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Finsternis

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16.09.2020
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Finsternis

Von hier aus hatte sie die Dächer sehen können. Rot waren sie gewesen, damals. In der Nacht wirkten sie schwarz, schwärzer noch als der Himmel, schwärzer noch als die Finsternis in ihrem Zimmer. Ein Baum hatte gestanden, dort, wo jetzt die schwarzen Dächer waren, das fiel ihr immer auf, wenn sie aus dem Fenster sah, wobei das nicht allzu oft war, nur jetzt eigentlich, aber immer, wenn sie aus dem Fenster blickte, fiel es ihr auf, diese Lücke, die in ihrer Kindheit so geschlossen gewesen war, als hätte der Baum dort immer schon gestanden, eine alte Birke, mit hängenden Ästen und grüngrauem Laub, silberglänzend in der Sonne, riesengroß und gleichzeitig beinahe zierlich an den Zweigen. Auf dem alten Foto war sie noch, von ihren Großeltern, als sie das Haus gebaut hatten, war die Birke schon da gewesen, genauso alt, genauso groß, genauso zierlich, nur ganz in grau; und eines Tages war sie weg gewesen. Sie hatte es gar nicht bemerkt. Sie waren gekommen und hatten sie weggenommen, die Birke.

Aber jetzt sah man sie kaum noch. Die Lücke. Die Dächer sah man auch kaum noch, so dunkel war es - seit die Laternen aufgehört hatten zu leuchten, waren die Straßen dunkel geworden, dunkel und einsam und seltsam still; als hätte jemand den Ton ausgestellt, wiegten sich Halme, Zweige, Bäume lautlos; unhörbar für sie hinter dem Fenster, ganz gleich, ob es offen war oder nicht; alles überdeckt vom Klang der Stille, die nur durchsetzt war vom Rauschen des Windes in der Luft. Zwischen den Häusern heulten sie. Aber abgesehen davon war es still, die Finsternis, so still wie sie dunkel war, so farblos, so lautlos. So leer.

Es war nicht kalt. Sie hatten gesagt, es würde kalt werden, aber das wurde es nicht. Sie hatten es gesagt, bevor die Finsternis gekommen war; aber was hatten sie schon gewusst, bevor sie gekommen war, was hatten sie damals schon ahnen, was hatten sie schon sagen können, damals, als die Zeit noch verrann wie etwas, das man anhalten konnte; als sie noch eine Bedeutung hatte. Oder als man es wenigstens noch glaubte.

Was war das schon.

Was waren das nur für Zeiten gewesen; hätte sie jemand gefragt, sie hätte nicht sagen können, was die Antwort war. Hätte noch jemand gefragt, sie hätte nicht antworten können; aber es fragte auch niemand mehr. Niemand sagte noch etwas. Niemand sprach; es musste nichts gesagt werden. In der Dunkelheit verlieren sich die Worte, und Finsternis schluckt alle Echos.

Alles schluckt sie. Und frisst und frisst und frisst immer mehr, verschlingt und reißt mit sich und packt und lässt nicht mehr los, danach fragt niemand, so wie niemand mehr nach irgendetwas fragt; wie soll Finsternis etwas loslassen, wenn da doch nichts mehr ist, das losgelassen werden könnte.

Am Anfang war die Hoffnung. Hoffnung machte Angst; aber das war noch in der Dämmerung. Als die Stille noch nicht da war und der Himmel noch Farben hatte und sie selbst noch einen Raum. Die Tiere waren verschwunden, mit dem letzten Lichtstrahl hatte sie sie nicht mehr gesehen, nicht gehört. Vielleicht waren sie weg. Das Haus hatte sie nicht mehr verlassen, seit die Ewigkeit begonnen hatte, und sie hatte auch niemand anderen mehr gesehen, seitdem, nicht einmal einen Schatten am Fenster, nur die Dunkelheit und nichts als das. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wiegte sich das Gras im Wind. Lautlos, gespenstisch fast, aber nicht unheimlich. Als sei es traurig. Zögernd, als gäbe es eine Frage. Fragend, als gäbe es eine Antwort. Wartend, als gäbe es ein Morgen.

Es hatte nicht lange gedauert, aber genau konnte sie es nicht mehr sagen. Am Anfang war es nur der Süden gewesen, den die Finsternis umhüllt hatte, die Kontinente, die Inseln, die Meere und alles darauf und darin, eingefroren in pechschwarzer Dunkelheit. Dann gab es Licht; Licht, so viel, dass man kaum atmen konnte, so viel, zu viel um zu denken. Es sei nichts, sagte man. Die Erde habe sich gedreht, jetzt sei der Norden im Licht und der Süden ab dem Äquator in der Dunkelheit, als hätte jemand die Erde genommen und in Pech getaucht.

Mit dem Süden voran. Der Norden hatte nur ein wenig länger gebraucht; schwer war die Erde gewesen, mit all ihren Klängen und Stimmen und all ihrem Leben und Geschichten und Hoffnungen und Ängsten und mit all ihrem Licht; mit all ihrem Licht, all das Licht hatte sie schwer gemacht, schwerer und schwerer und schwerer, bis sie versank.

