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Finden Sie das Master-Ei!
Anika sah mich nicht an, als ich ins Zimmer kam.
„Hallo mein Schatz, wie wär's? Wollen wir ins Kino gehen?“
Sie guckte weiter verbissen auf ihre Hände, in denen sich eins dieser unsäglichen Dinger befand. Hatte sie meine Frage überhaupt gehört?
„He, Anika, es läuft ‚Ice Age‘ ...“
„Nö, keine Lust.“
Sie hatte sich wie so viele andere auch in einen Zombie verwandelt, einen süßen fünfjährigen zwar, aber doch einen Zombie, einen Sklaven dieser verfluchten Tamagotchis. Eines T-Connexion-Tamagotchis der vierten Generation, um genau zu sein. Ihr geistesabwesender Blick, ihr glückliches Lächeln, während sie irgendwelche Tasten drückte, machten mich ganz krank, und ich war versucht, ihr das blöde Ei aus der Hand zu reißen und gegen die Wand zu pfeffern. Es war nicht zu fassen. Dabei hing die Kleine normalerweise wie eine Klette an mir und konnte meine allwöchentlichen Besuche nicht abwarten.
Meine Ex brachte mich zur Tür.
„Ja, wenn sie keine Lust hat ...“ Sie zuckte die Schultern und schenkte mir ihr Schlangenlächeln. Zum Abschied gab sie mir nicht die Hand. Das wäre auch nicht gegangen. Darin befand sich ein kleines Plastic-Ei.
Da die Polizei so freundlich gewesen war, meinen Führerschein eine Zeitlang für mich aufzubewahren, musste ich die U-Bahn nehmen.
Die Leute lasen keine Zeitungen oder Bücher, sie unterhielten sich nicht und blickten auch nicht zum Fenster hinaus. Sie blickten starr nach unten, wirkten wie hypnotisiert und wandten kein Auge von ihren Tamagotchis. Es schien, als sei seit einigen Tagen die ganze Welt verrückt geworden. Seit jenem 27. Mai 2006, als die BANDAI Corp. ihren großen Coup gelandet und die Menschheit mit ihrer neuesten Kreation beglückt hatte. Tamagotchis, deren Innenleben mehr denn je künstlichen Lebewesen glich und die per eigebauter Handyfunktion und Tastatur sogar untereinander und mit dem Besitzer des Eies kommunizieren konnten. Wenn man den markigen Werbesprüchen BANDAIS Glauben schenken durfte, entwickelten die Biester mit der Zeit sogar eine gewisse Intelligenz. Auf mich wirkten sie wie Viren, die sich mit rasender Geschwindigkeit überall verbreiteten und unterschiedslos jeden befielen, ob Kinder oder Greise, Penner oder Anzugträger.
Der merkwürdige Typ von heute morgen fiel mir wieder ein. Ich hatte mein Büro um zehn geöffnet und wollte den Geschäftstag gerade mit einem Schluck Bourbon einleiten, als er ohne zu klopfen hereinschneite.
Als erstes war mir an ihm aufgefallen, dass er kein Tamagotchi bei sich trug. Als er mir dann sagte, was er von mir wollte, erwartete ich unwillkürlich jeden Moment die Männer mit den weißen Kitteln, die ihn verfolgen mussten, hereinstürmen zu sehen. Die Tamagotchi-Eier würden aus dem All stammen, BANDAI wäre bloße Tarnung und überhaupt wäre alles Teil eines raffinierten Plans zur Erlangung der Weltherrschaft.
„Sie sind doch Privatdetektiv. Finden Sie das Master-Ei! Es ist ihre Zentrale und kontrolliert alles!“, hatte er mich händeringend angefleht und mir noch einen Zettel in die Hand gedrückt, bevor ich es schaffte, ihn mit unsanfter Gewalt zur Tür hinauszukomplimentieren ...
Ich langte in meine Jackentasche und fischte den Zettel hervor. Eine Telefon-Nummer. Darunter die hingekritzelte Warnung: „Nicht das Handy benutzen!“
Ich blickte auf und sah das maskenhaft starre Gesicht des Krawattenfuzzis mir gegenüber sich über sein Tamagotchi beugen.
