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First day in Summer
Montag, 5:58 Uhr
Die Vögel zwitschern draußen, aufgewacht von der Sonne, die schon früh morgens über dem kleinen Dorf aufgegangen ist. Auch ich werde von dem hellen Licht, welches in mein Zimmer fällt, geweckt. Okay, es ist nicht wirklich mein Zimmer, da ich es mir mit zwei anderen Mädchen teilen muss. Sie sind nicht meine besten Freundinnen, aber dennoch ganz Ordnung. Hier im Kinderheim versuche ich mich mit jedem zu verstehen, da es sozusagen mein zuhause ist. Seit meinem zehnten Lebensjahr lebe ich hier, nachdem meine Mutter bei einem Autounfall starb. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, doch meine Kindheit war wundervoll. Sechs Jahre lang bedanke ich mich jeden Tag für die Zeit die ich mit meiner Mutter erleben durfte. Sechs Jahre lang ist sie nun tot. Damals unerwartet. Von jetzt auf gleich musste ich auf eigenen Beinen im Leben zurechtkommen.
Ich schaue auf meinen Wecker und genau in diesem Moment fängt er an wie wild zu piepsen.
6:00 Uhr.
Ein letztes Mal rolle ich mich auf die andere Seite und stehe dann schnaufend auf. Immerhin, nur noch sechs Wochen bis zu den Sommerferien. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, schon allein weil ich erst zwei Wochen hinter mir habe und es jetzt schon leid bin die ganze Zeit zu lernen und den Druck vor den Arbeiten auszuhalten.
Ich stehe auf, dusche schnell und ziehe mir eine lange schwarze Hose mit einem dünnen, lockeren Pullover an. Dann laufe ich mit noch feuchten Haaren und meinem Schulrucksack auf dem Rücken, in dem die Hälfte der Bücher die ich brauche nicht drin sind, da sie irgendwo unter meinem Bett verschwunden sind, in den gemeinsamen Essensraum. Dort setze ich mich zu meinen Freunden an den Tisch, nehme mir eine Scheibe Brot aus dem Korb und schmiere Butter darauf.
Meine Freunde bestehen, zumindest hier im Kinderheim und hauptsächlich auch in der Schule nur aus Jungen, da ich mich noch nie gut mit Mädchen verstanden habe. Bis auf May. Sie lebt mit ihrer Familie ganz in der Nähe und kennt mich in und auswendig. Schon damals, zu der Zeit als meine Mutter starb nahmen sie mich auf und ich wohnte wochenlang mit May in einem Zimmer. Der Boden auf dem ich schlief war hart, doch das störte nicht. Wir waren unschuldige Kinder, glücklich wenn man uns ein Bonbon zusteckte und traurig wenn die Lieblingspuppe einen Arm verlor.
Die meisten meiner Freunde gehen auf eine andere Schule in einem Nachbarort, der etwas entfernt liegt. Nur Jake, Connor, Blue, May und ich gehen auf die Schule in der Nähe des Kinderheims.
6:45 Uhr.
Ich beiße gerade zum zweiten Mal in mein Brot als mich ein Blitz durchfährt. Es ist kein körperlicher Schmerz, doch aufeinmal fühle ich mich vollkommen ausgepumpt. Ich starre auf die Wand gegenüber von mir und versuche das Unwohlgefühl auszublenden.
"Alles in Ordnung?", fragt Connor und schaut mich wunderlich an.
"Ja. Mir ist grad nur irgendwie ganz komisch.", stottere ich und lege mein Brot zurück auf den Teller.
"Ist dir schlecht?", hakt er nach und mustert mich.
"Nein, ist wieder in Ordnung.", sage ich, doch es ist nicht wieder in Ordnung. Ich habe nur nicht das Verlangen danach, zu erklären warum es mir nicht gut geht, da ich es selbst nicht weiß. Um nicht weiter reden zu müssen, esse ich weiter und lausche den Gesprächen der anderen. Jake und Connor beschweren sich über die vielen Hausaufgaben die unsere Klassenlehrerin aufgegeben hat, die wir aus Protest für heute nicht gemacht haben und Paul, Blues bester Freund, erzählt von den angeblich schrecklichen Lehrern seiner Schule.
7:00 Uhr.
Mein Handy klingelt und ich krame es schnell aus der Hosentasche.
