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Finderlohn
Mit der Fußspitze berührt Schwär den Müllsack. Reingeschaut hat er noch nicht. Hat das mit Dreck beschmierte Ding gerade erst aus der Erde gezogen. Er greift in die Hosentasche und holt Tabak und Blättchen hervor. Verteilt den Tabak auf dem Papier, rollt es zusammen und leckt den Klebestreifen ab. Dann steckt er sich die Zigarette zwischen die Lippen. Mit dem Feuerzeug in der Hand sieht er zum Himmel. Für den Nachmittag haben sie Regen angesagt. Vermutlich, schätzt er, wird es nicht mal so lange dauern.
Auf der Straße kommt ein Auto entgegen. Der Fahrer hebt die Hand. Schwär grüßt nicht zurück. Den Traktor parkt er in der Scheune. Das Geräusch des knackenden, warmen Motorblocks vermischt sich mit dem Prasseln einsetzenden Regens auf dem Wellblechdach. Einen Moment bleibt er sitzen und hört zu. Dann nimmt er den Müllsack in die Hand und springt vom Bock. An der Tür zieht er die lehmigen Stiefel aus und läuft auf Strümpfen durch die Waschküche. Drinnen macht er Licht, legt den Sack auf den Tisch und geht zum Herd. Er greift nach einer Dose im Regal. Drei Löffel Kaffeepulver. Die Kanne stellt er auf die Herdplatte und dreht den Regler auf. Vom Tisch räumt er einen Teller mit Wurstresten ab. Den Teller stellt er in die Spüle, die Wurstreste wirft er weg. Regen schlägt gegen die Fensterscheibe. Er blickt nach draußen. Kann kaum etwas erkennen. Als die Kanne zischt, nimmt Schwär sie herunter, gießt Kaffee in einen Becher und setzt sich an den Tisch. Er trinkt einen Schluck. Hilft ja nichts, denkt er und greift nach dem Müllsack. Raschelnd wickelt er das schwarze Plastik auseinander. Erde rieselt auf den Tisch und den Boden. Im Innern ist ein weiterer Müllsack. Und darin hatte jemand einen Rucksack eingewickelt. Ein hässliches, kleines Teil mit knallgrünem Schultergurt. Schwär zögert nur kurz. Zieht den Reißverschluss auf und sieht einen Augenblick lang hinein. Dann zieht er den Reißverschluss wieder zu und legt den Rucksack zurück auf den Tisch. Er überlegt. Denkt darüber nach, das Telefon herzuholen und bei der Polizei im Ort anzurufen. Am Ende lässt er es bleiben.
„Ich also schnell raus. Kann kaum was sehen, hab den Helm ja immer noch auf. Der Schweiß läuft mir runter wie noch was. Ich spring ins Auto, Helm und Rucksack auf'n Beifahrersitz und gib ihm. Nach ner halben Minute bin ich raus aus´m Ort. Immer noch voll am Zittern. Das Adrenalin, weißte? Fahr also die Landstraße lang. Hatte sicher so neunzig Sachen drauf. Plötzlich denk ich: Scheiße, die Bullen kommen ja auch hier lang! Gibt ja nur die eine Straße. Kennste das, wenn dir vor Schreck die Spucke wegbleibt? Ist wirklich so! Nen ganz trocknen Hals hatt ich auf einmal. Also greif ich auf'n Beifahrersitz und schmeiß den Rucksack und den Helm innen Fußraum rein. Damit die das nich sofort sehen, wenn die mir entgegenkommen, dacht ich. Wenigstens das. Nach ein, zwei Kilometern seh ich plötzlich son Feldweg links vonner Straße abgehen. Hab nicht lange überlegt. Bin da natürlich sofort rein. Vielleicht so hundertfünfzig Meter oder was. Dann hab ich angehalten und das Licht ausgemacht. Dacht mir, vielleicht sehen die mich ja gar nicht, wenn die jetzt die Straße langkommen. Und war wirklich so. Hinter mir Blaulicht, aber die Penner rauschen vorbei. Richtung Ort. Dann hab ich angefangen zu überlegen. Die kommen ja auch wieder, dacht ich mir. Und wenn die dann den Rucksack bei dir finden … Kann dir sagen, ich wusst erst überhaupt nicht mehr, was ich machen soll. Bin ausgestiegen. Einmal ums Auto rum. Wieder zurück, eingestiegen. Wollt schon den Motor anmachen und einfach abhauen. Aber dann dacht ich: Den Rucksack, den musste erst loswerden! Und später, in nen paar Wochen oder was, da holste dir dein Zeug wieder. Also wieder raus. Einmal rum, Rucksack geschnappt, zum Kofferraum und alles in nen paar Müllsäcke gepackt. Wegen der Feuchtigkeit, dacht ich mir. Nicht, dass die ganzen Scheine noch das Schimmeln anfangen oder so. Dann bin ich auf die Wiese rauf. Da stand son Baum. Ziemlich verkrüppeltes Ding. Ich also hin, werf mich auf'n Boden und fang an zu graben. So, und jetzt kommt´s. Buddel du mal nen Loch mit den Händen. Ne Scheiße ist das! War zum Glück alles ziemlich feucht, deshalb ging´s. Trotzdem, richtig tief kam ich nicht. Aber ich hatt ja auch nicht so viel Zeit. Also hab ich´s irgendwann gelassen, die Tüte rein ins Loch und die Erde wieder drauf. Dann bin ich zurück zum Auto gerannt und ab.
