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Finsternis
Aber jetzt sah man sie kaum noch. Die Lücke. Die Dächer sah man auch kaum noch, so dunkel war es - seit die Laternen aufgehört hatten zu leuchten, waren die Straßen dunkel geworden, dunkel und einsam und seltsam still; als hätte jemand den Ton ausgestellt, wiegten sich Halme, Zweige, Bäume lautlos; unhörbar für sie hinter dem Fenster, ganz gleich, ob es offen war oder nicht; alles überdeckt vom Klang der Stille, die nur durchsetzt war vom Rauschen des Windes in der Luft. Zwischen den Häusern heulten sie. Aber abgesehen davon war es still, die Finsternis, so still wie sie dunkel war, so farblos, so lautlos. So leer.
Es war nicht kalt. Sie hatten gesagt, es würde kalt werden, aber das wurde es nicht. Sie hatten es gesagt, bevor die Finsternis gekommen war; aber was hatten sie schon gewusst, bevor sie gekommen war, was hatten sie damals schon ahnen, was hatten sie schon sagen können, damals, als die Zeit noch verrann wie etwas, das man anhalten konnte; als sie noch eine Bedeutung hatte. Oder als man es wenigstens noch glaubte.
Was war das schon.
Was waren das nur für Zeiten gewesen; hätte sie jemand gefragt, sie hätte nicht sagen können, was die Antwort war. Hätte noch jemand gefragt, sie hätte nicht antworten können; aber es fragte auch niemand mehr. Niemand sagte noch etwas. Niemand sprach; es musste nichts gesagt werden. In der Dunkelheit verlieren sich die Worte, und Finsternis schluckt alle Echos.
Alles schluckt sie. Und frisst und frisst und frisst immer mehr, verschlingt und reißt mit sich und packt und lässt nicht mehr los, danach fragt niemand, so wie niemand mehr nach irgendetwas fragt; wie soll Finsternis etwas loslassen, wenn da doch nichts mehr ist, das losgelassen werden könnte.
Am Anfang war die Hoffnung. Hoffnung machte Angst; aber das war noch in der Dämmerung. Als die Stille noch nicht da war und der Himmel noch Farben hatte und sie selbst noch einen Raum. Die Tiere waren verschwunden, mit dem letzten Lichtstrahl hatte sie sie nicht mehr gesehen, nicht gehört. Vielleicht waren sie weg. Das Haus hatte sie nicht mehr verlassen, seit die Ewigkeit begonnen hatte, und sie hatte auch niemand anderen mehr gesehen, seitdem, nicht einmal einen Schatten am Fenster, nur die Dunkelheit und nichts als das. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wiegte sich das Gras im Wind. Lautlos, gespenstisch fast, aber nicht unheimlich. Als sei es traurig. Zögernd, als gäbe es eine Frage. Fragend, als gäbe es eine Antwort. Wartend, als gäbe es ein Morgen.
Es hatte nicht lange gedauert, aber genau konnte sie es nicht mehr sagen. Am Anfang war es nur der Süden gewesen, den die Finsternis umhüllt hatte, die Kontinente, die Inseln, die Meere und alles darauf und darin, eingefroren in pechschwarzer Dunkelheit. Dann gab es Licht; Licht, so viel, dass man kaum atmen konnte, so viel, zu viel um zu denken. Es sei nichts, sagte man. Die Erde habe sich gedreht, jetzt sei der Norden im Licht und der Süden ab dem Äquator in der Dunkelheit, als hätte jemand die Erde genommen und in Pech getaucht.
Mit dem Süden voran. Der Norden hatte nur ein wenig länger gebraucht; schwer war die Erde gewesen, mit all ihren Klängen und Stimmen und all ihrem Leben und Geschichten und Hoffnungen und Ängsten und mit all ihrem Licht; mit all ihrem Licht, all das Licht hatte sie schwer gemacht, schwerer und schwerer und schwerer, bis sie versank.
Sie erinnerte sich noch fast daran. Es schien ewig her zu sein; wie alles, alles schien ewig her zu sein. Ihre Kindheit, das Gestern, die Zeit vor ihrer Geburt; die Ewigkeit war zu einer unbestimmten Masse geworden, nicht sicher, ob sie sie erdrückte oder zerriss, sie wusste nur, dass sie zu groß war für all das, was ihr noch geblieben war, egal, wie viel sie zu sein glaubte. Wie viel sie hatte; alles versank, versank mit dem Licht in Bedeutungslosigkeit, versank mit dem Sinn im Schwarz, endlosen Schwarz, in der Nacht, die kam und niemals gehen würde, im Ende von allem, das doch nichts war als das sanfte Erlischen der letzten Glut eines Feuers, das schon viel zu lange gebrannt hatte für alle Ewigkeiten dieser Welt.
Und dann war es still geworden. Still um sie, still um die Welt. Daran erinnerte sie sich nicht mehr. Sie hatte es vermutet. Gewusst, eigentlich; es hatte sie nicht genug überrascht, um sich den Moment merken zu können. Nicht genug erschrocken, nicht genug verstört. Es hatte ihr nicht einmal Angst gemacht; wovor noch Angst haben, wenn selbst die schlimmsten Dinge aus ihren Träumen nicht mehr schreien, wenn sie schlief. Wenn die Stille gekommen war. In der Stille musste man keine Furcht mehr haben. In der Stille musste man nichts mehr tun; das war das Einzige, das da war, seit sich alles andere aufgelöst hatte; das Wissen, nichts mehr tun zu müssen. Nichts mehr tun zu können.
Der Frieden war geschaffen. Sie musste ihn nur noch ergreifen.