"Handy aus!", ruft einer der Betreuer von einem anderen Tisch, doch ich schaue trotzdem auf mein Display. Die Nummer der Mutter von meiner besten Freundin May erscheint und ich laufe schnell aus dem Raum, um dranzugehen.
"Hallo?", sage ich und lehne mich möglichst weit in eine Ecke, damit keiner der Betreuer mich sieht.
"Becka? Hier ist Verena, die Mutter von May.", ihre Stimme klingt brüchig und urplötzlich fangen meine Beine an zu zittern. Was ist denn los mit mir? Erst dieses komische Gefühl und jetzt auch noch das.
Sie fährt fort.
"May ist...sie ist...Heute Morgen bin ich in ihr Zimmer gekommen und sie hat nicht mehr geatmet. Die Ärzte sagen eine unbekannte Krankheit hat bei ihr zum Tod geführt". Ich kann hören wie sie versucht das Weinen zu unterdrücken.
"Aber..", stottere ich und das Gefühl von eben fährt erneut durch meine Knochen.
"Ich weiß, dass du ihre beste Freundin bist, äh, warst. Deswegen dachte ich du solltest es zuerst wissen.", im Hintergrund höre ich wie ein Baby anfängt zu schreien und die Stimme wirkt von jetzt auf gleich sehr gestresst.
"Ich muss auflegen. Die Schule weiß Bescheid. Es tut mir sehr leid.", sagt sie und legt auf, ohne dass ich mich noch verabschieden kann.
7:10 Uhr.
Ihre Stimme dröhnt noch immer in meinem Kopf.
May ist Tod.
Meine May.
Meine beste Freundin.
Wir haben alles zusammen erlebt, sind gemeinsam aufgewachsen. Haben erst mit Sand und Schlamm, später dann mit Alkohol und Drogen experementiert.
Wir waren Ying und Yang.
Und jetzt sehe ich sie nie wieder?
Ich fühle mich vollkommen leer, kann nicht einmal weinen. Betäubt schalte ich mein Handy aus und stecke es zurück in meine Hosentasche.
7:20 Uhr.
"Wir gehen schonmal, kommen sonst noch zu spät und ich hab schon zu viele Fehlzeiten. Kommst du mit?", fragt Jake, der mit den beiden anderen Jungs aus dem Essensraum gekommen ist und stellt mir meinen Rucksack vor die Füße.
Ich nicke nur, hebe den Rucksack vom Boden auf und hänge ihn kraftlos über eine Schulter.
Wir holen unsere Brote für die Schule und gehen dann aus dem Gebäude. Die Schule ist nicht weit entfernt, daher können wir zu Fuß gehen. Es gibt zwar auch einen Bus, allerdings finden die Betreuer es wäre eine Geldverschwendung den Bus zu nehmen, wenn man auch laufen kann.
"Alles in Ordnung?", fragt Connor nach der Hälfte der Strecke und schaut mich an.
Ich schrecke aus meinen Gedanken an May hoch. Wie soll ich es ihnen sagen? Die Jungs haben zwar nicht so viel mit ihr zu tun, und doch ist sie ein Teil von uns.
"Jaja.", stottere ich und öffne das Tor zum Schulhof.
Ich hoffe dass Leon heute in der Schule ist. Er geht in meine Klasse, ist auch ein guter Kumpel von den Jungs und mein Freund. Wir sind seit über einem Jahr zusammen und er ist der einzige, neben May, der so gut wie alles mit mir erlebt hat. Ich liebe ihn sehr, auch wenn wir beide viele persönliche Probleme haben, die wir immer wieder versuchen gemeinsam zu lösen.
7:45 Uhr.
Jake, Connor, Blue und ich laufen die Treppe nach oben zu unserem Klassenraum und gehen dann den Gang entlang. Schon auf dem Weg dorthin kommen uns mehrere Lehrer entgegen.
Frau Beerens, unsere Klassenlehrerin, die gleichzeitig bei uns Mathe und Geschichte unterrichtet und auch Vertrauenslehrerin ist, Herr Furi, unser Deutschlehrer, und Miss Sallow, die Schulleiterin.
Wir sind gleichzeitig an der Klassentür und bleiben gegenüber stehen.
"Wat's denn hier los?", flüstert Jake zu Connor und lacht.