Sie erinnerte sich noch fast daran. Es schien ewig her zu sein; wie alles, alles schien ewig her zu sein. Ihre Kindheit, das Gestern, die Zeit vor ihrer Geburt; die Ewigkeit war zu einer unbestimmten Masse geworden, nicht sicher, ob sie sie erdrückte oder zerriss, sie wusste nur, dass sie zu groß war für all das, was ihr noch geblieben war, egal, wie viel sie zu sein glaubte. Wie viel sie hatte; alles versank, versank mit dem Licht in Bedeutungslosigkeit, versank mit dem Sinn im Schwarz, endlosen Schwarz, in der Nacht, die kam und niemals gehen würde, im Ende von allem, das doch nichts war als das sanfte Erlischen der letzten Glut eines Feuers, das schon viel zu lange gebrannt hatte für alle Ewigkeiten dieser Welt.

Und dann war es still geworden. Still um sie, still um die Welt. Daran erinnerte sie sich nicht mehr. Sie hatte es vermutet. Gewusst, eigentlich; es hatte sie nicht genug überrascht, um sich den Moment merken zu können. Nicht genug erschrocken, nicht genug verstört. Es hatte ihr nicht einmal Angst gemacht; wovor noch Angst haben, wenn selbst die schlimmsten Dinge aus ihren Träumen nicht mehr schreien, wenn sie schlief. Wenn die Stille gekommen war. In der Stille musste man keine Furcht mehr haben. In der Stille musste man nichts mehr tun; das war das Einzige, das da war, seit sich alles andere aufgelöst hatte; das Wissen, nichts mehr tun zu müssen. Nichts mehr tun zu können.

Der Frieden war geschaffen. Sie musste ihn nur noch ergreifen.​

 

Hallo, @Mina Dornthal! Ich habe gerade überrascht festgestellt, dass dein Text schon seit Samstag online und immer noch unkommentiert ist. Das wollte ich unbedingt ändern.

Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen. Ich finde, dass der Text in seiner Gesamtheit etwas sehr Poetisches hat und so etwas mag ich sehr. Gerade in so kurzen Geschichten finde ich, ist die Sprache etwas sehr Wichtiges. Es mag eine "unpopular opinion" sein, aber ich finde, die Sprache, die Ausdrucksweise, die "Färbung" eines so kurzen Textes ist sogar wichtiger, als der Plot. Allerdings finde ich nicht nur die sprachliche Färbung deines Textes sehr gelungen, sondern auch den Inhalt. Der Text wirft bei mir als Leser viele Fragen auf und beantwortet sie nach einmaligem Lesen nicht und das hat mich animiert, ihn ein zweites und drittes Mal zu lesen, weil ich dem Geheimnis des Textes auf den Grund gehen wollte. Ich mag solche Geschichten, wo gemutmaßt werden kann, deren Inhalt nicht so eindeutig ist wie ein Hinweisschild, sondern mysteriös und "verspielt".
Man kann jedenfalls guten Gewissens behaupten, dass du sehr gut schreiben kannst.

Nun zu ein paar Detaildingen:

Ein Baum hatte gestanden, dort, wo jetzt die schwarzen Dächer waren, das fiel ihr immer auf, wenn sie aus dem Fenster sah, wobei das nicht allzu oft war, nur jetzt eigentlich, aber immer, wenn sie aus dem Fenster blickte, fiel es ihr auf, diese Lücke, die in ihrer Kindheit so geschlossen gewesen war, als hätte der Baum dort immer schon gestanden, eine alte Birke, mit hängenden Ästen und grüngrauem Laub, silberglänzend in der Sonne, riesengroß und gleichzeitig beinahe zierlich an den Zweigen.
Diesen Satz fand ich persönlich zu lang. Er war mir zu kompliziert formuliert und sprach mehrere Dinge an, sodass ich ihm irgendwie nicht richtig folgen konnte. Zuerst geht es darum, dass deine Protagonistin aus dem Fenster schaut, was nicht häufig der Fall sei. Dann geht es um diese Lücke, die dort jetzt ist, die in ihrer Kindheit noch nicht da war, und dann beschreibst du zu allem Überfluss auch noch das Aussehen des Baums. Da könntest du meines Erachtens nach mindestens zwei, oder besser sogar drei Sätze daraus machen.

beinahe zierlich an den Zweigen.
Die Formulierung finde ich sehr schön und gelungen.

Auf dem alten Foto war sie noch, von ihren Großeltern, als sie das Haus gebaut hatten, war die Birke schon da gewesen, genauso alt, genauso groß, genauso zierlich, nur ganz in grau; und eines Tages war sie weg gewesen.
Dieser Satz ergibt irgendwie keinen Sinn. Vielleicht hast du da unabsichtlich etwas herausgelöscht?

alles überdeckt vom Klang der Stille, die nur durchsetzt war vom Rauschen des Windes in der Luft. Zwischen den Häusern heulten sie. Aber abgesehen davon war es still, die Finsternis, so still wie sie dunkel war, so farblos, so lautlos. So leer.
Sehr schöne, poetische Formulierungen.

