Finnigans Journey
Finnigan stieg in sein Mobil. Es war ein X-5, das neuste am Markt für Antigrav-getriebene Automobile. Er betätigte den Türöffner. Sogleich schob sich die Tür mit leisem Summen aus der Umfassung und nach hinten. Er ließ sich in den bequemen Schalensitz fallen, so dass er mehr lag als saß. So hatte er seinen Sitz immer eingestellt. Finnigan wollte nicht nur schnell ankommen, er wollte reisen. Wieder betätigte er den Türöffner. Die Tür schob sich zu und die Bordsysteme fuhren hoch. Auf dem kleinen Bildschirm rechts seines Blickfeldes tauchten zahlreiche Statusmeldungen auf. Eine davon schaute Finnigan sich näher an. Sie lautete „kritischer Kraftstoffstand“. Er tippte kurz auf den Bildschirm, um die Meldung zu quittieren. Eine Stimme ertönte „Guten Morgen Mr. Finnigan“.Finnigan grinste. Er ließ sich gern von Maschinen umgarnen. In ihnen sah er die Sklaven der Menschheit.
Selbstsicher nahm er das Steuerhorn in die Hand und zog, so dass sich sein X-5 mit einem Ruck um einige Meter erhob. Die Beschleunigung war so stark, dass er in den Sitz gepresst wurde. „Viel zu empfindlich, diese Dinger“ dachte er. Sanft stieg er weiter empor, bis zum Ende seines privaten Parkgrube. Dabei handelte es sich eigentlich um ein tiefes Loch in der Oberschale eines Stahlgebäudes. Am Boden dieses Lochs war sein X-5 normalerweise geparkt. Nun konnte er jedoch nicht einfach herausfliegen, denn es herrschte ein reger Verkehr. Er blickte also nach oben und wartete auf eine Lücke. Nach einiger Zeit fluchte er leise, denn der Verkehr war an diesem Morgen noch dichter als sonst. Dann hielt er es nicht mehr aus: Er aktivierte den oberen Blinker und drängelte sich in den Strom, nicht ohne einige Ausweicher anderer Antigrav-Automobile zu provozieren. Sobald er im Strom war, passte er seine Geschwindigkeit an. „Woher kommen nur die ganzen Autos?“ fragte er sich. „Seit Einführung des 3D-Verkehrs haben sich doch die Straßen vervielfacht. Da müsste für alle genug Platz sein." grübelte er. "Aber die Autos haben sich ja schließlich auch vervielfacht. Wer fliegt nicht gerne so einen metallenen Flitzer, der außerdem noch sehr bequem ist?“ Er blinkte und bog nach unten ab.
Die Sitzheizung machte sich mittlerweile bemerkbar. Sie hielt seinen Schalensitz leicht oberhalb der Körpertemperatur, so dass ihm angenehm warm war. Wegen der Wärme fühlte Finnigan sich müde und fing an zu dösen. Jäh schreckte er auf, als er von einem anderen X-5 knapp überholt wurde. "Drängler!!" schimpfte Finnigan. "Warum hatte man auch die Geschwindigkeitsbegrenzung abgeschafft? Jetzt war es den jugendlichen Autofliegern ein leichtes, den Verkehr zu verunsichern. Heute setzt jeder auf Selbstverantwortung, auch wenn die Teilnahme am Straßenverkehr dadurch zum Risiko wird. Verrückte Zeiten sind das..." Finnigan bog links ab. Auf dem Head-Up-Display erschien erneut die Warnung "kritischer Kraftstoffstand". Finnigan fluchte. Nun musste er schon wieder tanken! Er änderte den Kurs leicht und flog auf eine der schwebenden Tankplattformen zu. Dabei musste er höllisch auf den Verkehr aufpassen, weil das Ansteuern der Plattform mehrere dreidimensionale Spurwechsel nach links oben erforderte. Auf der Plattform konnten fünf Antigrav-Automobile landen. Die Landeplätze waren ringförmig um eine krakenartige Tanksäule angeordnet. Finnigan landete behutsam auf einem Platz. Sofort fuhr ein Krakenarm heran und verband sich mit dem Tankstutzen seines Automobils. Finnigan musste nur noch die Zahlungsmethode auswählen. Mürrisch bestätigte er die Abfrage auf dem kleinen Display und die Maschine begann die Befüllung mit Kraftstoff.