Dafür hätte ich ihm am liebsten mitten ins Gesicht geschlagen, doch ich kann es ihm nicht verübeln. Sie wissen nichts, denken es wäre alles super. Wenn ich es nicht wüsste, hätte ich wohl genauso reagiert.
"Du weißt es?", fragt Frau Beerens und schaut mich ernst an.
Ich nicke und schlucke die Angst vor der kommenden Situation herunter.
8:20 Uhr.
Mein Blick wandert durch die Klasse und ich mustere die weinenden Gesichter. Die Jungs versuchen keine Gefühle zu zeigen, doch die meisten fangen wie die Mädchen an zu weinen.
Alles Lügner.
Noch vor ein paar Tagen verspotteten die meisten Mädchen May und mich, aus unnötigen Gründen und jetzt tun sie so als wären sie die besten Freunde gewesen.
Die Schulleiterin ist nach ein paar Worten in denen sie ihr gespieltes Mitleid ausdrückte wieder gegangen und nun stehen wir mit Frau Beerens und Herr Furi in einem Kreis und sprechen über Gott und den Glauben.
Lächerlich.
Klar, ich glaube an Gott, oder respektiere zumindest jeden Glauben den es gibt, doch warum wenden sich so viele Menschen erst an Gott wenn irgendetwas Schlimmes passiert ist? Kann man nicht in guten und in schlechten Zeiten zu ihm beten?
Die Klasse spricht durchgehend über verstorbene Großeltern oder Tanten und Onkels, doch meine Gedanken sind nur bei May.
Die gemeinsame Zeit mit ihr ist vorbei. Einfach vorbei. Ich kann es immer noch nicht glauben.
8:28 Uhr.
Ich beuge mich über die Toilettenschüssel und übergebe mich. Mein ganzer Körper bebt und meine Hände zittern wie wild.
Ich halte das nicht mehr aus. Dieser Schmerz. Dieser innere Schmerz den man mit dem stärksten Morphium nicht lindern kann. Mein Herz fühlt sich an wie ein großes schwarzes Loch, dass alle positiven Gefühle in Leere verwandelt.
Nach dem Gespräch über die Verstorbenen bin ich aus der Klasse gegangen und auf die Toilette gerannt. Und nun hocke ich hier. Erschöpft und überwältigt vom Leben, eher gesagt vom Tod.
Ich spüle ab und lasse mich neben der Toilette auf den Boden gleiten. Eine Tür wird geöffnet und das Geräusch von hohen Schuhen, die auf dem Boden klackern, kommt immer näher.
"Alles in Ordnung?", Frau Beerens setzt sich genau mir gegenüber hin und lehnt sich auch gegen eine Wand. Sie kann mir genau in die Augen sehen, da ich meine Tür in der Eile nicht geschlossen habe.
Ich antworte nicht, stattdessen lehne ich meinen Kopf gegen die Wand und starre an die Decke.
"Ihr ward beste Freunde, nicht wahr?", fragt sie vorsichtig und reicht mir ein Taschentuch, mit dem ich mir den Mund abwische.
Ich nicke.
"Hast du schon einmal jemand wichtigen in deinem Leben verloren?", hakt sie nach und schaut mich weiterhin an.
"Ja, meine Mutter.", antworte ich belanglos und stehe auf. "Mir geht es gut.", füge ich hinzu, laufe zum Waschbecken und stütze meine Hände darauf ab.
"Es kann sehr helfen nach so einem Verlust darüber zu reden. Gerade wenn man eine so gute Verbindung zu ihr hatte." Frau Beerens redet immer weiter auf mich ein.
"Mir geht es gut!", wiederhole ich diesmal lauter und stelle mich ihr gegenüber. "Außerdem habe ich keine Lust auf so ein psycho Gerede."
Ich drehe mich um und laufe zurück in Richtung Klassenraum.
"Okay.", höre ich Frau Beerens hinter mir verwirrt sagen, doch ich bin schon an der Klasse angekommen und gehe hinein.
Dort sitzen alle in einem Kreis um eine Kerze.
Ich rolle mit den Augen und gehe auf Leon zu, der im Schneidersitz gegen die Wand gelehnt sitzt. Ohne zu zögern setze ich mich auf ihn und er schlingt die Arme um meinen Bauch.
"Ich liebe dich. Egal was passiert.", flüstert er und ich kuschel mich noch weiter in seine Arme.