Und wenn er recht hat?, durchzuckte es mich. Zu Hause erwarteten mich der Abwasch von zwei Tagen, nur noch ein Bier im Kühlschrank und der Fernsehapparat oder meine alte E-Gitarre. Der Kinobesuch war ja ins Wasser gefallen – also hatte ich noch Zeit.
An der nächsten Station stieg ich aus und suchte mir eine Telefonzelle.
Ein Knacken in der Leitung, Rauschen, dann eine heisere Stimme.
„Ja?“
„Koslowski hier“, meldete ich mich. „Jemand hat mir Ihre Nummer gegeben. Es geht um die Tamagotchis.“
„Der Privatdetektiv. Richtig. Es freut mich, dass Sie sich entschieden haben, uns zu helfen. Gehen Sie zu dem Weisen. Er wird Ihnen sagen, wo Sie nach dem Master-Ei suchen können.“
„Was denn für ein Weiser?“, blaffte ich.
„Das herauszufinden, ist Ihre Aufgabe. Wir haben nur den Namen.“
„Hören Sie“, sagte ich, „ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles überhaupt ...“
„Finden Sie das Master-Ei!“, unterbrach er mich, „es ist von ungeheurer Wi...“
Ein lautes Klack, dann nur noch Rauschen. Das gefiel mir nicht. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich wählte die Auskunft und erkundigte mich nach der zu der Telefon-Nummer gehörenden Adresse.
„Tut mir leid. Zu dieser Nummer haben wir nichts“, sagte eine ratlose Stimme.
Die Sache schien sich wider Erwarten zu einem Fall auszuwachsen. Ich überlegte und entschied, den ominösen Weisen aufzusuchen. Als die Stimme ihn erwähnte, hatte bei mir sofort etwas geklingelt. Damit konnte eigentlich nur der Professor, wie sein anderer Spitzname hieß, gemeint sein. Ich hatte ihn von einem früheren Fall her noch gut in Erinnerung. Ein in gewissen Kreisen bekannter Penner mit einem Universitätsabschluss in Kybernetik und Mathematik. Zuletzt hatte er sich in Kreuzberg herumgetrieben und ich wusste, wo ich da ungefähr suchen musste.
Keine schöne Gegend, aber wer a sagt, muss auch b sagen, lautet eine der berühmten goldenen Koslowski-Regeln. Ich sah auf meine Uhr. Erst neun. Die Nacht ist noch lang, dachte ich und ging auf ein Taxi zu.
Die Gegend erwies sich als genauso übel, wie ich sie in Erinnerung hatte. Eine schmale Seitenstraße, in die nur spärlich das Licht der Straßenbeleuchtung einsickerte. Alte Mietskasernen, von denen der Putz abbröckelte. Überquellende Mülltonnen. In einem dunklen Hauseingang regte sich etwas. Ich beugte mich hinunter.
Außer glitzernden Augen konnte ich nicht viel sehen. Zerlumpte Sachen und immerhin ein grauer Bart, wie es sich für einen Weisen gehörte. War er’s oder nicht?
„Sie sind doch der Weise?“, fragte ich.
„Und wenn ich’s wäre?“
„Wo finde ich das Master-Ei?“
Blitzen von Zähnen, Lachen, dass ebenso gut ein Keuchen sein konnte, dann:
„Warum sollte ich dir das sagen?“
Scheiß auf‘s Geld ist eine weitere goldene Koslowski-Regel, wegen der mich meine Ex verlassen hat. Ich drückte dem Alten einen Schein in die ausgestreckte Hand.
Sofort verschwand die Hand unter dem zerlumpten Mantel. Dann kam sie zusammen mit ihrer Schwester wieder hervor und beide zusammen packten mich an der Jacke und zogen mich zu ihm, ganz dicht an sein Gesicht. Ich konnte seinen Atem riechen, eine Mischung aus Fusel und verfaulten Zähnen.
Er hauchte mir ins Gesicht und ich war versucht zurück zu hauchen, um mich zu rächen.
„Sie können uns steuern“, flüsterte er.
„Ja, ja, und die Weltherrschaft wollen sie auch.“
„Du glaubst mir nicht, was?“
„Na ja, ich meine, es sind schließlich nur Eier. Wie sollen die uns steuern? Das ist doch Schwachfug.“ Informanten provozieren und aus der Reserve locken – noch eine goldene Koslowski-Regel.