Nach dem Tankvorgang fuhr der Tankrüssel zurück. Finnigan hob wieder ab und scherte in den Verkehr ein. Zum Büroturm waren es noch ein paar Meilen. Finnigan aktivierte das OnBoard-Audio System, um ein paar seiner Lieblingsmusikstücke zu hören. Im selben Moment passierte er einen der großen CO2-Tanker, die wie die Tankplattformen innerhalb der schnell fließenden Verkehrsströme schwebten. Diese Tankschiffe filterten den Kohlenstoffdioxid aus der Umgebungsluft und pumpten ihn in große Tanks. Dabei handelte es sich um eine Maßnahme der Regierung, um der globalen Erwärmung durch den Treibhauseffekt entgegenzuwirken. Finnigan schenkte den mächtigen Tankern einen ehrfurchtsvollen Schulterblick. Er bewunderte dieses Umweltengagement. Die herausgefilterten Gase konnten andernorts weiterverwendet werden, etwa zur Erhöhung der Kohlenstoffdioxidkonzentration in Gewächshäusern. Dann kam Finnigan an eine rote Ampel. Wieder fluchte er. An den Ampeln musste man seit der Umstellung auf den 3D-Verkehr bedeutend länger warten, weil während einer Ampelphase auch der Verkehr nach oben und unten weiterfließen musste. Er sah die Autos der anderen Spuren vorüberfliegen. Schließlich schaltete die Ampel auf grün und er konnte weiter.
Finnigan flog gerade eine leichte Biegung als er einen Anruf aus dem Büroturm bekam. Es war Josh, einer seiner Mitarbeiter "Mensch Finnigan, wo bleibst du?" "Hab mich verspätet, weil ich noch tanken musste. Irgendwas neues im Büro?" "Der Chef war hier, er schickt uns heute raus. Wir sollen Block 230 überprüfen" Finnigan verzog das Gesicht. Warum gab man den stählernen Wohnhäusern keine Namen? Seit der Reorganisation der Stadtzentren wurden die Wohnblöcke durchnumeriert. Alle Antigrav-Automobile besaßen integrierte Navigationssysteme, die Namen fehlten also niemandem. Finnigan selbst haßte die Nummern, weil er sich Namen viel besser merken konnte."Alles klar, bis nachher" antwortete er. Dann legte er auf. Er würde Josh bald genug treffen, da brauchte er das Gespräch nicht in die Länge zu ziehen. Finnigan flog eine Kurve nach unten als er am Rand des Stroms ein Schild entdeckte "Fly-In". Er hatte an diesem Morgen noch nicht gefrühstückt und so bog er ab, um sich noch einen Kaffee zu holen. Das "Fly-In"-Schild markierte eine Seitenbucht zum Herausfliegen. Als Finnigan in die Bucht einflog, erschien auf einem Bildschirm die Speisekarte des Ladens. Natürlich war alles auf Englisch. Die Leute legten immer weniger Wert auf eine Trennung der Sprachen und das Englische schien den Durchsetzungskampf zu gewinnen. Er ordnete sich hinter den wartenden Automobilen ein und tippte auf "Coffee – hot".
Zwei bis drei Musikstücke hörte Finnigan, während er in der Reihe wartete, dann wurde ihm sein Kaffee serviert. Er hielt dazu vor einer kleinen roten Ampel. Links von ihm befand sich eine stählerne Wand, in die ein Metallzylinder eingelassen war. Mit einem leisen Surren drehte sich der Zylinder und gab dabei einen Hohlraum frei. Auf einer kleinen Plattform stand dort sein dampfender Kaffee. Er konnte den Kaffee aber noch nicht greifen und so versetzte er seinen X-5 leicht zur Seite. Noch bevor den Kaffee durch die Scheibe hereingeholt hatte, flog er langsam weiter, wobei er die Ampel ignorierte, die gerade erst auf gelb geschaltet hatte. Er nahm einen Schluck und scherte wieder in die Straße ein. Während er seinen Kaffee trank, flog er eine ganze Weile geradeaus weiter. Dann flog er in einen Tunnel. Der Verkehrsstrom floß hier direkt durch einen der stählernen Wohnblocks hindurch. Als es dunkel wurde aktivierte sein X-5 automatisch die Scheinwerfer und die Leuchtstreifen am Rand des Tunnels wiesen ihm den Weg.
Ein paar Kreuzungen später nahm der Verkehr merklich zu. Er war im Kern des Stadtzentrums angelangt und kam nur noch im Schrittempo voran. Die grauen Wohntürme links und rechts der Route waren gläsernen Bürotürmen gewichen. Es gab hier viel mehr CO2-Tankschiffe, die die Luft filterten.
Finnigan bog in Richtung eines der größeren Türme ab. Dort arbeitete er. Er löste sich aus dem Strom und steuerte zur Spitze des Turmes. Er genoß den langsamen Steilflug an den Bürofenstern seiner Kollegen vorbei. Schließlich hatte er die Turmspitze erreicht. Auf der Oberseite gab es zahlreiche Landeplätze. Er schwebte über seinen persönlichen Landeplatz und ließ sich langsam hinabsinken. Kurz vor der Bodenberührung fing er sein Automobil ab. Sanft setzte er auf dem metallenen Boden auf. Er atmete noch einmal durch, trank den Rest seines Kaffees und deaktivierte die Bordsysteme. Dann betätigte er den Türöffner, um auszusteigen. Sein Kollege Josh wartete schon auf der Plattform.