Und dann war es still geworden. Still um sie, still um die Welt. Daran erinnerte sie sich nicht mehr. Sie hatte es vermutet. Gewusst, eigentlich; es hatte sie nicht genug überrascht, um sich den Moment merken zu können. Nicht genug erschrocken, nicht genug verstört. Es hatte ihr nicht einmal Angst gemacht; wovor noch Angst haben, wenn selbst die schlimmsten Dinge aus ihren Träumen nicht mehr schreien, wenn sie schlief. Wenn die Stille gekommen war. In der Stille musste man keine Furcht mehr haben. In der Stille musste man nichts mehr tun; das war das Einzige, das da war, seit sich alles andere aufgelöst hatte; das Wissen, nichts mehr tun zu müssen. Nichts mehr tun zu können.

Diesen letzten Absatz finde ich besonders gelungen. Ich bin für gewöhnlich kein Freund von Wortwiederholungen - außer, sie werden bewusst als Stilmittel eingesetzt, wie es hier der Fall ist. Ich finde, die ganzen Wiederholungen streichen das Poetische in deinem Text sehr gut hervor. Dadurch liest sich dieser letzte Absatz eben wirklich fast wie ein Gedicht.

Wie es mit den formalen Dingen wie Beistrichsetzung, etc. in deinem Text aussieht, kann ich dir leider nicht mit letzter Gewissheit sagen. Mir ist jedenfalls nichts aufgefallen, was mich beim Lesen gestört hätte. Aber dieses Urteil überlasse ich lieber den "Profis" auf diesem Gebiet.

Wünsche dir einen schönen Start in die Woche,

@IAmTheMoon

 

Hallo @IAmTheMoon,

vielen lieben Dank für dein ausführliches Feedback! Es freut mich wirklich sehr, dass dir die Geschichte so sehr gefallen und dich interessiert hat. Vielen Dank auch für die Hinweise - wenn ich so darüber nachdenke, passiert es mir wahrscheinlich ziemlich oft, dass meine Sätze zu lang oder zu verschachtelt werden, und in dem Fall wäre es mir nicht einmal aufgefallen. Ich werde es mir auf jeden Fall zu Herzen nehmen und daran arbeiten.
Noch einmal vielen, vielen Dank für deinen langen und konstruktiven Kommentar. Er hat den Wochenstart gleich etwas schöner gemacht. (:

Dir auch noch eine gute Woche!

@MinaDornthal

 

Gude @Mina Dornthal,
du erzählst von einer Welt, die in Dunkelheit und Stille versinkt, was die Protagonistin jedoch nicht unbedingt verunsichert, sondern die Welt für sie friedlicher macht - darin liegt wohl gerade auch der "Horror". Eine Stärke deines Textes ist m.E. der Stil. Gerade diese mäandernden Sätze, die dem Gedankenstrom der Protagonistin zu folgen scheinen, wenn sie von den Dächern zur Birke und wieder zurückdenkt, haben mir gut gefallen. Der Anfang wirkte dadurch auch für mich greifbarer, da ist etwas, was die Figur beim Blick aus dem Fenster sehen kann.
Danach wird der Text für mich allgemeiner. Es geht um die Zeit und darum, was berichtet und erwartet wurde. Hier hätte ich mir direkten Bezug zur Figur gewünscht, damit es einen stärker trifft, dass in dieser Welt alles verschluckt wird und ihre Reaktion irritiert. Sie könnte bspw. Erinnerungen an "verlorene" Orte haben oder an konkrete Personen denken, die x oder y zu der kommenden Finsternis gesagt haben. Die "Kindheit" wird angesprochen, auch "die schlimmsten Dinge" aus den Träumen - das sind so allerdings sehr allgemeine Stichpunkte, sodass ich keinen direkten Bezug zu dieser Figur und ihrer dahinschwindenden Welt aufbauen kann. Dadurch ist es für mich auch nicht unbedingt "Horror", da die Schlagkraft fehlt. Ein Stück weit passt diese Glattheit zur Gelassenheit, mit der dem Verschwinden begegnet wird - aber ich denke, dein Text könnte gewinnen, wenn man stärker bei der Figur ist, die Dinge klarer sieht, die verloren gehen. Dadurch würde auch der Kontrast zur Wahrnehmung als "Frieden" größer.

Auf jeden Fall passt der Text gut zur Jahreszeit, wo es immer früher und immer länger dunkel wird. Eventuell wäre hier auch eine Metapher möglich :D


Liebe Grüße
Vulkangestein

 

Hallo Vulkangestein,
vielen lieben Dank für die Rückmeldung! Es freut mich, dass dir die erste Hälfte so gut gefallen hat. In der zweiten wird der Text tatsächlich etwas zu beschreibend, deine Hinweise werden ihn sicher besser machen. Ich werde es auf jeden Fall einmal versuchen! Vielen Dank für den Tipp :)

Liebe Grüße!
Mina

 

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