Tja, und zwei Stunden später lieg ich auf nem Parkplatz auf'm Boden, hab nen Knie im Rücken und son Drecksbulle schreit mir ins Ohr. Die Flachwichser von der Sparkasse hatten sich mein Nummernschild gemerkt. Und den Helm hatt ich ja auch noch im Auto. Na, was willste machen? Fünfzigtausend Mark. Also hab natürlich nich gezählt, aber so was rum wird’s schon gewesen sein. Wo das Geld is?, ham se mich gefragt. Aber ich hab natürlich mein Maul gehalten. Im Grunde sowieso egal. Sitz ja hier drin, was? Bewaffneter Raubüberfall. Sieben Jahre. Fünfeinhalb Minimum, wenn ich mich zusammenreiße. Ist das ne Scheiße oder was?“
Henning schweigt. Wendet den Blick nicht von einer bestimmten Stelle an der Wand.
„Redest nicht so viel, was?“
Henning schüttelt mit dem Kopf.
„Na ja. Macht ja nichts. Wann darfst'n du wieder raus?“
Henning antwortet nicht. Aber er grinst.
Später in der Nacht steht er auf. Langsam, ohne das Licht anzumachen, geht er zu dem kleinen Waschbecken in der Ecke. Nimmt dort das Geschirrtuch vom Haken. Wickelt es zusammen und zieht es straff. Mit dem Tuch stellt er sich hinter das Bett seines Zellengenossen. Einen Augenblick wartet er ab. Sieht mit unbewegtem Blick auf den Schlafenden. Dann schlingt er es um dessen Hals und zieht zu. Der andere zappelt, röchelt, zerrt mit beiden Händen am Handtuch. Henning lässt nicht locker. Er beugt sich hinunter. „Ruhig“, flüstert er. „Ganz ruhig.“ Mit der linken Hand verringert er ein wenig den Druck. „Wo genau, hast du den Rucksack vergraben?“, fragt er.
Am nächsten Tag schlendert Henning alleine über den Parkplatz in Richtung Straße. Niemand da, der ihn abholt. Die Sporttasche mit seinen Sachen trägt er über der Schulter. Während er an den abgestellten Autos vorbeigeht, zieht er die Nase hoch und spuckt auf die Frontscheibe eines Mercedes. Einem dieser Schweine von drinnen wird’s schon gehören, denkt er.
Mit dem Bus fährt er in die Stadt. In einem Schnellrestaurant in der Nähe des Bahnhofs bestellt er etwas zu essen. Die Pommes sind labberig, das Fleisch feuchtkalt. Neben ihm sitzt eine junge Frau und blättert in einer Zeitschrift. Ihr ungefähr zweijähriger Sohn sieht ihm mit großen Augen beim Essen zu. Henning öffnet seinen Mund und zeigt dem Kleinen Teile seines zerkauten Burgers. Der Junge lächelt. Henning grinst und blinzelt ihm zu. Dann tritt er unter dem Tisch gegen das Schienbein des Kindes. Der Junge schreit. Die Mutter legt die Zeitschrift beiseite und beugt sich besorgt zu ihrem brüllenden Sohn hinüber. Henning greift in ihre Handtasche. Mit einem Schluck spült er Fleisch- und Brötchenreste herunter, greift sich das Tablett, steht auf und geht.
Beim dritten Wagen passen die Schlüssel. Ein alter Golf mit vollem Tank. Den Kindersitz stellt Henning neben einem Mülleimer auf dem Parkplatz ab und fährt los.
Das Wasser in der Toilette ist rot. Seit drei Wochen pisst er Blut. Mal mehr, mal weniger. Ein leichtes Ziehen in der Leiste kommt und geht. Noch war er nicht beim Arzt gewesen. Ob er´s noch tun wird, weiß er nicht. Henning spuckt ins Pissoir, betätigt die Spülung und zieht den Reißverschluss seiner Hose zu. Beim Waschbecken betrachtet er sein Gesicht im Spiegel. Das Glas ist zerkratzt, an einer Stelle hat jemand dagegen geschlagen. Bin alt geworden, denkt er. Die Tür geht auf. Man hört das Rauschen des Verkehrs von draußen. Ein dicker Mann im Anzug betritt den Toilettenraum. Henning sieht ihn im Spiegel. Der Mann nickt ihm zu. Henning verzieht keine Miene. Der andere verdrückt sich auf eine der abschließbaren Kabinen. Man hört ihn an seinem Gürtel herumfingern. Henning wäscht sich die Hände, zieht die Nase hoch und verlässt die Autobahntoilette.