In diesem Moment kommt Frau Beerens zurück in den Klassenraum, nimmt einen Eimer, stellt ihn in die Nähe von mir (wohl aus Sicherheit, damit ich ihr nicht aus Wut vor die Füße kotze) und setzt sich neben Herr Furi auf den Boden.
Nun geht das große Reden wieder los, doch ich starre nur aus dem Fenster, um den Gedanken an May nachzugehen.
9:30 Uhr.
Endlich klingelt es zur großen Pause. 15 Minuten Luft tanken und versuchen die heulenden Mädchen auszublenden, doch als ich aus der Tür gehen möchte werde ich aufgehalten.
"Warte mal bitte Becka. Wirklich wieder alles in Ordnung? Du musst deine Gefühle nicht in dir drin behalten, wir haben nichts dagegen wenn Menschen weinen.", sagt Frau Beerens und Herr Furi nickt zustimmend.
"Ja. Es ist alles gut.", antworte ich genervt, doch mein Blick wird schon wieder leer und May taucht vor meinen Augen auf.
Ich muss den anderen Bescheid sagen, sonst erfahren sie es noch über das Internet.
"Kann ich kurz jemanden anrufen?", frage ich nun und die beiden Lehrer nicken nur.
Ich gehe in den hinteren Teil der Klasse und wähle die Nummer von Liam, der zusammen mit uns im Kinderheim lebt und auch ein guter Freund von uns ist.
"Becka? Es ist Schule, ich kann jetzt nicht lange telefonieren.", ruft Liam durchs Handy und versucht die Hintergrundstimmen zu übertönen. Er ist zwar wie viele andere aus dem Heim auf einer Privatschule, doch die Pausen verlaufen dort trotzdem nicht stiller.
"May ist tot.", sage ich und es wird ruhig.
"Was?"
"May ist tot.", wiederhole ich und schlucke die Tränen herunter, die mir jetzt das erste mal in die Augen steigen.
"May ist tot.", höre ich ihn zu den anderen sagen und es wird im Hintergrund immer stiller.
"Ich halts hier nicht mehr aus.", flüstere ich und hoffe, dass es keiner der Lehrer gehört hat, doch Herr Furi ist sowieso gerade aus dem Raum gegangen.
"Musst du ja sowieso nicht mehr lange."
"Was? Wieso?"
"Der Heimleiter hat doch.. Hat er noch nicht mit dir geredet?"
"Nein. Jetzt sag schon, was ist denn los?"
"Du wirst in ein anderes Heim geschickt, sie denken du bist die richtige für ihre Methode die sie dort anwenden, um Kinder ohne Eltern glücklich zu erziehen.", erklärt Liam.
"Aber das können sie nicht machen!!", ich schreie schon fast in mein Handy.
"Sorry, muss Schluss machen. Hier kommt ein Lehrer.", sagt er noch und schon hat Liam aufgelegt.
"Mist.", fluche ich und schmeiße mein Handy schon fast auf den Tisch, sodass es erst auf der anderen Seite liegen bleibt.
Frau Beerens kommt auf mich zu und hockt sich vor mich.
"Probleme?", fragt sie in einer typisch Therapeutensprache.
"Ich möchte nicht darüber reden.", schon wieder steigen mir Tränen in die Augen.
Frau Beerens nimmt mein Gesicht in die Hände und streicht mit ihren Daumen unter meinen Augen her.
"Hier ist niemand außer ich. Du kannst ruhig weinen."
Und es wirkt wirklich. Aufeinmal schießen die Tränen nur so aus meinen Augen und ich fange an zu schluchzen.
"Es tut so weh.", meine Stimme bebt und Frau Beerens nimmt mich in den Arm.
"Es ist ganz normal. Am Anfang tut es immer weh, es wird immer wehtun, aber man lernt damit zu leben und trotzdem glücklich zu sein. Du bist stark, du schaffst das!", flüstert sie und streicht mir mit der Hand über den Kopf.
"Okey.", ich versuche das Beben in meiner Stimme zu kontrollieren, doch meine Hände zittern nur noch mehr.
Ich weine.
Ich weine so lange bis keine Tränen mehr übrig sind.
Ja, der Schmerz wird erträglich, aber ein kleines Loch in meinem Herzen wird immer schmerzen.
Doch vielleicht wird es irgendwann verheilen und man vergisst, dass dort eine Wunde ist.
Eine Narbe wird immer bleiben.
Entstanden am ersten Tag im Sommer.