du lügst.”
“Ich lüge nicht. Allah soll mein Zeuge sein uns soll mich auf der Stelle erblinden, wenn ich lüge”, das müßte genügen um ihn zu überzeugen, dachte Schems. Sein Schwur zeigte sogleich Wirkung.
Obwohl Mahmud mit dem Kleinen auf der Stelle mitgegangen wäre, um die Rollen schlagenden Tauben zu sehen, konnte er es nicht. Sein Vater und seine Mutter würden ihn suchen und wenn sie ihn nicht finden könnten, gäbe es einen Riesenärger. Zumal seine Mutter ihm mindestens hundertmal eingetrichtert hatte, daß er sich nicht entfernen solle. Sein Vater, er würde ihm die Schellen ins Gesicht nicht ersparen. Aber Schems wohnte ja nicht weit weg. Und er würde auch sofort wieder zurückkommen, sobald er die Tauben gesehen hätte. Die Tauben, die mußte er sehen und außerdem wäre es ja nicht das erstemal, wenn er von seinem Vater ein paar Schläge kassierte. Seine Mutter war kein Problem. Mit einem netten Lächeln wäre sie leicht wiederzugewinnen.
“Na los”, gab er seine Bereitschaft zu erkennen “laß uns zu den Tauben". Wir müssen uns aber beeilen. Wenn mein Vater mitbekommt, daß ich weg bin, ich schwöre bei Allah, er wird mir den Kopf abreißen.”
Sogleich rannte Schems los und Mahmud hinterher. Am großen metallbeschlagenen Eingangstor angekommen, donnerte Schems den Türklopfer am Tor, der in Form einer Hand aus schwerem Metall gegossen war, gegen das Tor. Es schepperte schrill. Ungeduldig holte Schems zum zweitenmal aus und schleuderte die Hand aus Metall mit voller Kraft gegen das Tor. Das Tor war in drei Teile gegliedert. Abgesehen von der eigentlichen Tür, die wie ein Rundbogen angelegt war, bot sie die Möglichkeit nur zwei Drittel der linken Hälfte zu öffnen oder aber nur ein Drittel des Tores. Die kleinste Öffnung durch das Tor verhinderte die freie Sicht zum Hof des Hauses, denn ohne sich tief zu beugen wäre es unmöglich, durch diese kleine Öffnung ins Haus zu schauen oder einzutreten. Diese Tür wurde zum alltäglichen Ein- und Ausgehen benutzt. Die größere Tür wurde geöffnet, um Besuchern den Zutritt ins Innere zu gewähren oder aber wenn sperrige Gegenstände ins Haus gebracht werden mußten. Auf der anderen Seite boten diese Öffnungen einen direkten Schutz gegenüber unerwünschten Eindringlinge, da durch diese Türen niemals mehrere Personen gleichzeitig ins Haus stürmen konnten und dadurch das Abwehren dieser schon am Eingang erleichtert wurde. Ganz wurde das Tor geöffnet, wenn Vorräte für das Jahr angeliefert wurden und die schweren Säcke mit Reis, Zucker, Mehl und vieles andere zügig in den Vorratskeller gebracht werden mußten. Oder aber wenn bei Feierlichkeiten, wie Beschneidung oder Verlobung oder sogar Hochzeit der Besucherstrom bewältigt werden mußte.
Hinter dem Tor hörte Schems seine Mutter unheilvolle Flüche gegen ihn entsenden. Seine Mutter wußte wer sonst außer ihrem Kleinen konnte das Tor so malträtieren. Schems` Mutter Emine, die von ihrem Mann Emo gerufen wurde, öffnete die kleine Eingangstür.
Schems` Mutter, eine große Frau um die fünfunddreißig, genauer wußte sie es nicht, stand vor den beiden Kindern.
“Wie siehst du denn aus, du Hundesohn! Und wer ist dieser Junge?”, sprach sie mit drohender Stimme.
“Mahmud heißt er. Ist mein Bruder da?”, wollte er wissen und lief mit schnellen Schritten zur steinernen Treppe, die in die Mauer, die den Hof umschloß eingelassen vom Innenhof des Hauses auf den Dach führte. Mahmud hielt sich dicht an ihm.
“Nein dein Bruder ist nicht da, dieser gottverdammte Nichtsnutz. Seit heute morgen ist er weg und wer weiß, wo er sich herumtreibt”, und verfiel zunehmend in ein Selbstgespräch. Schems hörte ihr gar nicht mehr zu. Seine Mutter hatte wieder eine ihrer Selbstgesprächen angefangen, in denen er aber vor allem sein älterer Bruder nicht gut bei wegkam. Manchmal mußte auch sein Vater in abwesenderweise viele Beschwerden über sich ergehen lassen.