Schwär sieht im Rückspiegel ein Auto näherkommen. Mit seiner linken Hand signalisiert er, dass der andere überholen soll. Langsam fährt der Wagen an ihm vorbei. Ein Golf. Den Fahrer kennt er nicht. Für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke. Der andere fährt weiter. Schwär schaut auf das Nummernschild. Auswärtig. Er spuckt aus. Den Traktor parkt er in der Scheune. Zieht die Stiefel aus, geht durch die Waschküche ins Haus. Im Schlafzimmer öffnet er den Schrank. Das Geld lässt er im Rucksack aber die Pistole, die nimmt er heraus. Das Gewicht überrascht ihn. Einen Moment behält er sie in der Hand, dann steckt er sie sich in den Gürtel.
Es gibt keinen Baum. Keinen einzigen. Und die Wiese ist auch weg. Stattdessen hat man Felder angelegt, den Boden umgepflügt und irgendwas angepflanzt. Raps, Mais, was weiß er schon? Henning hält gar nicht erst an, sondern fährt direkt weiter in den Ort. Vor einem Supermarkt stellt er das Auto ab. Die Heizung läuft und die Scheibenwischer quietschen. Drinnen fragt er: „Das Feld da draußen vorm Ort. Wem gehört´n das?“
Er biegt in die Einfahrt. Die Tür des Hauses geht auf. Man hat ihn wohl erwartet. Er parkt, schaltet den Motor ab und steigt aus. „Du bist der Schwär, richtig?“, fragt er.
„Kennen wir uns?“
Henning schüttelt den Kopf.
„Dann sollten wir uns nicht duzen.“
Henning grinst. „Sicher. Es ist so, ich habe ein kleines Problem. Ich hab was verloren. Drüben, auf dem Feld. Schon ne Weile her.“
Schwär spuckt aus. „Ist das so?“
Henning nickt. „Ist so.“ Er macht einen Schritt.
„Das reicht jetzt.“ Schwär zieht die Pistole aus seinem Gürtel.
Henning bleibt stehen. „Kannst du damit überhaupt umgehen?“
Schwär hebt die Pistole. „Verzieh dich.“
Henning macht einen weiteren Schritt. „Was sagste den Bullen, warum du einen Unbewaffneten vor deinem Haus erschossen hast, hm?“ Er macht noch einen Schritt.
„Gar nichts sag ich. Ich zerleg dich und verteil dich bei mir aufm Feld. Das Auto versenke ich im See. Den Schuss hört hier draußen niemand.“
Henning lacht und schüttelt mit dem Kopf. „Du bist ein Schwätzer.“
Sie stehen sich gegenüber. Schwär drückt die Waffe gegen Hennings Stirn. Henning grinst. „Gut, dann zieh's durch.“
„Verschwinde einfach.“
Nach ein paar Augenblicken umfasst Henning den Lauf der Pistole. Langsam nimmt er sie Schwär aus der Hand und steckt sie ein. Einen Augenblick sehen sie sich an. Dann schlägt er mit voller Wucht in Schwärs Gesicht und steigt über ihn ins Haus. Es dauert nicht lang, da hat er den Rucksack gefunden. Er sieht hinein. Zählt fünftausend Mark ab. Im Hinausgehen wirft er Schwär die Scheine auf den Bauch. „Hier. Als Finderlohn. Aber lauf mir besser nicht mehr über den Weg.“ Schwär, der heftig aus der Nase blutet, sieht ihn verständnislos an. Mit blutbeschmierten Fingern greift er nach den Scheinen.
Das Polizeiauto hinter ihm beschleunigt und überholt. Man macht ihm ein Zeichen, dass er anhalten soll. Henning blickt auf die Tankanzeige. Kurz vor Reserve. Er schaltet den Blinker an und fährt nach rechts auf den Seitenstreifen. Macht den Motor aus. Beide Polizisten steigen aus. Also haben sie sein Nummernschild bereits durchgegeben. Henning dreht das Autoradio leise. Seine Blase drückt, die Leiste schmerzt. Er öffnet die Tür und steigt aus.
„Abend. Gibt's ein Problem?“
Die Polizisten greifen sofort nach ihren Waffen. „Bleiben Sie im Auto sitzen!“
Henning macht eine beschwichtigende Geste. Lässt sich wieder auf den Sitz zurückfallen. Die Autotür lässt er offenstehen. Seine rechte Hand wandert an die Stelle, an der er die Pistole unter seiner Jacke trägt.