„So, du Klugscheißer. Ich zeig dir mal was.“ Er kramte in seiner Manteltasche. Ein Display leuchtete auf. Es war ein Tamagotchi. Langsam hatte ich genug von den Dingern.
„Fällt dir was auf?“, fragte er und sein Gesicht leuchtete gespenstisch im grün-roten Flimmern des Displays.
Ich sah auf den Bildschirm. Dort tummelte sich ein kleines Pixelwesen, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Baby hatte. Es hüpfte auf und ab und machte dazu ruckartige Bewegungen mit seinen Ärmchen.
„Niedlich“, sagte ich.
„Nicht das Wesen, du Superhirn. Es ist der Bildrahmen. Die Farben pulsieren in einem ganz bestimmten Rhythmus und transportieren damit Botschaften in unser Gehirn. Alles wird von ihrem Master-Ei gesteuert.“
„Wie bei Hypnose? Woher wollen Sie das alles wissen? Und wo ist dieses Master-Ei?“
Sein Gesicht verzog sich zu einem sardonischen Grinsen.
„Ich habe meine Quellen.“
Er drückte einige Tasten und über dem Pixelbaby erschien eine Sprechblase mit dem Wort „Aaaaarrrgh“. Das Wesen rollte plötzlich an der unteren Bildschirmbegrenzung entlang und seine Ärmchen zuckten.
„Sie foltern es?“ Ich konnte nicht fassen, was ich sah.
„Jaaahaaa. Sie können Schmerz empfinden. Ich habe die Tastenkombination dafür entdeckt. Pass auf.“ Er tippte eine Weile und ich las:
„Sag dem Onkel, wo euer Master-Ei ist. Ich zähle jetzt bis drei! Eins ...“
Ein Loch erschien auf der Stirn des Weisen, ich hörte einen trockenen Knall – wie ein Sektkorken. Gleichzeitig ließen seine Hände das Tamagotchi los. Meine Reflexe übernahmen. Ich hechtete seitwärts in die Dunkelheit. Noch zwei Schüsse. Die Mülltonne neben mir dröhnte wie alle Glocken Berlins zusammen, dann Motorgeräusche, die sich rasch entfernten.
Ich spürte, wie meine Hände unkontrolliert zitterten. Selbst, wenn ich es rechtzeitig geschafft hätte, die Beretta aus meinem Schulterhalfter zu fummeln, wären die Erfolgsaussichten gleich Null gewesen. Langsam wurde ich zu alt für solche Sachen. Ich rappelte mich auf, ging zu dem Alten hinüber und sah im flimmernden Licht des Displays, dass seine Augen blicklos nach oben starrten. Der Professor war tot, sein Geheimnis hatte er mit hinüber genommen in die große Leere, und alles, weil ich es gründlich vermasselt und seine Henker zu ihm geführt hatte.
Die Puzzelteilchen fügten sich zusammen. Der merkwürdige Besucher, der Anruf – alles nur ein perfider Plan, um an den Einzigen zu kommen, der ihnen gefährlich werden konnte.
Ich nahm das Tamagotchi an mich. Das Pixelbaby winkte mir höhnisch zu.
Das alles ist jetzt drei Tage her. Ich bin untergetaucht und nur schnell aus meinem Loch gekrochen, um diesen Bericht als Warnung ins Netz zu stellen.
Aber ich muss verdammt vorsichtig sein. Hier im Internetcafé scheint mich keiner zu beachten. Seit dem Tod des Weisen hatte ich genug Zeit zum Nachdenken. Wieso wurde er selbst nicht von seinem Tamagotchi beeinflusst?
Es gibt eine Erklärung (die ich natürlich nicht nennen werde) und die lässt mich hoffen, genügend Leute für den Widerstand zusammen zu kriegen. Ungefähr neun Prozent der männlichen und 0,8 Prozent der weiblichen Weltbevölkerung kommen in Frage, und das ist eine ganze Menge.
Bleibt mir nur noch eins zu sagen.
Finger weg von den Tamagotchis!!!!!!
Welche Erklärung hat Detektiv Koslowski für die "Immunität" des Weisen?