Auf dem Dach angekommen, führte Schems Mahmud zu einem großen hölzernem Käfig. Beide Jungen versuchten durch die Spalten zwischen den Brettern aus denen der Käfig gezimmert war, die Tauben zu sehen. Es stank aus dem Käfig. In dem großzügig angelegtem Käfig hatten die Tauben genügend Platz um herumzulaufen. An die zwanzig dieser Vögel, die mit geschwellter Brust stolz im Käfig herumliefen, hatte Mahmud gezählt. Sie waren alle sehr heller Farbe und zierlich. Die Schwanz- und Fußpartien waren mit krausigen Federn bedeckt. Mahmud fand sie schön. Er hätte gerne nach einem der Tauben gegriffen, jedoch waren die Spalten des Käfigs zu eng für seine Hand. So steckte er den Zeigefinger durch einen Spalt, um eine dieser schönen Vögel wenigstens zu berühren. Im nächsten Augenblick spürte er ein unangenehmes zwicken am Finger und zog den Finger sofort aus dem Käfig. Eine der Tauben hatte mit ihrem Schnabel nach dem Finger geschnappt.
“Kann ich eine in die Hand nehmen?”, fragte Mahmud.
“Nein”, antwortete Schems.
“Und warum nicht?”
“Weil du nicht weißt, wie man sie hält.”, setzte Schems Mahmud entgegen.
“Ich habe zu Hause Küken, und die kann ich auch in die Hand nehmen.”
“Das sind aber nicht deine dummen Küken. Diese hier sind ganz besondere Tauben und die kann man nicht so anfassen, wie man einen Küken anfaßt”, fuhr Schems Mahmud lautstark an.
“Na, ihr beiden? Was stellt ihr mit meinen Tauben da an?”, wollte eine Stimme aus dem Hintergrund von der Treppe her wissen.
“Gar nichts”, schoß es aus Schems` Mund, “überhaupt nichts. Ich wollte Mahmud nur unsere Tauben zeigen.”
“Mahmud heißt dein neuer Freund also”, stellte Baha fest und setzte von neuem an: “Erstens sind es nicht unsere, sondern meine Tauben; zweitens sollst du mich fragen, bevor du dich an sie heran machst; und drittens will Mutter wissen, ob Mahmuds Eltern Bescheid wüßten, daß er hier ist.”
Eltern, ja meine Eltern, dachte Mahmud. Seine Eltern hatte er aus lauter Begeisterung für die Tauben völlig vergessen.
“Ja, meine Eltern wissen, das ich hier bin,” sagte Mahmud. Dabei schaute er Schems in die Augen. Sein Blick forderte Schems zum Schweigen auf.
Schems verstand.
“Stimmt es, daß diese hier in der Luft Rollen schlagen können?” wollte Mahmud von Schems` älterem Bruder Baha wissen.
“Na, klar! Es sind sogar Rückwärtsrollen,” war Bahas Antwort, der Stolz, den er Baha zwischen seine Worte legte war unüberhörbar. Zweifelsfrei liebte er seine Tiere.
“Kannst du für mich einpaar von den Tauben fliegen lassen”, fragte Mahmud vorsichtig.
“Nein, jetzt nicht,” antwortete Baha, “aber kurz vor der Abenddämmerung, wenn es kühler geworden ist, kannst du den beim Fliegen zu schauen.”
So lange noch? Er hatte keine Zeit um noch bis zur Abenddämmerung zu warten. Es waren noch mindestens zwei Stunden bis der Muezzin zum Abendgebet ausrufen würde. Außerdem hätte er schon längst am See sein müssen. Und seine Eltern... Was sollte er tun? Sofort gehen oder noch warten? Er stellte sich vor, wie seine Freunde ihn beneiden würden, wenn er von den Tauben erzählen könnte, die vor seinen Augen in der Luft Rollen geschlagen hatten. Alle würden sich um ihn scharren und gespannt auf seine Lippen schauen; und würden ihn auffordern alles aber auch alles zu erzählen - ohne dabei nichteinmal die unbedeutenste Kleinigkeit für sich zu behalten. Er konnte nicht weg, aber seine Eltern am See warten zu lassen kam auch nicht in Frage.
“Kann ich ein anderes mal zu euch kommen und die Tauben beobachten?”, frage er voller Verzweiflung Schems` großen Bruder.
“Klar”, antwortete dieser, zur Mahmuds Erleichterung.
Voller Zuversicht verabschiedete sich Mahmud von seinem neuen Freund Schems und seinem Bruder. Er nahm die Stufen der in die Wand eingelassenen Treppe, die zum Innenhof führte mit schnellen Schritten hinunter. Auf den letzten Stufen der Treppe angekommen bemerkte er mit einem Seitenblick, daß ein Mädchen auf dem Hof gebückt stand und die Blumen goß. Auf dem Innenhof angekommen, wollte er sich zur Eingangstür begeben. Das Mädchen hatte seine Schritte gehört und schaute sich nach den Geräuschen um. Hastig drehte sie sich um und kam aus der Hocke wieder auf die Beine. Sie standen sich gegenüber, kaum einen Schritt voneinander entfernt. Sie verblaßte vor Angst. Es kam öfter vor, daß ihre Brüder Freunde nach Hause brachten. Auf solch eine Begegnung war sie aber jetzt nicht gefaßt.
“Wer bist du?” schrie sie reflexartig.
“Ähh... Mahmud” stotterte er, dann brach eine Pause ein.
