Firstborn
Warum ist alles so schwierig ?
Es fällt mir schwer, etwas zu erkennen, wenn es auch nur ein wenig weiter weg ist. Und selbst das, was ich erkennen kann, die Gegenstände ringsum, die riesigen Menschen, die mich anstarren, alles, was um mich herum ist - nur wenig davon macht Sinn für mich.
Es ist alles so riesengross - und ich bin so klein.
Jedesmal, wenn ich den Himmel sehe und die Sonne auf mich herableuchtet, habe ich Angst. Beinahe nichts ist so vertraut, wie es früher einmal war, als ich, von allem beschützt, den ganzen Tag im Meer lag und keine Sonne da war, die alles in Weiss tauchte. Ich habe Angst vor dieser gleissenden Helligkeit.
Meine Hände und Füße funktionieren noch nicht richtig. Ich will nach etwas greifen, aber ich kann es nicht richtig festhalten. Meine Finger sind zu schwach dafür, als wären sie noch nicht fertig. Ich bin so schwach , und alles ringsum wirkt so unglaublich gigantisch. Es ist noch nicht genug Kraft in meinen Fingern, aber ich fühle, dass es auch besser wird. Ich habe sogar schon diesen Gegenstand in meine Hand nehmen und wirklich festhalten können, losgelöst vom Boden, und wirklich in der Gewalt meiner Finger. Es war ein seltsames Gefühl - aber schön. Aber alles dauert und ich bin ungeduldig.
Ich will verstehen lernen, will wissen, warum mich die Welt anstarrt, warum die Dinge sind und warum ich inmitten allem bin. Ich will ich selbst sein, mich bewegen können, wie es andere tun, Herr über mich selbst sein. Will wissen, warum ich Angst vor der Sonne habe und Angst vor der Finsternis. Will wissen, ob meine Mama immer da ist, wenn ich in der Nacht aufwache und alles dunkel ist und mich bedrängt. Ich will so unglaublich viel, denn ich weiß nichts, ich verstehe nichts von dieser Welt.
Und dann wiederum möchte ich einfach nur gehalten werden, mich verkriechen in der kleinen Welt, geborgen sein, bis ich soweit bin zu verstehen.
Es ist alles so schwierig.
Das Gras unter meinen Händen und Füssen fühlt sich eigenartig an. Irgendwie ist es so wie ich, klein, zerbrechlich irgendwie, ausgeliefert. Ich muss meinen Kopf ins Gras legen, habe nicht mehr die Kraft meinen Körper vom Boden zu stemmen.
Alles wirkt so unendlich. Ich liege im Gras und die Welt um mich herum hört niemals auf. Für den Augenblick habe ich sogar die Sonne vergessen. Ich halte Mamas Finger fest in meiner Hand, kann sie neben mir liegen spüren. Ich habe sie sehr lieb, ich brauche sie. Sie vertreibt die Angst, sie ist immer da, nie fort von mir, sie hilft mir ein wenig zu verstehen. Sie sagt mir die Namen all dieser merkwürdigen Dinge, die überall sind, die mich umgeben. Sie hält diese riesige monsterartigen Menschen von mir fern, die irgendwie so gigantisch sind wie Mama selbst und dann wiederum sind sie ganz anders, denn sie machen mir Angst, weil ich sie nicht verstehen kann.
Die Luft hier draußen greift sich anders an. Es ist etwas in ihr, etwas, dass ich gerne in die Hand nehmen möchte, aber es bleibt nichts in der Hand zurück. Irgendetwas Lebendiges ist in der Luft, ich kann es spüren. Alles bewegt sich in ihr, nicht steht jemals still. Alles ist in Bewegung, wie ein Meer, aber das Gefühl auf der Haut ist anders, schwächer, so als ob die Luft nicht die Kraft hätte mich zu berühren.
Geräusche umspielen mich, die ich nicht begreifen kann. Sie kommen von Dingen, die ich nicht kenne, von denen ich nicht einmal den Namen weiß. Nur Mamas Stimme rettet mich davor, verlorenzugehen in diesem Geräuschemeer. Das und Musik.
Musik erinnert mich an das Meer, als alles noch dunkel war , aber vertraut. Es gab nicht viele Geräusche dort, nur das pochende Herz von Mama, das immer da war und das Pulsieren des Meeres ringsum. Aber an manchen Tagen lag eine Melodie im Meer, ganz ferne klang sie, als ob sie von der anderen Seite der Dunkelheit kommen würde. Es war wunderschön zuzuhören und sich treiben zu lassen.
Musik gibt es auch im Licht - das war eines der ersten Dinge, die ich gelernt habe. Es ist beruhigend für mich, manchmal höre ich die Melodie von damals, die Melodie des Meeres, manchmal andere Melodien und Klangfolgen, aber ich liebe die geschwungene Farbe dieser Töne. Es ist nicht einfach nur Sprache, es ist wie das Singen von Meer und Luft, leise, beunruhigend, sanft. Alles bewegt sich wieder , aber ich habe keine Angst mehr.
Alles ist so schwierig.
Ich möchte reden können, aber die Sprache scheint in meinem Mund steckenzubleiben. Ich möchte es rausstossen, aber ich kann es nicht, bin nie erfolgreich. Kann nichts sagen, nur Laute bilden sich, die niemand versteht. Ich will Musik sprechen, aber ich kann nur lachen und weinen. Alles scheint gefangen in mir und ich möchte es freilassen, alles. Doch ich kann nur empfangen und möchte doch Musik sein.
Mama küsst mich und die Berührung fühlt sich gut an. Es ist, als ob das Meer zurückkäme und die Welt wieder endlich ist und ich wieder die Grenzen erkennen kann in der Ferne. Es ist, als treibe ich wieder im Meer und gleichzeitig, als ob ich zum Meer werde.
Mein Kopf liegt im Gras, ich spüre die Halme in meinem Gesicht , unter meinen Händen und Füssen. Ich atme die lebendige Luft, die ich nicht berühren kann und halte die Augen wieder geschlossen.
Ich höre wieder ein wenig das Meer, kann meine Mama riechen. Ich wickle mich ein in ein Blatt und warte auf den nächsten Tag.
Alles ist so schwierig, aber bald werde ich verstehen.