Ihre anfängliche Angst machte der aufkommenden Wut Platz. Die Blässe wich von ihr und ihre Wangen röteten sich. Mahmud wußte nicht, was er noch sagen sollte. Am liebsten würde er zur Tür rennen und davoneilen. Er konnte nicht. Die zu Stein verharrten Beine konnte er nicht bewegen, keinen Millimeter. Seinen Kopf konnte er nicht bewegen, seine Arme nicht und die Zunge schon gar nicht. So stand er bewegungslos und lautlos da. Dann kam die erlösende Stimme vom Dach. Baha rief seiner Schwester zu, sie solle ihm, Mahmud, die Tür öffnen und ihn nicht so anstarren.
Verschämt wurden beide aus ihrer Starre entlassen. Sie hastete zur Tür, öffnete sie und entließ Mahmud auf die Straße. Nachdem die Tür hinter ihm zugeschlagen wurde, drehte sich Mahmud um und starrte einige Sekunden auf die Tür, als könne er das Mädchen immer noch sehen. Plötzlich ging die Tür auf. Das Mädchen flüsterte mit rotglühendem Kopf “Ich heiße Zehra” und schloß die Tür erneut. Mahmud stand da, in der Hoffnung, sie könne die Tür nochmals öffnen. Ein kühler Wind fröstelte ihn wach und er rannte in Richtung der Handfläche seines Vaters.
Mahmuts lag im Bett, neben ihm sein jüngerer Bruder Hasan. Sie hatten beide genug Platz auf der großen Matratze, die mit Schafswolle gefüllt war. Sie war schön weich. Bis zum Kinn hatte er sich die Decke, die wie die Matratze mit Schafswolle gefüllt war, gezogen. Hier auf dem Dach konnte es sehr kühl werden in der Nacht. Und gegen Morgendämmerung sogar kalt wie im Winter. In den Sommermonaten schlief man auf dem Dach, da es im Haus sehr warm wurde. Mahmud liebte es auf der Matratze auf dem Dach zu schlafen, die seinem Bruder und ihm gehörte. Bis die kühlen Winde ihn in den Schlaf hauchten, beobachtete er die Sterne. Er zählte die Sternschnuppen mit seinem Bruder. Da Hasan immer vor ihm einschlief, blieb ihm genug Zeit zum Träumen, bis auch er einnickte. Die Nacht war wie immer zu dieser Jahreszeit klar und die Sterne funkelten stolz am Himmel. Er erinnerte sich an seinen Großvater, der vor zwei Jahren verstorben war. “Siehst du den großen Stern da? Den hellsten Stern von allen. Das ist der Vaterstern. Und die anderen sind seine Kinder.”
“Und wo ist der Mutterstern?” hatte Mahmud gefragt. Sein Opa hatte gelächelt und “Mutterstern ist die Sonne” hatte er geantwortet. “Und wenn die Kindersterne nicht artig sind und nicht auf die älteren hören wollen, dann schickt Vaterstern die Kinder runter auf die Erde.” “Auf die Erde?” hatte Mahmud gefragt. “Ich habe noch nie einen Stern in der Stadt gesehen” hatte er verärgert hinzugesetzt.
“Kannst du auch nicht. Sie sehen aus wie Menschen. Wie du und ich.”
Sie waren an dem Tag als Opa verstarb zusammen in der Stadt einkaufen gewesen. Sein Opa hatte seine alten Freunde besucht und sie waren beide auf dem Heimweg, als der Opa plötzlich stolperte und auf den Boden fiel. Er hatte schwer nach Luft geschnappt. Von überall her waren Menschen herbeigeeilt und hatten helfen wollen. Doch plötzlich lag sein Opa bewegungslos auf der Erde, verstaubt und wie er, Mahmud, es später erfuhr, tot. Er vermisste ihn. Seine schweifenden Gedanken ließen vor seinen Augen die Tauben, die er heute Morgen so gern in der Luft gesehen hätte, vorbeifliegen. Er stellte sich vor wie es wohl aussehen müßte, wenn die bezaubernden Vögel in der Luft Rollen schlugen. Die Vorstellung war schön und die paar Schläge, die er von seinem Vater bekam waren schon fast vergessen. Die Tauben dachte er, wie schön sie wohl flögen. Und wie schön das Mädchen war. Er hielt inne. Versuchte aus seinem Gedächtnis das Wenige, was er von ihr hatte, zusammen zu setzen. Dieses zierliche Mädchen auf dem Hof und später an der Tür, die wenigen Augenblicke. Ihre roten Wangen, ihre dunklen Augen und die dunklen Haare. Und die ersten Ansätze ihrer Weiblichkeit unter ihrem Kleid. Sie war hübsch. Er stellte sie sich vor und ließ sie mit den Tauben zusammen am nächtlichen Himmel zwischen den Sternen tanzen. Mit einem Lächeln im Gesicht schlief Mahmud ein, in der Hoffnung sie und die Tauben eines Tages wieder zu sehen.
[Beitrag editiert von: gürkan am 15.02.2002 um 10:00]